Aus DER RABE RALF August/September 2024, Seite 3
Ist die EU schlimmer als die Deutsche Bahn?
Der Autor dieses Textes pendelt regelmäßig vom väterlichen Bauernhof im mittleren Schleswig-Holstein zur Rabe-Ralf-Redaktion ins östliche Berlin. Als überzeugter Öko nimmt er selbstverständlich den Zug. Als Anhänger der Verkehrswende hat er bisher auch immer versucht, den arbeitenden Teil der Deutschen Bahn gegen all ihre Kritiker (also die Mehrheit der Fahrgäste) zu verteidigen. Denn was kann eine Schaffnerin dafür, wenn ein Zug Verspätung hat? Genauso wenig, wie der Bordbistro-Mitarbeiter etwas dafür kann, wenn reisende Fußballfans das ganze Bier wegtrinken. Leider sind es aber genau diese Personengruppen, die den angestauten Frust der auf Bahncard und Zuspätkommen abonnierten Fahrgäste regelmäßig abkriegen.
Sollte man, statt immer nur zu meckern, nicht eher darüber staunen, dass die logistische Organisation von 39.200 Kilometern Strecke kreuz und quer durch Deutschland überhaupt irgendwie möglich ist? Und haben uns Staat und Verkehrsunternehmen nicht immerhin das „Deutschland-Ticket“ geschenkt?
Die verfluchte Strecke
Vom mittelholsteinischen Nortorf (Rabe Ralf Februar 2024, S. 16) nach Berlin zu kommen ist einfach: So gut wie jede Stunde fährt eine Regionalbahn zum Hamburger Hauptbahnhof. Von dort gibt es regelmäßige ICE-Verbindungen, die bequem und schnell zur Hauptstadt führen. Alles kein Problem.
Zumindest wäre es kein Problem, wenn die Strecke Nortorf–Hamburg nicht verflucht wäre.
Auf den 69 Kilometer langen Gleisen, die Klein- und Großstadt verbinden, kommt es immer zu Verspätungen, Zugausfällen und allgemeinem Chaos. Und das ganz unabhängig von Tageszeit, Jahreszeit, Schulferien oder Wetter.
Der routinierte Pendler hat natürlich stets genügend Puffer eingeplant, um den Anschlusszug in Hamburg sicher zu erreichen. Dank des Deutschlandtickets ist das kein Problem, denn das Ticket ist schließlich in jedem Regionalzug gültig.
Doch manchmal plant man eine großzügige Verspätung ein, hat aber nicht die Fantasie sich vorzustellen, dass die reale Verspätung das Doppelte der vorgestellten beträgt. Oder mehr. Die Folge: Der teuer bezahlte Anschlusszug in Hamburg ist weg.
Während sich die freundliche Schaffnerin noch per Lautsprecher für die Umstände entschuldigt, denkt der Fahrgast: „Kein Problem, es ist weder ihre noch meine Schuld. Ich nehme in Hamburg einfach den nächsten ICE. Warum soll ich mich aufregen?“
Lasst alle Hoffnung fahren!
Doch dann ist man am Hamburger Hauptbahnhof, wo man nicht die Züge, sondern alle Hoffnung fahren lässt. Es gibt eine Illustration zu Dantes Inferno, die dem Architekten des Bahnhofs als Vorlage gedient haben muss. Sie zeigt eine trichterförmige Hölle.
Der Hamburger Hauptbahnhof ist so gebaut, dass die aufgrund der immer im letzten Moment durchgesagten Gleiswechsel aufgescheuchten Menschenmassen sich systematisch in die Quere laufen, übereinander stolpern, sich gegenseitig beschimpfen und Mütter, Kinder, Alte und Langsame erbarmungslos zur Seite drängen. Rolltreppauf, -treppab wird man hier schmerzhaft mit der Gültigkeit der sozialdarwinistischen Thesen konfrontiert. Der Hamburger Hauptbahnhof gehört, das geben selbst die stolzen Hanseaten zu, zu den schlimmsten Bahnhöfen in Deutschland.
„Was solls“, denkt unser Reisender, „ich halte mich ja sowieso nur kurz hier auf.“ Hoffnungsvoll geht er zum erstbesten Informationsschalter, um der Servicekraft seinen Fall zu schildern und nach der Abfahrt des nächsten Zuges zu fragen.
Hier empfängt ihn ein Gesicht, das von den Abwehrspuren des täglichen Kampfes mit frustrierten Bahnkunden gezeichnet ist. Schon etwas eingeschüchtert trägt der Reisende sein Anliegen vor. „Haben Sie ein durchgehendes Ticket?“, blafft es ihm entgegen. Nein, das habe er nicht, stammelt der Fahrgast, schließlich wurde für den ersten Teil der Reise das Deutschland-Ticket verwendet. „Dann müssen sie sich ein neues Ticket kaufen!“ Der verdutzte Kunde will noch etwas sagen, bekommt aber nur noch ein schnarrendes „Der Nächste!“ zu hören.
Die Bahn hat recht
Ein kurzer Blick auf die Internetseite des Unternehmens verrät, dass die ruppige Servicekraft tatsächlich recht hat: „Bei einer Kombination beider Tickets werden die Fahrten im Nahverkehr mit Nutzung des Deutschland-Tickets und die Fahrt im Fernverkehr mit Nutzung des Fernverkehrstickets jeweils als eigener Beförderungsvertrag betrachtet. Es entfällt der Anspruch durchgängiger Fahrgastrechte zwischen Nah- und Fernverkehr. Beispielsweise wird bei einer Verspätung eines Nahverkehrszuges und damit verbundenem Anschlussverlust des Fernverkehrszuges die Zugbindung nicht aufgehoben und eine Fahrt mit einem späteren Zug mit einer Fahrkarte mit Zugbindung (z.B. Sparpreise) ist nicht möglich.“
Über diese „Pech-gehabt-Regel“ wurde im letzten Jahr vereinzelt in der Presse berichtet. Einige Medien machten darauf aufmerksam, dass die Regelung auf eine EU-Verordnung zurückgeht.
Sündenbock EU?
Ein Bahnsprecher erklärt auf Nachfrage des Raben Ralf lapidar: „Die Einstufung von Tickets als erheblich ermäßigtes Angebot obliegt dem Gesetz- bzw. Verordnungsgeber. Die Deutsche Bahn setzt die jeweils geltenden gesetzlichen Regelungen um.“
Kann man der DB einen Vorwurf daraus machen, dass sie geltendes Recht einhält?
Sieht man sich die betreffende Verordnung aus dem Jahr 2021 an, bekommt man zunächst den Eindruck, dass die EU hier ganz im Sinne der Fahrgäste Recht setzt: „Insbesondere da der Fahrgast im Eisenbahnverkehr die schwächere Partei eines Beförderungsvertrags ist, sollten die Rechte der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr geschützt werden.“
Klingt gut, wenn nur das Kleingedruckte nicht wäre. Im letzten Satz von Artikel 18, Absatz 3 werden die gerade zugesicherten Erstattungsrechte wieder beschnitten: „Dieser Absatz berührt nicht die nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Fahrgästen günstigere Bedingungen für die Weiterreise mit geänderter Streckenführung gewähren.“
Bahn für alle
Detlef Neuß, Bundesvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn, bestätigt: „Die Probleme sind in der Tat so, wie von der DB AG geschildert. Das Deutschlandticket gilt als erheblich ermäßigtes Ticket, was die Fahrgastrechte einschränkt.“ Für Neuß ist allerdings klar, dass diese Regel der Bahn durchaus entgegenkommt: „Weitergehende Fahrgastrechte wären reine Kulanz oder müssten gesetzlich anders geregelt werden.“
Carl Waßmuth vom Bündnis „Bahn für Alle“, das 19 Organisationen von IG Metall bis Grüne Liga vereint, erinnert an die Verspätungsquote der Bahn, die zuletzt bei 65 Prozent lag: „Der DB entstehen jährlich erhebliche Beiträge für Erstattungen. 2023 waren es bereits 132,8 Millionen Euro.“
Die Haltung der beiden bahnkritischen Verbände ist eindeutig. „Pro Bahn kritisiert diese Regelung“, sagt Neuß, „Wir setzen uns für durchgehende Fahrkarten und Fahrgastrechte unter Berücksichtigung von vorhandenen Abos als Zubringer zum Fernverkehr ein. Das schließt das Deutschland-Ticket ein.“ Rechtlich sei das kein Problem. „Es steht natürlich den Nationalstaaten frei, über die EU-Fahrgastrechteverordnung hinausgehende Fahrgastrechte zu beschließen.“
Waßmuth sieht es ähnlich: „Die Bahn hätte durchaus die Möglichkeit, die Verbindungen durchgängig anzubieten. Dazu könnte man es so einrichten, dass man von A nach B bucht und als Rabattkarte eben das 49-Euro-Ticket angibt. Von diesem Moment an wäre bei Verspätung und einem verpassten Zug wieder eine Erstattung möglich.“
Für Neuß ist klar, dass es bis zu europaweit gleichen Fahrgastrechten und Durchgangstickets noch ein weiter Weg ist. „Hier ist eine Einigung nicht in Sicht.“
Waßmuth sieht das Hauptproblem darin, dass die Deutsche Bahn AG gewinnorientiert arbeitet und daher zu Sparmaßnahmen gezwungen wird. „Eine Änderung der Regel kann nur politisch durchgesetzt werden, über den Verkehrsminister als Vertreter des Eigentümers.“ Die „Pech-gehabt-Regel“ ist für ihn „ein Grund mehr, dass die DB endlich gemeinnützig wird“ (Rabe Ralf August 2023, Beilage).
Vielleicht würde das auch gegen verfluchte Bahnstrecken und höllische Umsteigequalen helfen.
Johann Thun
Weitere Informationen:
www.pro-bahn.de
www.bahn-fuer-alle.de