Aus DER RABE RALF Oktober/November 2024, Seite 3
Warum Berlin des Anarchisten Gustav Landauer gedenken sollte

Gustav Landauer war Jude und Deutscher, Demokrat und Anarchist, Bildungsbürger und Pionier der Ökobewegung. Heute, wo der sogenannte „reale Sozialismus“ gescheitert und die Linke noch immer weitgehend orientierungslos ist, sollte Landauer unbedingt wiederentdeckt werden. Die kürzlich erschienene Landauer-Briefausgabe führt eindrücklich vor, dass stumpfe Nationalisten 1919 einen Menschen erschlugen, der unendlich viel tiefer in der deutschen Kultur verwurzelt war als sie. Wie kann man heute mit seinem Erbe umgehen? Der Rabe Ralf sprach mit Jan Rolletschek von der Berliner Gustav Landauer Initiative.
Der Rabe Ralf: Jan, kannst du uns Gustav Landauer kurz vorstellen?
Jan Rolletschek: Landauer wurde 1870 in Karlsruhe geboren und 1919 in München ermordet. Fast sein gesamtes Erwachsenenleben verbrachte er in Berlin. Er kam 1889 zum Studium in die Stadt und hat sich rasch politisiert. 1893 wurde er Redakteur der Zeitschrift „Der Sozialist“, bald das erste anarchistische Wochenblatt im Kaiserreich. Landauer war in der Volksbühnenbewegung aktiv, unterstützte Streiks, war beteiligt an der Gründung einer Konsumgenossenschaft (Rabe Ralf Oktober 2018, S. 26) und nahm an internationalen Kongressen teil. Er war Übersetzer, Autor, Redner, Publizist und an zahllosen Projekten beteiligt. Ab 1911 engagierte er sich intensiv gegen den heraufziehenden Krieg. 1917 ging er mit seiner Familie nach Süddeutschland und beteiligte sich 1918 in München an der Revolution.
Wie war sein Verhältnis zur Hauptstadt?
Ambivalent. Er hat die Nöte der Großstadt gesehen und als Aufgabe angenommen. Berlin hat ihm ein Betätigungsfeld geboten. Gleichzeitig hat er viele Jahre in Vororten mit direkter Zuganbindung gewohnt, um sich zu konzentrierter Arbeit zurückzuziehen.
Landauer wird häufig in ökoanarchistischen Publikationen erwähnt. Wieso ist gerade er für Ökos interessant?
Landauer gilt als Vordenker des freiheitlichen Ökosozialismus oder Ökoanarchismus (Rabe Ralf Februar 2018, S. 10). Die Begriffe selbst sind erst Ende der 1970er Jahre entstanden, um Ansätze zu bezeichnen, die soziale und ökologische Überlegungen verbinden. Landauer hat die Zerstörung der Natur und der Beziehungen im Kapitalismus angeklagt. Sozialismus hieß für ihn auch „Wiederanschluss an die Natur“ und „Wiedergewinnung der Beziehung“. Dabei verband er den Gedanken einer dezentralen Verteilung politischer Macht mit regionaler Versorgung und einer kleinräumigen Landwirtschaft, einschließlich weiterverarbeitender Industrie. Politisch selbständige Gemeinden sollten ihre Produkte tauschen und sich zu gemeinsamen Zwecken zusammenschließen. Es klingt in unseren Ohren vielleicht etwas fremd, wenn er dabei von „Arbeitsfreude und Gemeinschaftsinnigkeit“ spricht. Aber ich denke schon, dass dies wichtige Aspekte sind.
Er hat in diesem Zusammenhang auch die Demokratiedefizite angesprochen, die Planungsdebatten noch heute anhaften: „Keine Weltstatistik … kann uns helfen. Rettung kann nur bringen die Wiedergeburt der Völker aus dem Geist der Gemeinde!“ Das lief den herrschenden Vorstellungen in der Sozialdemokratie völlig zuwider, wo man glaubte, die kapitalistische Technik fix und fertig übernehmen und einer zentralen Planung unterwerfen zu können.
Was versteht Landauer denn eigentlich unter Anarchie? Sich mit Bullen kloppen und Steine schmeißen?
Er meinte „Anarchie im ursprünglichen Sinne: Ordnung durch Bünde der Freiwilligkeit“. Da An-Archie – also Herrschaftslosigkeit – aber bloß eine negative Formulierung ist, sprach er positiv auch von „Sozialismus“. Anders sei Herrschaftslosigkeit auf gesellschaftlicher Ebene nicht möglich. Weil der Begriff von unterschiedlichen Seiten beansprucht wurde, haben viele Anarchist:innen auch vom „freiheitlichen Sozialismus“ gesprochen. Landauer hingegen meinte trotzig: Ein Sozialismus, der nicht freiheitlich ist, ist gar keiner. Die ritualisierte und substanzlose Krafthuberei am 1. Mai fand er übrigens schon damals ziemlich lächerlich.
Manchmal wird Landauer von Linken kritisiert, weil er sich positiv auf Begriffe wie „Volk“, „Heimat“, „Gemeinschaft“ und „Deutschland“ bezieht. Wie gehst du damit um?
Begriffe sind immer umstritten. Die Bedeutung der genannten Vokabeln ist weder eindeutig noch ist sie ein für allemal fixiert. Es kommt auf den Zusammenhang ihrer Verwendung an. Ich glaube, auch die meisten Linken wissen das. Der Begriff des „Volks“ zum Beispiel hat eine lange demokratische Tradition. Die Nazis haben ihn rassistisch besetzt. Soll man ihre Deutungshoheit für alle Zeiten akzeptieren und sich von dieser Tradition abschneiden lassen? Landauer hat auch Positionen verteidigt, aus denen sich die von dir zitierten Linken offenbar zurückgezogen haben. Über den Begriff des „Sozialismus“ haben wir schon gesprochen.
Was macht ihr von der Landauer-Initiative eigentlich?
Wir versuchen hauptsächlich auf die Geschichte der anarchistischen Bewegung in Berlin bis 1933 hinzuweisen. Berlin war Ende des 19. Jahrhunderts der Geburtsort des Anarchismus in Deutschland. Das ist unheimlich spannend, aber kaum jemand weiß davon. Aspekte unserer Tätigkeit sind: Stadtrundgänge, Vorträge, die Digitalisierung historischer Zeitschriften und die Beratung anderer Forschender. Zum 100. Todestag Landauers haben wir eine Ausstellung erarbeitet, die seine Berliner Zeit ins Zentrum stellt. Angefangen haben wir 2015 mit einem immer noch aktuellen Projekt: Wir wollen ein Landauer-Denkmal für Berlin.
Ein Denkmal für einen Anarchisten? Ist das nicht ein Widerspruch?
Ein produktiver Widerspruch, wie wir finden. Das öffentliche Gedächtnis ist umkämpft, weil es auch etwas über die aktuellen Entwicklungsmöglichkeiten sagt. Wenn eine Bewegung darin nicht vorkommt, kann sie aus der Not eine Tugend machen und sich einreden, dass sie das gar nicht will. Wir hingegen wollen den Anarchismus ans Licht zerren. Wir finden, er verdient mehr zu sein als das exklusive Hobby einiger Geschichts-Nerds. Es geht uns also nicht nur um Landauer. Es geht uns um einen Erinnerungsort für die historische Bewegung insgesamt.
Abgesehen davon ist Landauer besonders interessant. Er eignet sich sehr gut, um in viele unterschiedliche Kontexte einzuführen, weil er in vielen aktiv war. Es gibt in Deutschland kaum demokratische Denkmäler. Solche, die in die Zukunft gerichtet sind und das Bestehende infrage stellen, indem sie an eine unabgegoltene Vergangenheit erinnern, sind mir überhaupt keine bekannt. Im besten Fall trägt das Denkmal also dazu bei, eine andere Zukunft zu ermöglichen als die, die uns aktuell blüht.
Wie ist der aktuelle Stand des Denkmal-Projekts?
Alle politischen Entscheidungen sind gefallen, und es gibt einen Standort am Mariannenplatz. Als Nächstes ist ein künstlerischer Wettbewerb erforderlich. Eine Jury wird den Entwurf küren, der dann tatsächlich realisiert werden kann. Noch in diesem Herbst starten wir eine Fundraising-Kampagne, um den Wettbewerb zu finanzieren.
Wie kann man euch unterstützen?
Es gibt viele Möglichkeiten: vom Teilen in sozialen Medien bis zur Mitarbeit in der Initiative. Wir können jede Unterstützung brauchen. Der Besuch unserer Veranstaltungen, neue Mitgliedschaften, Spenden, die Bestellung von Broschüren oder unseres Newsletters freuen uns auch. Und natürlich: Werbung für die anstehende Kampagne.
Welche Bücher empfiehlst du Menschen, die sich mit Landauer beschäftigen wollen?
Der „Aufruf zum Sozialismus“ sollte allgemein gelesen werden.
Vielen Dank.
Das Gespräch führte Johann Thun.
Weitere Informationen: www.gustav-landauer.org
Texte von Landauer: www.anarchismus.at (Suche: Landauer)