Schieben und lieben

Aus DER RABE RALF Oktober/November 2021, Seite 6

Ab und zu sein Fahrrad zu schieben ist ein Privileg, keine Strafe. Man tut sich und anderen einen Gefallen

In Amsterdam wird offenbar häufiger abgestiegen als in Berlin. (Foto: Roland Stimpel)

Menschen auf dem Fahrrad hassen oft das Schieben: Es wirkt im Vergleich mit dem Dahinrollen langsam und mühsam, und manche finden es erniedrigend gegenüber Autofahrern, denn die müssen auf keiner Straße schieben.

Man kann es aber auch umgekehrt sehen: Sein Fahrrad nicht nur fahren, sondern es an kritischen Orten auch schieben zu können, ist ein Privileg. Es erlaubt, das Rad auch dahin mitzunehmen, wo man nicht fahren darf und sollte: auf Gehwege und in Fußgängerstraßen, in Bahnhöfe und auf wuselige Plätze. Hier überall hat es ein Rad schiebender Mensch viel besser als einer im Auto: Der muss sein Fahrzeug stehen lassen oder einen Umweg um die nicht befahrbare Stelle machen. Mit geschobenem Rad nimmt man den kürzesten Fußweg. Und sobald das Fahren wieder möglich ist, setzt man sich einfach aufs mitgenommene Fahrzeug.

So kommt man sicher durch Engstellen und Baustellen, Fußgängerzonen und Parks ohne „Radfahren erlaubt“-Schild. Den Vorteil gegenüber Autos spielt man besonders am Ende von Sackgassen aus: Mit dem Rad sind es oft nur zehn Gehmeter zur nächsten Fahrbahn, mit dem Auto muss man dagegen meist einen weiten Umweg fahren.

Umfrage: Was ist schlecht am Schieben?

Aber auch dort, wo sie mit Schieben legal und gut weiterkämen, bleiben viele auf dem Rad sitzen – selbst für kürzeste Strecken, selbst im dichten Gewühl. Das wiederum ärgert Menschen zu Fuß: Radfahrer sind schneller und äußerlich härter. Manche überholen sehr eng oder fahren gar in „Weg da!“-Haltung auf Menschen zu Fuß zu. Und alle missachten, dass sie im Schutzraum  der Langsamen sind, wo außer Gehbehinderten in Rollstühlen niemand fahren darf.

Die Fußgängerlobby FUSS e.V. hat dazu eine Online-Umfrage unter Radlern gemacht: „Was ist schlecht am Schieben?“ Acht Gründe standen zur Wahl, unter denen der zutreffendste angeklickt werden sollte. Immerhin 488 Radfahrer haben geantwortet, mit folgendem Ergebnis:

29 %: Es unterbricht den Flow.
23 %: Autos schiebt auch keiner.
14 %: Wer schiebt, ist breiter.
10 %: Es kostet Zeit.
  8 %: Ich fahre sicher genug.
  8 %: Es macht Mühe.
  6 %: Rollen macht mehr Spaß.
  2 %: Es ist irgendwie peinlich.

„Es unterbricht den Flow“ als häufigster Grund: Das ist ein verständlicher Wunsch, wenn man selbst absteigen soll, aber Autofahrer an der Stelle ihren „Flow“ behalten dürfen. Wo aber weder Auto- noch Radfahren erlaubt ist, da ist es ein reines Ego-Argument: „Ich will im Fahr-Fluss bleiben, darum rolle ich einfach weiter.“ Wer so handelt, redet oft auch die Gefahr für Gehende klein. „Ich passe schon auf.“ „Ich beherrsche mein Fahrzeug.“ „Mit mir ist noch nie was passiert.“ Das sind genau die typischen Autofahrer-Ausreden für Regelbrüche – bis zum ersten schlimmen Unfall.

Wer auf dem Fahrrad so redet, hat zudem ein erstaunlich gespaltenes Bewusstsein: Jeder auf zwei Rädern weiß, wie unangenehm und gefährlich es sein kann, auf der Fahrbahn von dreimal Schnelleren eng überholt zu werden. Aber wo man selbst zu den Schnelleren gehört, da findet man das Gleiche ganz harmlos.

Wobei man letztlich weiß, dass es eine dünne Ausrede für Trägheit und Sitzfleisch ist. Beides hat scheinbar mit Radfahren wenig zu tun, aber tatsächlich eine ganze Menge. Es geht um die physikalische Trägheit der bewegten Masse: Wer einmal ins Rollen gekommen ist, der will am liebsten diese Bewegung einfach fortsetzen. Bremsen und absteigen scheint mehr Mühe zu bereiten als rollen lassen.

Und Radfahren ist genau wie Autofahren eine sitzende Tätigkeit. Wer schieben will, muss ab- und später wieder aufsteigen. Muss vom Sattel aufstehen, das Bein schwingen, abspringen, gehen. Da erscheint es viel bequemer, weiter auf dem Sattel zu hocken und in die Pedale zu treten. Man ist zudem schneller und braucht weniger Energie.

Fünf Vorteile des Schiebens

Aber appellieren wir an Verstand, Vernunft und soziales Bewusstsein. Schieben hat nämlich gute Qualitäten, die die kleine Mühe aufwiegen und sogar überkompensieren. Hier sind fünf dieser Qualitäten:

1. Der soziale Vorteil: Wer schiebt, lässt andere in ihrem Schutzraum in Frieden und wird selbst nicht als aggressiv, regelbrechend und zugleich träge erlebt.

2. Ganz legal kann man das Fahrrad an Orte mitnehmen, an die sonst kein Rad gelangt. Stressfrei geht es durch enge Baustellen, durch Bahnhöfe, an fahrbahnfüllenden Staus vorbei. Manchmal ist man sogar schneller und flexibler als fahrend.

3. Es ist gut fürs Wohlbefinden. Absteigen lockert und entspannt. Der kleine Wechsel tut vor allem auf längeren Fahrten gut. Körperlich wird die einseitige, monotone Beanspruchung unterbrochen. Das Ab- und Aufsteigen ist ein bisschen Gymnastik, das Gehen für den Körper ein Kontrast. Dabei werden einige andere Muskeln beansprucht als auf dem Rad, unter anderem in Bauch, Rücken und Nacken und natürlich in den Füßen. Auch für die Psyche ist langsames Bewegen fast immer entspannender als schnelles.

4. Man nimmt mehr wahr. Den Unterschied kennen auch alle, die mal Auto und mal Rad fahren. Zwischen Radfahren und Gehen ist der Unterschied ähnlich groß. Ist man langsamer, huschen Eindrücke nicht so schnell vorbei. Und die Sinne sind offener, weil man sich nicht so aufs Fahren konzentrieren muss.

5. Beim Abbiegen an der Ampel ist Schieben oft schneller als Fahren. Das zeigt die Kreuzungs-Skizze. Wer nach rechts will und Rot hat, schwingt sich an der Ampel kurz vom Rad, schiebt fünf Meter über den Gehweg – natürlich mit Rücksicht auf Leute, die da laufen – und steigt wieder auf. Wer nach links will, hat ein etwas komplizierteres Manöver: Ebenfalls bei Rot an der Ampel absteigen, über den Fußgänger-Überweg nach links über den Bordstein laufen. Auf dem Gehweg gleich wieder nach rechts und bei Grün schiebend die Quer-Fahrbahn überqueren. Dort dann aufschwingen und nach links weiterradeln.

So kann man mit dem Rad bei Ampel-Rot schiebend abbiegen. (Zeichnung: Isabelle Wollandt)

Auch sonst täuscht oft der Eindruck, Schieben ziehe den Weg unendlich in die Länge. Die meisten Schiebestrecken sind nur kurz und die Zeitverluste gering. Für das Passieren einer 50-Meter-Engstelle bracht man zu Fuß nur eine halbe Minute mehr als per Rad.

Zum Schluss ein Hinweis für alle, die Fahren schwungvoll-dynamisch, aber Schieben ein bisschen peinlich finden. Viele andere haben nämlich den umgekehrten Eindruck: Wer auf dem Gehweg oder Bahnsteig fährt, gilt nicht als schwungvoll, sondern als sozial zumindest leicht gestört. Dagegen freuen sich viele Menschen über einen souveränen und rücksichtsvollen Menschen, der ihnen mit dem Rad an der Hand entgegenkommt.

Roland Stimpel

Weitere Informationen: www.fuss-ev.de (Regeln + Konflikt)

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