„Man kann nicht neutral sein“

Aus DER RABE RALF August/September 2024, Seiten 14/15, Oktober/November 2024, Seiten 12-14

Der Journalist David Goeßmann über Wagenknecht, Klimaflucht, Verschwörungen und alternative Medien

David Goeßmann. (Foto: privat)

David Goeßmann ist Journalist und Medienkritiker. Er beschäftigt sich unter anderem mit Klimapolitik und Fragen der globalen Gerechtigkeit. Goeßmann ist Autor zahlreicher Bücher, zu den letzten zählen: „Von links bis heute: Sahra Wagenknecht“ (2019), „Die Erfindung der bedrohten Republik. Wie Flüchtlinge und Demokratie entsorgt werden“ (2019) und „Kurs Klimakollaps. Das große Versagen der Politik“ (2021). Der Rabe Ralf sprach mit ihm über Zeitenwenden, echte und falsche Alternativen und die eigene Zunft.

Der Rabe Ralf: Herr Goeßmann, Ihr 2019 erschienenes Buch über Sahra Wagenknecht liefert eine fundierte Analyse des ideologischen Werdegangs dieser Politikerin. Sie verzichten darin auf biografische Anekdoten und psychologische Deutungen und stellen Wagenknechts Entwicklung in den Kontext der (ost)deutschen Ideen- und Mentalitätsgeschichte. Obwohl Sie damals noch nichts von der Parteigründung wissen konnten, wirkt ihr Buch immer noch aktuell. Gibt es trotzdem etwas, das Sie ihm heute gerne hinzufügen würden? Müsste das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) ein eigenes Kapitel bekommen oder ist es nichts weiter als die logische Konsequenz aus Wagenknechts Gang „von links bis heute“?

David Goeßmann: Letztlich ist es eine persönliche und strategische Entscheidung von Sahra Wagenknecht gewesen, eine neue Partei zu gründen. Ich glaube nicht, dass das ihre innere, intellektuelle Entwicklung entscheidend verändern wird. Wie ich im Buch zeige, hat Wagenknecht als eine der wenigen Spitzenpolitikerinnen und -politiker in Deutschland schon früh ein ausformuliertes ideologisch-politisches Koordinatensystem entwickelt. Seit den 1990er-Jahren hat sie die verschiedenen Aspekte ihres Gedankengebäudes in Büchern ausgedrückt, und dieses hat sich kaum verändert.

Wenn man es auf einen Begriff bringen will, ist Sahra Wagenknecht eine konservative, auf Markt, Leistung und Nation orientierte Sozialdemokratin mit einer friedenspolitischen Perspektive, sie nennt das „innovativen Sozialismus“. Es mischen sich progressive mit rückwärtsgewandten bis reaktionären Vorstellungen bei ihr, wie Gesellschaft und Wirtschaft organisiert werden sollen. Sicherlich gibt es bei ihr Entwicklungen über die Zeit, Modifikationen, in Einzelfragen auch klare Kursänderungen, zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik. Doch diese Neupositionierungen laufen in ihrem Koordinatensystem ab. Die Hauptelemente sind Marktwirtschaft und Konkurrenz, Honorierung durch das Leistungsprinzip, hierarchische Ordnung von Wirtschaft und Politik, Vorrang des Ökonomischen und Nationalen. Mit der Zeit werden bestimmte Grundpositionen im parteipolitischen Alltag stärker von Wagenknecht betont, verschärfen sich, andere rücken in den Hintergrund, erweisen sich als zweitrangig oder als vorübergehende Anpassung an den „linken Zeitgeist“. So hat Wagenknecht um die Jahrtausendwende, als die Globalisierungskritik einen Aufschwung erfuhr, von Selbstverwaltung der Betriebe und radikaldemokratischen Utopien gesprochen. Das ist heute alles verschwunden.

In den 1990er-Jahren, bei der „ersten Flüchtlingskrise“ im Zuge der Balkan-Kriege, kritisierte sie die Dämonisierung von Flüchtlingen durch die Bundesregierung – Kriminalität, innere Sicherheit, „Job-Klau“ – als gefährliche, unverantwortliche Propaganda, stellte sich gegen die Schleifung des Asylrechts und forderte die Aufnahme von hilfesuchenden Menschen, die nach Deutschland kommen, aus humanitärer Verantwortung. Noch kurz vor der zweiten Flüchtlingskrise forderte sie in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau „Fähren für Flüchtlinge“. Dann kam die Kehrtwende mit den „Krisenjahren“ 2015 und 2016. Seitdem verwendet sie die gleichen Stereotypisierungen und suggestiven Bedrohungsszenarien gegen Flüchtlinge und „unerwünschte Zuwanderer“, die sie zwanzig Jahre zuvor attackierte – wobei sie als Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag die humanitäre Haltung ihrer Partei programmatisch und bei Abstimmungen mittrug.

Meine Vermutung ist deshalb, dass Wagenknecht mit ihrer eigenen Partei ihre konservativen, marktorientiert-ökonomistischen und zum Teil illiberalen Gesellschaftsvorstellungen politisch stärker aktivieren wird. So hieß es im Europawahlprogramm des BSW ausdrücklich: „Wir wollen die unkontrollierte Migration in die EU stoppen.“ Die Asylverfahren sollen an die EU-Außengrenzen oder in Drittstaaten verlagert werden. Wagenknecht sprach kürzlich in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von Missbrauch beim Bürgergeld und falschen Anreizen, obwohl Sozialverbände betonen, dass die Zahl der Menschen, die keine Lohnarbeit suchen, gering ist, und außerdem eine deutliche Aufstockung der Unterstützung fordern, von 563 Euro im Monat auf 813 Euro. Den Mindestlohn will Wagenknecht nur moderat um rund einen Euro gegenüber den geplanten Regelungen auf 14 Euro steigen lassen – die Linke will 15 Euro –, während sie höhere Steuern erst ab einem Einkommen von 250.000 Euro Jahreseinnahmen verlangt. Dann hält Wagenknecht 50 Prozent für angemessen. Unter dem CDU-Kanzler Helmut Kohl lag in den 1980er Jahren der Spitzensteuersatz sogar mal bei 56 Prozent – und das schon ab 130.000 DM. Insgesamt ist sie sozialpolitisch weiter auf sozialen Ausgleich ausgerichtet, auch was Renten und Mieten angeht, während sie gleichzeitig immer stärker Unternehmensinteressen in den Vordergrund rückt. In der Außenpolitik setzt sie auf gemeinsame Sicherheit in Europa und Diplomatie statt auf Eskalation, Militarisierung und Waffenexporte.

Wagenknecht bleibt also ein politischer Gemischtwarenladen, mit Rechtsdrall. Sie will die „Mitte der Gesellschaft“ vertreten – was nach der vor 25 Jahren von Tony Blair und Gerhard Schröder ausgerufenen „neuen Mitte“ klingt – und mit AfD- und konservativen Themen wie innere Sicherheit und restriktiver Zuwanderungspolitik bei den Frustrierten punkten.

Obwohl noch kein detailliertes Parteiprogramm vorliegt, scheinen Umwelt- und Klimaschutz für das BSW nur schmale Lippenbekenntnisse zu sein. Kann man als Öko trotzdem diese Partei wählen?

Klimaschutz ist bei Wagenknecht – und das BSW ist auf sie ausgerichtet – ein blinder Fleck. Sie hat nie Interesse an Ökologie gezeigt und verfügt auch, anders als in ökonomischen und sozialen Fragen, über keinerlei Expertise angesichts der Klimakrise. Sie nimmt die Tragweite des Problems nicht zur Kenntnis und weigert sich, die im Grundsatz alternativlose Energiewende sachlich zu diskutieren. Allerdings ist sie damit leider nicht allein im politischen Geschäft.

Die Erderhitzung ist in ihrem ökonomistischen Weltbild schlicht eine „Externalität“ – nach dem Motto: Darum kümmern wir uns später, Schritt für Schritt und im Rahmen marktkonformer Lösungen. Sie sieht hier eine Belastung und einen Unsicherheitsfaktor für die Versorgung der deutschen Industrienation mit billiger fossiler Energie. Sie betrachtet die „Ökowende“ als Bedrohung für den nationalen „Wohlstand für alle“ und warnt vor einer „Ökodiktatur“, in der der Staat die Bürgerinnen und Bürger zwingen müsste, „die Ökoinvestitionen und die auf sie beanspruchten Renditen mit Wohlstandsverlusten zu bezahlen“.

Es lässt sich leicht zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist: Wohlstand wird pulverisiert werden, wenn nicht entschlossen gehandelt wird. Wir zahlen jetzt schon große Summen für das Nichthandeln in der Vergangenheit, siehe die 30 Milliarden Euro allein für den Wiederaufbau des Ahrtals nach der Flut oder die jährlichen landwirtschaftlichen Schäden durch Extremwetter wie Dürren.

Außerdem ist die Energieproduktion aus fossilen Brennstoffen längst teurer als die aus erneuerbaren Quellen. Kohle, Gas und Öl hängen zudem seit Jahrzehnten am Tropf von Steuergeld-Subventionen. Immer noch sind es in Deutschland jedes Jahr rund 70 Milliarden Euro laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW – weltweit ist es das Hundertfache, sieben Billionen Dollar, wie der IWF gezeigt hat. Ohne dieses enorme finanzielle Verwöhnprogramm durch uns Bürger würden die Fossilen auf dem Markt zusammenbrechen. Das weiß Wagenknecht natürlich als Ökonomin, aber sie hat sich entschlossen, diese Realität auszublenden.

Im Programmentwurf des BSW wird sogar behauptet, dass – neben den Russland-Sanktionen – durch „vermeintliche Klimapolitik auch noch Energie schlagartig teurer wurde“. Dadurch drohe „unserem Land der Verlust wichtiger Industrien und hunderttausender gutbezahlter Arbeitsplätze“. Tatsächlich sind durch die Merkel-Jahre und die bewusste Zerstörung der Solar- und Windkraftindustrie Hunderttausende Jobs vernichtet worden.

Wagenknechts BSW behauptet außerdem, dass die Energieversorgung Deutschlands „im Rahmen der heutigen Technologien nicht allein durch erneuerbare Energien“ gesichert werden könne. „Blinder Aktivismus“ gefährde die „wirtschaftliche Substanz“ und „verteuert das Leben der Menschen“. Der Klimawandel müsse vor allem durch die „Entwicklung innovativer Schlüsseltechnologien“ bekämpft werden. Die gleichen, Fakten ignorierenden Sprechblasen bekommt man von der wissenschaftsfeindlichen, auf Planetenzerstörung ausgerichteten FDP. Nach dem Motto: Tee trinken, abwarten und dann den Markt entscheiden lassen. Das ist das politische Rezept für Klimachaos.

Sie selbst stehen der Idee eines radikalen Umwelt- und Klimaschutzes von links nahe. Diese Position gibt es in heutigen parteipolitischen Zusammenhängen nur in Form jenes ökosozialistischen Schreckgespenstes, das die AfD aus den Grünen machen will. Bei den Grünen findet sich allerdings fast nichts davon im Parteiprogramm. Ironischerweise würden sich einige aber genau so eine Partei wünschen. Sie auch?

Wenn man in die Geschichte schaut, dann ist Fortschritt errungen worden, indem die betroffenen Menschen, die Zivilgesellschaft und organisierte Bewegungen ihn gegen oft massive Widerstände durchgesetzt haben. Progressive Parteien und Regierungen können entstehen und den Fortschritt vorantreiben, während sie dabei eingebettet sind in langjährige Aufklärungsoffensiven, Kampagnen, Kämpfe und Proteste, die aus der Gesellschaft erwachsen. Sie sind tatsächlich das Resultat dieser Kämpfe.

Selbst wenn es eine echte Green-New-Deal-Partei* gäbe und sie gewählt würde, bräuchte es den starken Druck aus allen Teilen der Gesellschaft und breite Kooperationen bis hinein in den Unternehmenssektor, damit sie den politischen Handlungsspielraum erhält, um die notwendigen Maßnahmen durchsetzen zu können. Denn der Gegendruck würde stark und gut organisiert sein, begleitet von Kampagnen in Massenmedien, wie bei der blockierten Heizungswende. Dabei könnte entweder eine neue Partei angestrebt werden oder eine „freundliche Übernahme“ zum Beispiel der Grünen oder der Sozialdemokratie – siehe die „Corbyn-Revolution“ von 2015 in der britischen Labour Party, die fast geklappt hätte, wenn sie nicht vom Partei-Establishment und den Medien torpediert worden wäre. Welcher dieser Wege möglich und sinnvoll ist oder ob etwas anderes zum Ziel führen kann, ist letztlich eine strategische Frage, die von den Bewegungen entschieden werden muss.

Es gibt in Deutschland zudem bereits Parteien, die radikalen Klimaschutz fordern. Da ist Mera 25, die aus der Bewegung „Demokratie in Europa“ hervorgegangen ist und mit der paneuropäischen Bewegung verbunden ist, mitgegründet vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis. Oder die Klimaliste. Vielleicht läge eine Chance darin, dass sich diese Kleinparteien zu einer Wahlallianz zusammenschließen, um eine politisch wirkmächtige Kraft zu werden. Es könnte auch eine Perspektive für die Partei Die Linke bieten, die sich in einer schweren Krise befindet.

Im Moment scheint die Klimabewegung den Schwung von 2019 verloren zu haben. Aber das war zu erwarten. Das gilt auch für die Enttäuschung darüber, dass sich weiter zu wenig bewegt, trotz grüner Regierungsbeteiligung. Wichtig wäre es jetzt in dieser „Latenzphase“, dass zwischen den verschiedenen Aktiven Vertrauen geschaffen, Zusammenarbeit begründet und eine gemeinsame Kampagne entwickelt wird. Das ist ein schweres, mühseliges Geschäft, oft sehr frustrierend, aber sehr notwendig.

Insgesamt glaube ich, dass es eine starke Green-New-Deal-Bewegung geben muss, die politisch geschlossen an der Wissenschaft orientierte Forderungen aufstellt und dafür wirkmächtig eintreten kann. Das heißt für die reichen Industrienationen wie Deutschland: in zehn Jahren keine Treibhausgasemissionen mehr.

Der Umbau muss dabei sozial ablaufen – das betrifft die Investitionskosten für die neue Infrastruktur, die sich später natürlich auszahlen in billiger, sicherer und umweltschonender Energieversorgung –, während die Last von denen getragen wird, die vom riesigen Umsonst-Treibhausgasausstoß profitiert haben und weiter profitieren und über große Mengen an Geld und Kapital verfügen, die für die Wende genutzt werden können.

In Ihren Büchern und Artikeln verhehlen Sie nicht Ihre Sympathie mit einer linken Politik. Aber ist es Journalisten nicht eigentlich verboten, sich mit einer Sache gemein zu machen – auch wenn es eine gute Sache ist?

Objektivität ist eine Richtschnur – es gibt noch andere –, an der sich Journalisten orientieren sollten. In Bezug auf diese Maxime, die dem ehemaligen Tagesthemen-Moderator Hanns Joachim Friedrichs zugesprochen wird und in Deutschland zum Leitstern eines guten Journalismus erhoben worden ist, sind jedoch zwei Einschränkungen zu machen.

Erstens arbeiten Journalisten nicht in einem Labor und untersuchen ein Molekül oder schweben als Astronauten im All. Sie operieren in einer Welt voller Missstände, Leid, Gewalt, Ungleichheit, Ungerechtigkeiten und Unterdrückung. Der US-Historiker Howard Zinn hat das mal auf die Formel gebracht: „You can’t be neutral on a moving train.“ In einem fahrenden Zug kann man nicht unbeteiligt sein. Wer sich Preisträger des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises anschaut, findet dort dann auch reichlich Anschauungsmaterial für „nicht objektiven“, sich mit einer Sache gemein machenden, also „schlechten“ Journalismus.

Zweitens: Wenn in Redaktionen der Mainstream-Medien davon geredet wird, man soll „neutral“ berichten, dann ist das ein Codewort, das eine Ergänzung enthält, ohne die die Forderung nicht sinnvoll verstanden werden kann – siehe oben. Was mit „neutral“ tatsächlich gemeint ist, ist, dass man sich nicht mit Sachen gemein machen soll, die vom allgemein geteilten politisch ausgehandelten Kurs ideologisch abweichen oder diesen gar als zerstörerisch und inhuman demaskieren.

Es gibt also eine Berichterstattung, die sich mit einer Sache gemein macht, die aber okay ist und dann auch Preise bekommt – und eine, die nicht okay ist und unter die Rubrik „einseitig“, „nicht objektiv“ und „aktivistisch“, manchmal sogar „gefährlich“, „verschwörungstheoretisch“ und „unmoralisch“ fällt.

Druckerei der Axel Springer AG in Berlin-Spandau. (Foto: Ralf Roletschek/​Wikimedia Commons)

Es gibt also keine Alternative zum „Sich-gemein-Machen“?

Mit-einer-Sache-gemein-Machen kann natürlich viele Formen annehmen, die von inhaltlichen und ideologischen Filterungen über die Auswahl von Stimmen und Informationen bis zu Perspektivierungen, Kommentierungen, Kontextualisierungen oder Dekontextualisierungen reichen und dem Publikum signalisieren, „auf welcher Seite und für welche Sache“ man einsteht. Dieses eher technisch-journalistische Arsenal verwenden die Medien auch durchgängig, insbesondere um sich mit der Sache der Mächtigen gemein zu machen.

Ein Beispiel unter vielen: Bei den sogenannten Antiterrorkriegen der USA und ihrer Verbündeten – es waren tatsächlich brutale Angriffskriege, das größte Kriegsverbrechen des 21. Jahrhunderts, mit 4,5 Millionen Toten – haben die westlichen Medien aus der Täterperspektive berichtet. Sie haben Opfer und Schäden zu großen Teilen ausgeblendet und die Verbrechen als „militärische“ beziehungsweise „humanitäre“ Interventionen, die Demokratieaufbau und „Nation Building“ betreiben, weißgewaschen. Das wurde und wird aber nicht als problematisch angesehen und auch nicht als „einseitig“ und „aktivistisch“ kritisiert. Der Grund: Es steht im Einklang mit dem real existierenden Objektivitätsgebot.

Solange Journalisten also wie Fische mit dem politischen Mainstream schwimmen und die offiziellen Positionen und Debatten ihrer Regierung, der maßgeblichen Parteien und mächtigen gesellschaftlichen Akteure – Unternehmer- und Industrieverbände, Denkfabriken, Meinungsmacher, auch Gewerkschaften, Kirchen und andere Organisationen, solange sie nicht zu deutlich vom offiziellen Kurs abweichen – „neutral“ wiedergeben, machen sie sich angeblich nicht mit einer Sache gemein.

Gemein macht man sich in dieser Lesart nur mit einer Sache, wenn man aus diesem Meinungszirkel heraustritt. Das gilt natürlich auch für meine Kolleginnen und Kollegen in Russland, die sich weigern, den Angriffskrieg ihrer Regierung „neutral“ aus der Täterperspektive als „Militäroperation“ zu schildern, und ihn stattdessen als verbrecherisch kritisieren. Im Westen werden diese Journalisten zu Recht als mutige Dissidenten gefeiert – während aber die eigenen Kritiker westlicher Angriffskriege zu Terroristenverstehern degradiert werden.

Beim Klimaschutz, bei der neoliberalen Wende, beim Flüchtlingsschutz oder auch bei dem jüngsten Gaza-Krieg kann man ebenfalls beobachten, wie die meisten mit dem Hauptstrom schwimmen und sich mit dem offiziellen politischen Kurs gemein machen, während Journalistinnen, Wissenschaftler und zivilgesellschaftliche Organisationen ins Visier der Kritik geraten und als einseitig, weltfremd und aktivistisch, als „Gutmenschen“ bezeichnet werden, wenn sie gegen den Strom schwimmen, indem sie die Realität schildern und universelle Werte hochhalten.

Spätestens seit der Corona-Pandemie und dem russischen Großangriff auf die Ukraine stehen „alternative Medien“ im Verdacht des Schwurbler- und des Querfrontlertums – manchmal zu Recht. Sie selbst haben mit Fabian Scheidler einige Jahre das alternative Portal „Kontext TV“ betrieben. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen aufklärerischer Herrschaftskritik und Verschwörungstheorie?

„Verschwörungstheorie“ ist ein entleerter Begriff, weil er zu oft missbraucht wurde, um legitime Kritik zu diffamieren. Zuerst einmal gibt es permanent Verschwörungen. Konzernchefs und Regierungsspitzen sitzen ständig zusammen, planen Dinge, die schädlich sind für die Allgemeinheit, aber unterrichten die Öffentlichkeit nicht oder nicht angemessen darüber.

Ein Beispiel: Ölkonzerne wie Exxon oder BP haben schon in den 1970er-Jahren die Effekte ihres Geschäftsmodells auf die Erdatmosphäre intern von Wissenschaftlern untersuchen lassen und die alarmierenden Ergebnisse dann unter Verschluss gehalten, während sie die Ölförderung bis heute fortsetzen. Eine klassische und sehr fatale Verschwörung.

Daneben gibt es auch verirrte Spekulationen und wilde Theorien über Verschwörungen. Sie sind weder belegt oder belegbar noch glaubwürdig noch politisch von Relevanz. Oft sind es verschrobene Gedankengebäude, in die sich Menschen verrennen, zum Teil mit enormem Aufwand.

Die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA sind ein Beispiel dafür – es wird dabei gemutmaßt, dass es ein „Inside-Job“ der Bush-Regierung gewesen sei. Oder die Corona-Pandemie, wo Fantasien blühen, wie zum Beispiel, dass Bill Gates das Virus erschaffen habe, um daran zu verdienen und alle zu kontrollieren.

Aber Menschen mit solchen Obsessionen sind oft ohne jeglichen Kontakt zu politischen Bewegungen und politischen Debatten, die darum bemüht sind, die Welt mühsam ein Stück besser zu machen. Es sind Phänomene, die in keiner Weise „progressive Strömungen“, „die Linke“, „die alternativen Medien“ oder Graswurzelbewegungen repräsentieren.

Was stärker beachtet werden sollte, sind aktuelle Trends, die die kanadische Autorin Naomi Klein auf den Begriff „Doppelgänger“ bringt, die von der digitalen Aufmerksamkeitsmaschine verstärkt werden und die politische Bühne betreten – und das betrifft durchaus auch die „alternativen Medien“ und die digitalen Meinungsplattformen, von Social Media bis zu Blogs. Es handelt sich dabei um Akteure und Strömungen, die ein wenig Wahrheit mit Lügen auffüllen, linke Positionen und herrschaftskritische Haltungen mit rechten, reaktionären und sehr schädlichen Strategien verschränken.

Da wird der berechtigte Ärger über „die da oben“, über große Konzerne, die Finanzindustrie oder die Mainstreammedien – in Deutschland vor allem die Öffentlich-Rechtlichen – nach rechts kanalisiert in Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Nationalismus, Anti-Wissenschaft und rechte „Lügenpresse“-Beschimpfungen. Im Kern wird gesagt: Unsere Gesellschaft ist zu links, zu liberal, zu kosmopolitisch und chaotisch – zu multikulturell „bunt“. Wir müssen mal wieder aufräumen und Ordnung schaffen.

Das wird von prominenten rechten und rechtsextremen Akteuren und diversen Influencern – in den USA Steve Bannon und Donald Trump, in Europa die rechtsextremen Parteien und ihre Echokammern –, initiiert, geschürt und wie ein Virus verbreitet, um daraus geldwerten Profit in der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie sowie politischen Profit in Form von Wählerstimmen zu generieren.

Genährt wird die trübe, verschwörungskulturelle, rechte Anti-Establishment-Haltung von dem Wunsch, der bitteren Realität von globalen Krisen, Erderhitzung, endlosen Kriegen und massiver Ungleichheit nicht in die Augen schauen zu müssen, die Realität zu verdrängen, um Abkürzungen zu nehmen in einfache Erklärungen und Lösungen. Inklusive der Frustentladung auf Sündenböcke wie Fliehende, Minderheiten, sonstige „Schmarotzer“ und „Klima-Terroristen“.

Um zur Ausgangsfrage zu kommen: Ob etwas ernstgemeinte, ernstzunehmende politische Kritik ist, lässt sich nur im Einzelfall prüfen. Es ist das übliche Geschäft: Wo sind die Belege für Behauptungen, was sagen die empirischen Daten? Sind die Aussagen und Schlussfolgerungen glaubwürdig und substanziell? Welche politische Agenda wird verfolgt? Und so weiter.

Eindeutig linke Politik ist im Moment nicht mehrheitsfähig. Die Restlinke ist mit Selbstzweifeln beschäftigt. Wer noch vor einigen Jahren die Nato kritisch sah, für Abrüstung warb und vielleicht auch „Ami go home“ skandierte, kommt jetzt zu dem Schluss, dass ein Leben im Schatten der US-Hegemonie wahrscheinlich angenehmer ist, als von Putins Armee besetzt zu sein. Dennoch fordern Sie weiterhin ein blockfreies Europa. Ist das nicht naiv oder sogar gefährlich?

Zwei kurze Vorbemerkungen. Wenn man sich Umfragen anschaut, wollen Mehrheiten in vielen Fällen eine progressive Politik: Vermögenssteuer, Steuergerechtigkeit, mehr Geld und Personal für Schulen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, weniger für Militär, Konzerne und Reiche, Friedenspolitik und Diplomatie statt Waffenexporte, Umwelt- und Klimaschutz, ein faires System für die Flüchtlingsversorgung. Warum sich das nicht bei Parteien und Wahlen zeigt, hat diverse Gründe und geht letztlich zurück auf das Wirken der Machtverhältnisse und von Propaganda.

Zweitens zu der unausgesprochenen Annahme in der Frage, dass Europa „von Putins Armee besetzt“ werden könnte, wenn da nicht die Nato-Verpflichtung wäre, die die USA auf den Plan rufen würde: Die russische Armee konnte nicht mal das quasi an der eigenen Grenze gelegene Kiew einnehmen. Die EU-Staaten plus Großbritannien sind Russland mit seiner sehr begrenzten Machtreichweite in allen Belangen weit überlegen – auch ohne „US-Hegemonie“. Und sollte Moskau die Realität irrational-suizidal ignorieren und auch nur versuchen, einen konventionellen Krieg gegen Europa zu starten, würde das in der Vernichtung Russlands enden, wahrscheinlich aber schnell im Atomkrieg. Auch dafür brauchen wir den „Schatten der US-Hegemonie“ nicht. Ein durch russische Truppen besetztes Europa ist eine reine Fata Morgana.

Solche Binsenweisheiten kann man heute kaum noch diskutieren, wegen der hysterischen Stimmung. Der Einmarsch Moskaus in die Ukraine ist ein Geschenk Putins an die Vereinigten Staaten gewesen. Seitdem stehen Nato und Militarisierung hoch im Kurs. 2019 erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron die von den USA angeführte Militärallianz noch für „hirntot“. Heute fordert er robustes Engagement, sogar westliche Truppen in der Ukraine.

Vielleicht sollte man noch einmal daran erinnern, 75 Jahre nach der Nato-Gründung: Die USA haben die Militärallianz nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aus der Taufe gehoben, um Europa sicherer zu machen – US-Planer sahen sowjetische Truppen nicht als Bedrohung an –, sondern um Europa an sich zu binden und eine „neutrale“, unabhängige Sicherheitsarchitektur in Europa unter Einbeziehung der Sowjetunion zu verhindern. Das war ihre größte Sorge, und die war absolut berechtigt. So strebte Moskau eine gemeinsame Sicherheitsstruktur in Europa an, auch Charles de Gaulle in Frankreich hatte derartige Ideen. Dann hätten die USA aber Europa „verloren“, deswegen blockierte Washington diesen „Irrweg“, deswegen gibt es die Nato.

Die Nato wurde nach 1990 auch nicht in die Mottenkiste verfrachtet, obwohl das „Reich des Bösen“ im Osten, das gemäß Kalte-Kriegs-Propaganda angeblich nur darauf wartete, Westberlin, Paris und London einzunehmen, verschwunden war. Vielmehr wurde die Nato immer weiter nach Osten Richtung Russland ausgedehnt, während die Sicherheit auf dem Balkan, am Hindukusch, in Libyen oder an Handelsrouten extraterritorial „verteidigt“ wurde.

Es stimmt, die Ukraine-Invasion Russlands ist kriminell und ein Verbrechen, aber sie ist nicht unprovoziert. Die von den USA über viele Jahre vorangetriebene Nato-Mitgliedschaft von Georgien und der Ukraine war ein zentraler Auslöser. Über viele Jahre warnte Moskau, dass damit eine rote Linie für russische Sicherheitsinteressen überschritten werde. Heute hält der weiter anvisierte Beitritt der Ukraine zur Allianz das Kriegsgeschehen am Laufen.

Derweil wird Europa immer instabiler, nicht trotz, sondern wegen der Nato. Die transatlantische Militärallianz ist ein aggressives Bündnis, angeleitet von den imperialen Interessen der Vereinigten Staaten, die auf Kosten von Europas Sicherheit geopolitisch agieren. Am Ende polarisiert die Nato und befördert militärische „Lösungen“ statt Diplomatie.

Europa wird mit Russland leben müssen, das Land wird nicht einfach verschwinden. Es braucht daher eine gesamteuropäische Lösung, die wechselseitig Sicherheit garantiert. Die Europäer sollten endlich erwachsen werden und ihre Sicherheit selbstständig im Verbund organisieren. Aber klar ist auch: Im Moment ist das ein bloßer Wunschtraum.

Flüchtlinge aus der Ukraine am Berliner Hauptbahnhof, Anfang März 2022. (Foto: Leonhard Lenz/​Wikimedia Commons)

Obwohl der Zeitgeist nicht links ist, landen kapitalismuskritische Bücher immer wieder auf den Bestsellerlisten, wie kürzlich Ulrike Herrmanns „Das Ende des Kapitalismus“. Es scheint ein ebenso weit verbreitetes wie diffuses Unbehagen an den Verhältnissen zu geben. Dieses Unbehagen wird allerdings eher von rechts aufgefangen und endet meist in der Stigmatisierung individueller oder kollektiver Sündenböcke. Wie erklären Sie sich das?

Das Bild scheint mir komplex und wechselhaft. Im Zuge der globalen Finanzkrise von 2008 entstanden überall linke, antikapitalistisch inspirierte Bewegungen, von Occupy Wall Street in den USA über die Indignados in Spanien bis zum Arabischen Frühling, mit grundlegenden Perspektiven und reformerischen Vorschlägen, um echten Fortschritt zu erwirken. Das zeigte sich auch im Erfolg von Parteien, die linke Programme anboten, und von progressiven Kandidaten: Bernie Sanders in den USA, Jeremy Corbyn in Großbritannien, Syriza in Griechenland oder La France insoumise in Frankreich.

Die weltweiten Klimaproteste haben außerdem grüne und Green-New-Deal-Bewegungen überall auf der Welt stimuliert, von der „Sunrise-Bewegung“ in den USA über „Labour for a Green New Deal“ in Großbritannien bis hin zu „Extinction Rebellion“ und „Fridays for Future“. Bei der Europawahl 2019 gab es daraufhin einen großen Aufschwung grüner und links-grüner Parteien.

Aber auch schon damals sah man Rechtsentwicklungen und rechtsextreme Parteien, die zulegen konnten. Das Pendel schwingt oft hin und her. Nehmen wir Brasilien: Erst die linken Regierungen unter Lula da Silva und seiner Nachfolgerin Rousseff seit 2002, dann die Machtübernahme durch den rechtsextremen und autoritären Bolsonaro ab 2018, jetzt wieder Lula.

Die Tendenz zu „autoritären Versuchungen“ ist letztlich ein Effekt der neoliberalen Aushöhlung der Gesellschaft – Naomi Klein nennt es den Desaster-Kapitalismus – in vielen Ländern, die den Rechtsextremen in die Karten spielt, von der AfD über die Melonis, Le Pens, Orbans und Wilders‘ bis hin zu Trump. Überall zeigen sich die Menschen verunsichert. Es ist fast eine historische Konstante der Moderne: Die Angst um die Existenz und die Zukunft kann politisch ausgebeutet werden. Nach der Devise: Wir bieten euch eine stabile Heimat ohne Krisen, eine Ordnung nach dem Muster „Wir gegen die“ – und alles wird gut.

Die Frage ist, ob Progressive – Linke und Grüne, wie immer man das nennen möchte – etwas Kraftvolles dagegen setzen können. Es muss attraktiv und glaubwürdig sein, das heißt keine Sonntagsreden, kein populistisches Anbandeln, keine Aneinanderreihung von Einzelmaßnahmen. Gefordert ist Mut zur Wahrheit, aber auch ein klarer Wille, die Menschen dort abzuholen, wo sie sich befinden, und nicht da, wo man sie gerne haben möchte. Es braucht einen klaren Plan, ein Gesamtprogramm, das eine soziale Wende mit einer ökologischen Wende verbindet.

Ein wichtiger Faktor wird auch sein, Vertrauen zwischen progressiven Organisationen und linken Parteien auf der einen Seite und der Arbeiterschaft und breiteren Bevölkerung auf der anderen wiederherzustellen. Denn in den letzten Jahrzehnten sind klassische politische Foren wie Ortsverbände linker Parteien oder Gewerkschaften weggebrochen und Entfremdungen entstanden.

Aber solange die gesellschaftlichen Probleme – unbezahlbares Wohnen, explodierende Ungleichheit, Arbeitsstress – munter weiterschwelen oder gar zunehmen, wodurch Frust und Hoffnungslosigkeit genährt werden, können Rechte die Misere auf Sündenböcke projizieren und Stimmen sammeln.

Derzeit gibt es eine Art Massensterben von alternativen Printmedien, auch bedingt durch die jüngste „Zeitenwende“, die zur Erhöhung von Druck- und Versandkosten geführt hat. Der Rabe Ralf ist ebenfalls bedroht. Wie kann dies eingedämmt oder verhindert werden? Glauben Sie, dass nur der Wechsel ins Digitale eine Lösung ist?

Druck- und Vertriebskosten sind immer schon der „Hinkefuß“ von Printmedien gewesen. Früher waren es 70 Prozent der Kosten, heute tendiert es eher gegen 50 Prozent. Immer noch sehr viel. Kommerzielle Medien haben die Kosten früher durch stabile Werbe- und Anzeigeneinnahmen schultern können. Mit der Anzeigenkrise kam dann die Krise der gedruckten Zeitungen und Zeitschriften – heute sagen Prognosen, dass es 2030 nur noch die Hälfte der Printabos in Deutschland geben wird. Hinzu kommt die Konkurrenz aus der digitalen Nachrichtenmaschine, die Umsonst-Artikel im Überfluss anbietet – auch wenn heute ein Teil davon hinter Paywalls steht –, während Generationen herangewachsen sind, die auf PC, Smartphone und Co. ausgerichtet sind und oft keinen Kontakt mehr zu gedruckten Zeitungen haben.

Manche Printprodukte konnten sich durch Steigerung der verkauften Abos oder höhere Abopreise aus der Kostenspirale befreien. Eine andere Maßnahme waren teils drastische Einsparungen im redaktionellen Betrieb, gepaart mit Newsroom-Konzepten und Fusionen oder Übernahmen, die zu Entlassungen, Qualitätsreduktion und sonstigen Kürzungen führten.

Einige Medien wie die Taz stützen sich auf Genossenschaftsmodelle oder versuchen wie der britische Guardian, durch die Einführung von parallelen Spendenoptionen ein anderes Standbein zu entwickeln. Alternative Medien haben es immer schwer, sich zu finanzieren. Umso mehr, wenn auch noch die hohen Druck- und Vertriebskosten gestemmt werden müssen.

Wenn die gedruckte Version eines Mediums verschwindet, vor allem eines kritischen Mediums, ist es ein Verlust. Denn damit geht ein Teil seiner Präsenz in unserer Gesellschaft verloren. Es ist dann nicht mehr im nicht-digitalen, öffentlichen Raum vertreten.

Der Fakt, dass eine Zeitung gedruckt wird, befördert meines Erachtens auch die Qualitätskontrolle und thematische Breite und verleiht einem Medium mehr Autorität. Ein Online-Artikel ist schnell mal „rausgeschossen“.

Im Internet ist jeder Artikel zudem sein „eigenes Produkt“, das über Zugriffe und Lesetiefe gerankt wird. Wird dagegen eine ganze Zeitung erworben und nicht einzelne Artikel, unterliegen die Beiträge diesem Druck nicht, der weniger leicht Konsumierbares negativ sanktioniert und oft ausselektiert – etwa tiefer gehende Analysen, längere Hintergründe, kompliziertere und abgelegenere Themen.

Wenn man also wegen der ihnen eigenen Qualitäten gedruckte Zeitungen und Zeitschriften gesellschaftlich erhalten will, vor allem die, die nicht geschützt sind durch große, finanzkräftige Verlage und eine wichtige Funktion für die Demokratie erfüllen – und dazu gehört die Umweltzeitung Der Rabe Ralf –, braucht es neben Einzellösungen ein öffentliches Unterstützungsmodell.

Dabei müsste natürlich darauf geachtet werden, dass es nicht direkte staatliche Hilfen sind, die die Unabhängigkeit der Berichterstattung beeinträchtigen, und dass die Gelder nicht bei den großen Medienunternehmen landen.

Ein US-Medienexperte hat einmal in einem Artikel vorgeschlagen, jeder Bürgerin und jedem Bürger eine Summe x pro Jahr zuzusprechen, die sie oder er frei an ein lizensiertes Medium oder mehrere „verteilen“ kann. Eine interessante Idee.

In Ihrem Buch „Die Erfindung der bedrohten Republik“ warnen Sie vor der Dämonisierung von Geflüchteten, dem Hauptmotor der erstarkenden Rechtsparteien. Wer sich mit den durch die Klimakrise zu erwartenden Fluchtbewegungen beschäftigt, kann nur zu dem Schluss kommen, dass diese Entwicklungen Wasser auf die Mühlen der rechten Demagogen sein werden. Glauben Sie, dass eine Zukunft jenseits der „Festung Europa“ noch möglich ist?

Wie uns Untersuchungen und Daten zeigen, sind Rechtsentwicklungen nicht ursächlich korreliert mit Flüchtlingszuwanderung oder der Anwesenheit von Fremden. Zum Beispiel war die Zustimmung zur AfD in der sogenannten „Flüchtlingskrise“ ab 2015 tatsächlich negativ korreliert mit den Flüchtlingszahlen in Deutschland: Mehr Flüchtlinge bis Ende 2015 „erzeugten“ sinkende AfD-Werte bei Umfragen, sinkende Flüchtlingszahlen bis 2018 dagegen mehr AfD-Zustimmung. Was die AfD tatsächlich seit 2015 voranbrachte, wie das „Mercator Forum Migration und Demokratie“ in seinem Jahresbericht 2018 herausstellte, waren die politischen Dauer-Krisendebatten und eine anhaltend alarmistische Berichterstattung über unsichere Grenzen, drohende Migrationswellen, diverse Integrationsprobleme, gesellschaftliche Spaltung und Ähnliches, die erst richtig anlief, als kaum noch Flüchtlinge nach Deutschland kamen.

Heute das gleiche: Die eine Million Menschen, die aus der Ukraine in kürzester Zeit nach Deutschland flohen, haben der AfD keinen Schub verleihen können. 200.000 bis 300.000 „unerwünscht Fliehende“ von jenseits des Mittelmeers, die von Medien und Politik mit moralischer Panik, Bedrohungsszenarien und wüsten Stereotypen „willkommen geheißen“ wurden, brachten dagegen der AfD erneut einen Höhenflug. Und noch mehr Asyl-Schleifung, aber nur für die dunkelhäutigen Menschen, nicht die weißen aus Osteuropa.

Und dann: Wo sind Xenophobie und Flüchtlingsabwehr – und die damit einhergehenden AfD-Werte – am höchsten? Dort, wo weniger Fremde sind und der persönliche, alltägliche Kontakt mit ihnen kaum vorhanden ist, das bekannte Stadt-Land-Gefälle. Fremdenfeindlichkeit und Flüchtlingspanik brauchen keine realen Flüchtlinge, sondern Symbole und Stereotype, wie die Forschung weiß. Das gleiche gilt für Judenhass oder Homo- und Transphobie, die auch keine Juden, Schwulen, Lesben oder Transmenschen benötigen.

Ja, es stimmt, die Flüchtlingsbewegungen werden in der Zukunft zunehmen. Sie haben im letzten Jahrzehnt bereits eine dramatische Entwicklung genommen – fast eine Verdopplung der Heimatlosen auf fast 120 Millionen Menschen unter dem Mandat des UN-Flüchtlingshilfswerks –, von der wir dank Arbeitsverweigerung der Medien fast nichts mitbekommen, da sich die Dramen zum überwältigenden Teil in armen und den ärmsten Ländern, den sogenannten Frontstaaten, abspielen, die rund 90 Prozent der Vertriebenen beherbergen, ohne dafür die Ressourcen von den reichen Staaten zu bekommen.

Im Zweifelsfall vegetieren sie in den sogenannten „Höllenexperimenten“ dahin – viele sind dort geboren und kennen nichts anderes als Flüchtlingslager –, oder sie sterben in großer Zahl auf der Flucht, unbeachtet von allen Medien.

Was müsste passieren? Statt chaotische, immer härtere Ad-hoc-Abschottungen gegen Fliehende durchzusetzen und Stimmung gegen sie zu machen, was rechtsextremen Parteien ihr stärkstes Mobilisierungsinstrument auf dem Silbertablett serviert, könnten wir einen anderen Weg einschlagen. Es gibt genügend Alternativen, die seit Jahrzehnten von Expertengruppen, politischen Gremien und Fachorganisationen entwickelt und gefordert werden. Im Prinzip braucht es ein geregeltes, internationalisiertes und faires System der Flüchtlingsversorgung statt des brutalisierten, nationalistischen Abwehr-Egoismus. Wir haben gesehen, wie das funktionieren kann – bei den Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine, die die EU-Länder in kurzer Zeit geräuschlos aufnahmen und versorgten.

Außerdem müssen wir beginnen, die Fluchtursachen ernsthaft anzugehen: Schluss mit Kriegen, „militärischen Lösungen“ und Waffenlieferungen, mit der bedingungslosen Förderung von „befreundeten“ Diktaturen, Schluss mit Klimakrisen-Ignoranz, Ressourcenraub und unfairen Handelssystemen gegenüber dem globalen Süden. Wir brauchen echte, konstruktive Partnerschaften, die den Menschen zugutekommen.

Wenn wir weitermachen wie bisher, werden wir am Ende in einer humanitären und politischen Maximal-Katastrophe enden – wobei wir längst in einer katastrophischen Phase der Geschichte angelangt sind. Wer die Parallelen zu den 1920er und 1930er Jahren in Europa nicht sehen kann, trotz aller Unterschiede, muss schon mit historischer Amnesie geschlagen sein.

Während Wagenknecht und Co. linke Politik nur vom Staat her denken, steht die „andere Linke“ in der Tradition von Graswurzelbewegung und „Do it yourself“ – was Erstere als kleinbürgerliche Weltfremdheit kritisieren. Sind Gartenprojekte, kommunale Energieversorgung und solidarische Landwirtschaft eine Sackgasse oder der Feldweg zur Utopie?

Ich sehe darin keine Gegensätze. Progressive Projekte sind sehr gute Labore dafür, was jenseits des kapitalistischen Betriebssystems unserer Gesellschaft funktioniert oder auch nicht. Es sind Samenkörner der Zukunft.

Solche Projekte und Initiativen sind oft auch Foren für politische Debatten und Mobilisierungen, während sie das Bewusstsein wachhalten dafür, dass eine andere Welt möglich ist. Das wiederum kann Graswurzelbewegungen stimulieren, die mit Forderungen und Kampagnen an die Politik herantreten und sie unter Druck setzen.

Aber Genossenschaften und nicht-kapitalistische Produktionsgemeinschaften verändern nicht das kapitalistische Betriebssystem, was schon Rosa Luxemburg erkannte. Große Verbesserungen sind das Resultat eines komplexen und langwierigen Prozesses von politischen Reformen, der es schließlich ermöglicht, auch grundsätzliche Änderungen anzugehen.

In der Welt, in der wir leben, können nur Parlamente, also letztlich die Parteien, die die Regierung bilden, Gesetze erlassen und dafür sorgen, dass sie umgesetzt und eingehalten werden, um Missstände zu beseitigen und positive Entwicklungen zu initiieren. Aber das werden Regierungen nur tun, selbst bei Beteiligung von linken und grünen Parteien, wenn Bewegungen und zivilgesellschaftliche Gruppen sie organisiert dazu drängen oder ihnen dabei „helfen“.

Im Moment, in einer Welt von existenzbedrohenden und eskalierenden Krisen, könnte man in düsteren Pessimismus verfallen. Die einzige Hoffnung ist, dass mehr Menschen beginnen, die Seitenlinie zu verlassen und für eine bessere Zukunft einzutreten. Es liegt an uns, ob wir einen progressiven Politikwandel, der dringend benötigt wird, bekommen oder nicht. Davon hängt buchstäblich das anständige Überleben der Spezies Mensch ab.

Vielen Dank!

Das Gespräch führte Johann Thun

* Mit „Green New Deal“ sind Konzepte gemeint, mit denen sich das Wirtschaftssystem so umgestalten lässt, dass die Umwelt- und Klimakrise bewältigt und gleichzeitig zukunftssichere Arbeitsplätze geschaffen werden. Das soll durch ein groß angelegtes staatliches Investitionsprogramm geschehen.

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