Der Energie-Scheinriese

Aus DER RABE RALF Februar/März 2018, Seite 18-19

Russland als fossile Energiemacht mit Ökostrom-Potenzial: Zwei Fragezeichen

Die Sowjetunion war eine Art Vorreiter der erneuerbaren Energien. 1931 ging die erste Windkraftanlage ans Netz, nach 1945 waren kleine, dezentrale Wasser- und Windkraftwerke vor allem an der Peripherie in Gebrauch, an Raumschiffen kamen später Solarzellen zum Einsatz. Die Technik war vorhanden.

Der Mentalität des Realsozialismus entsprachen jedoch gigantische Großprojekte. Die Wasserkraft sticht hier heraus. Der Historiker Klaus Gestwa erinnert in seinem Artikel „Auf Wasser und Blut gebaut“ in der Zeitschrift „Osteuropa“ daran, dass es der Staudammbau war, der ständig neue Zwangsarbeiter forderte und das Gulag-System zum „Wirtschaftsimperium“ machte. Ob Belomor- oder Moskau-Wolga-Kanal – bis zum Ende des „hydrotechnischen Archipel Gulag“ im Jahr 1958 arbeiteten sich viele für teils sinnlose Projekte zu Tode.

Wasserkraftwerk Krasnojarsk im Jenissej. Foto: Denis Belewitsch

Ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt

Am Beispiel des Wasserkraftwerks Bogutschany in Sibirien zeigt sich, dass zwar der Archipel Gulag nicht mehr existiert, dass aber, fast wie zu Zeiten Stalinscher Industrialisierung, auf Mensch und Umwelt keine Rücksicht genommen wird. Der Film „Proschtschaj, Angara!“ (Leb wohl, Angara) von Andrej Grischakow veranschaulicht dies am Dorf Panowo, rund tausend Kilometer nordwestlich des Baikalsees.

Durch den neuen Staudamm – der vierte am Fluss Angara – stieg der Flusspegel um zehn Meter. Da die Planung 1974 begann, wartete eine ganze Generation in Panowo auf den Moment, die Koffer zu packen. 2014 wurden die alten Holzkaten schließlich von Bulldozern abgerissen und dann verbrannt. Die Dimensionen sind enorm: Im Interview mit der Anti-Staudamm-Plattform Plotina.Net verrät Regisseur Grischakow, dass an der Angara 350 Kilometer intakte Flussufer mit Dörfern und Feldern geflutet worden sind. Dort gebe es nur „Tränen, Tränen“.

Denn die Umsiedlung ist eine soziale Katastrophe. In den Siedlungen an der Angara lebten die Leute in Subsistenzwirtschaft vom eigenen Gemüsegarten. In Großstädten wie Ust-Ilimsk, Bratsk oder Sajansk, wo sie Wohnungen bekamen, ist ihnen dergleichen verwehrt. Für den Arbeitsmarkt der Städte sind die Zugezogenen oft ungeeignet.

Panowo ist kein Einzelfall, sondern seit der Sowjetzeit die Regel. Man kann also bei den großen Wasserkraftwerken nicht von erneuerbaren Energien sprechen. Dafür wären Umweltschutz und soziale Kompetenz nötig. Nicht nur in Russland wird deshalb die große Wasserkraft, die dort immerhin 16 Prozent des Stroms erzeugt, nicht zu den erneuerbaren Energien gezählt. Bei den wirklich erneuerbaren Quellen wie Sonne und Wind steht heute einem riesigen Potenzial eine winzige Nutzung gegenüber.

Roland Götz, Experte für den russischen Energiesektor, stellt die Erneuerbaren-Potenziale so dar: Seit der Spätphase der Sowjetunion habe die „staatlich verordnete Priorität der Erdgasversorgung“ der Energiepolitik den Weg gewiesen. Dabei gebe es ein großes Potenzial bei allen erneuerbaren Energieträgern. Windenergie biete sich an den Küsten und in der Steppe an der Grenze zu Kasachstan an, Sonnenenergie im Süden und in Sibirien. Ein großer Ressourcenreichtum biete sich zudem für den Einsatz in Biomassekraftwerken an. Außer Brennholz in traditionellen Holzöfen auf ineffiziente Weise zu verheizen, bleibe Biomasse aber ungenutzt. Effizientere dezentrale Pellet-Heizungen könnten ein Anfang sein. Geothermie komme bisher auf Kamtschatka und den Kurilen zum Einsatz.

Zaghafte Ansätze mit Solar- und Windkraft

Nachdem zuvor fast ausschließlich Überzeugungstäter am Werk waren, begann in den letzten Jahren der Bau größerer Solar- und Windparks. Bei Astrachan an der Wolga werden sechs Solarkraftwerke à 15 Megawatt errichtet, in Kosch-Agatsch im Altai erzeugt eine Fünf-Megawatt-Anlage Strom. Im Windsektor wird mehr geplant als gebaut. Mitte 2017 waren in ganz Russland 36 Windräder mit insgesamt 16 Megawatt am Netz. Zum Vergleich: In Brandenburg sind es 3630 Anlagen mit 6300 Megawatt. Im Entstehen sind Windparks in Murmansk (200 Megawatt), Uljanowsk (35), Kalmykien (51) und Wladiwostok (50 Megawatt). Ferner steigt die russische Atomenergiebehörde Rosatom mit ihrer Tochterfirma Vetro OGK in die Windkraft ein und plant Projekte mit 610 Megawatt. Da es an Know-how mangelt, sind es ausländische Firmen, die die Prestigeprojekte hochziehen, wie der pfälzische Turbinenhersteller FWT in Kalmykien. Als Relation: 2016 kamen allein im Bundesland Niedersachsen 900 Megawatt hinzu.

Somit nimmt es nicht wunder, dass sich Russlands Strommix laut der Internationalen Energie-Agentur IEA seit Jahren unverändert präsentiert. Für 2014 ergibt sich aus den absoluten Zahlen des Stromverbrauchs der IEA folgende Verteilung: Gas 50 Prozent, Atomkraft 17, Wasserkraft 17, Kohle 15, Öl 1, Geothermie 0,4, Müll 0,3, Sonne 0,015, Wind 0,01, Biomasse 0,0003 Prozent. Insgesamt liegt der Anteil der Erneuerbaren Energien bei etwa einem halben Prozent. Bei der Heizwärme geht ihr Anteil gegen null.

Um das Erneuerbaren-Niveau zu heben, schuf Präsident Dmitri Medwedjew als erster politische Rahmenbedingungen. Seinen Vorgängern Jelzin und Putin waren die Ökoenergien suspekt gewesen. Seit 2009 wurde die Verordnung zur „staatlichen Politik im Bereich der Erhöhung der energetischen Effektivität auf der Grundlage erneuerbarer Energiequellen in der Periode bis 2024“, wie sie in sperrigem Beamtenrussisch heißt, mehrfach novelliert. Energieexperte Götz nennt das Gesetz einen „Wunschkatalog“. Neben wohlklingenden Phrasen ist die Quintessenz daraus, dass der Erneuerbaren-Anteil bis 2024 – anfangs noch 2020 – auf 4,5 Prozent ansteigen soll.

Gebiete, Kommunen und Großbetriebe sind angehalten, Erneuerbare-Energie-Anlagen zu installieren. Die bürokratischen Hürden sind zahlreich. Wettbewerbe müssen ausgeschrieben, gestaffelte Lokalisierungsquoten von bis zu 70 Prozent einheimischen Komponenten erreicht, Deckel für Instandhaltungskosten beachtet werden. Einspeisevergütungen wie in Deutschland oder staatliche Subventionen sind nicht vorgesehen. Diese Rolle übernehmen Ausschreibungen.

Drehkreuz der Ökostrom-Förderung ist das fest in der Hand der fossilen Lobby befindliche Energieministerium in Moskau. Auch die Stromnetze, Zulassungsstellen und Herstellerkonzerne sind in Staatshand. Sie alle profitieren von den bestehenden Verhältnissen. Nichtregierungsorganisationen haben gegen diesen Block keine Chance und laufen Gefahr, aufgrund ihrer Aktivitäten als „Ausländischer Agent“ eingestuft zu werden, wie die Umweltschutzorganisation Bellona Murmansk. Es wimmelt nur so von Vetospielern, die Ziele sind unrealistisch.

Einsames Windrad in Murmansk. Foto: Kallerna

Erneuerbar passt nicht ins System

Des Weiteren hat der Energiesektor schlicht kein Interesse daran, solche Ziele Wirklichkeit werden zu lassen. Da kann der finnische Thinktank Neo Carbon Energy noch viele 100-Prozent-Szenarien für 2030 ausarbeiten – die Struktur des Energiesektors in Russland steht dem diametral entgegen. Und nicht bloß des Energiesektors: Die Ziele kollidieren mit dem sogenannten „System Putin“, das von westlichen Russlandforschern wie Karen Dawisha mit dem Wort „Kleptokratie“ beschrieben wird. Mit geringem (Investitions-)Aufwand sollen möglichst große Renten abgeschöpft werden. Auf diese Weise hat Wladimir Putin ein loyales, von ihm persönlich abhängiges Umfeld geschaffen und stellt es ruhig. Im Gegenzug müssen die „Putingarchen“ den Präsidenten bei Wahlkampagnen oder beim Bau von Sportstätten für sich häufende Großereignisse unterstützen.

Erneuerbare Energien haben in diesem System keinen Platz. Mit ihnen verbinden sich übergreifende Werte, Zukunftsvisionen und Nachhaltigkeit. Mittelfristig – länger wird nicht gedacht – haben die Lobbyisten daher zu gute Argumente. Eine Investition in die Zukunft und die Gesundheit der Bevölkerung wäre eine Sensation.

Und doch gibt es eine Nische, mit der sich das Imperium seit Jahrhunderten schwertut: die Peripherie. Wie Putin bei der Einweihung der erwähnten Anlage in Kosch-Agatsch freimütig preisgab, sieht er in entlegenen Regionen durchaus eine Zukunft für die Erneuerbaren. Atomkraft und fossile Energie sei ansonsten unangefochten. So wird das System als Ganzes nicht gefährdet, mehr noch, es wird gestützt. Denn mit Peripherie sind schwer zugängliche Gebiete gemeint, die nicht an das zentrale Pipelinenetz angeschlossen sind und wo Strom aus Dieselgeneratoren gewonnen wird.

Dabei macht die Ausrichtung auf den fossilen und nuklearen Sektor auch volkswirtschaftlich immer weniger Sinn. Geld macht Russland seit Willy Brandts Gas-Röhren-Vertrag, also seit fast 50 Jahren, mit den Gasexporten. Der US-Historiker Walter Laqueur weist darauf hin, dass das halbe Bruttoinlandsprodukt davon abhängt – und somit „die Zustimmung der Öffentlichkeit zur Regierung, die Stabilität im Land, das Wohlergehen der Bevölkerung“. Im Inland seien nur vier Prozent der Lieferungen profitabel, schreibt der Energieexperte Andreas Heinrich von der Uni Bremen in den „Russlandanalysen“ der Forschungsstelle Osteuropa.

Doch wie sich immer wieder zeigt, beugt sich der russische Monopolist Gazprom entgegen landläufiger Meinung wie jeder Gaslieferant der allgemeinen Marktsituation. Gazprom sei keine außenpolitische Waffe des Kremls, schlussfolgert Roland Götz. Und der Russland-Korrespondent Klaus-Helge Donath von der „taz“ stößt ins gleiche Horn: Die „Vision und der Entwurf der Energie-Supermacht“, sind nach seinen Erfahrungen „nicht viel mehr als eine Idee“. Rational wäre die Nutzung der enormen Potenziale erneuerbarer Energien.

Felix Eick

Zum Weiterlesen: Roland Götz, „Mauerblümchen“, Zeitschrift Osteuropa 7/2013, www.zeitschrift-osteuropa.de


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