„Singen verbindet über Jahrhunderte“

Aus DER RABE RALF Oktober/November 2024, Seite 18

Die Folkband „Die Grenzgänger“ hat sich dem Upcycling deutschen Liedguts verschrieben

Die Grenzgänger kommen – auch über Nebengleise. Von links: Felix Kroll, Michael Zachcial, Annette Rettich, Frederic Drobnjak. (Foto: Angela von Brill)

„In der Heimat ist es schön / wo Invaliden betteln gehn / wo man Elend, Not und Schrecken / sucht durch Flitter zu verdecken / Tausend Polizisten stehn / in der Heimat ist es schön“, heißt es in der Parodie eines schmalzigen Heimatliedes von 1835. Wer den Text umdichtete, ist unbekannt. Die Version findet sich auf dem Album „Revolution“ der Bremer Folkband „Die Grenzgänger“. Die Gruppe ist seit über dreißig Jahren aktiv und spielt seit 2014 in der aktuellen vierköpfigen Besetzung. Fünfmal wurde sie mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Der Rabe Ralf sprach mit Sänger Michael Zachcial über rechte Hetzer, linke Ängste und die Frage, wer das „Volk“ im Volkslied ist.

Der Rabe Ralf: Michael, der Vorsitzende der AfD-Fraktion Tino Chrupalla, der wohl nicht ganz zu Unrecht auch parteiintern den Spitznamen „Pinsel“ trägt, blamierte sich in einem Interview mit einem Kinderreporter, weil er forderte, dass an deutschen Schulen mehr Volkslieder und Gedichte gelernt werden müssten, selbst aber auf Nachfrage kein einziges nennen konnte. Was würde Herr Chrupalla wohl denken, wenn er die Volkslieder kennen würde, die ihr auf euren Konzerten singt?

Michael Zachcial: Vielleicht würde er sie für Fake-News halten?

Wie würdest du „Volkslied“ in einem Satz definieren?

Das geht schwer in einem Satz. Es geht mehr um Gemeinsames als Individuelles, diese Lieder werden oft über Generationen weitergegeben und dann auch gerne umgesungen, neu angeeignet von der nächsten Generation. Wir finden darin viel Menschliches, dass uns mit anderen Menschen über Jahrhunderte verbinden kann.

Warum nennt ihr euch „Grenzgänger“? Auf welchen Grenzen geht ihr?

Zum Beispiel über solche zeitlichen Grenzen. Musikalisch gehen wir zwischen den Genres und den Generationen. Aber auch an beschränkten Sichtweisen rütteln wir gerne.

Wer ist eigentlich das „Volk“ im „Volkslied“? Muss man vor ihm Angst haben?

Den Begriff „Volkslied“ haben die Romantiker geprägt, mit einer stark idealisierten Sichtweise auf die Menschen. Das verklärt die Realität ähnlich wie das Wort von der „Industrieromantik“ angesichts verlassener Fabriken. Wenn „Volk“ wie bei der AfD „Blut und Boden“ meint, wird es gefährlich. Wenn der Begriff eher die arbeitende Bevölkerung meint, dann sollten die Respekt haben, die von deren Fleiß leben.

Ihr singt von Vagabunden und Proletariern, Verfolgten und Ausgewanderten. Die Texte stammen von Juden und Sozialisten, Anarchisten, Kriegsgegnern und gescheiterten Revolutionären. Müsste man also nicht eher von Paria-Liedern als von Volks-Liedern sprechen?

Gar nicht so staatstragend: Hoffmann von Fallersleben, Dichter der Nationalhymne. (Bild: CD-Cover Die Grenzgänger)

Sehe ich nicht so, wir rücken da mehr einen falschen Begriff zurecht. Wir singen ja auch von Kindern, Krankenschwestern und Lehrern und haben ein ganzes Album gemacht mit Liedern von Hoffmann von Fallersleben im „O-Ton“!

Heute beruft sich vor allem die politische Rechte auf „das Volk“ und ruft zur Verteidigung der deutschen Kultur und Heimat auf. Wenn man nachfragt, was darunter zu verstehen ist, geht es entweder um Goethe und Grundgesetz oder um Bratwurst und Mülltrennung. Schon der freiheitliche Sozialist Gustav Landauer spottete Anfang des letzten Jahrhunderts: „Man komme nicht mit gewissen Erzeugnissen, die noch heimatlichen Charakter bewahrt haben: Nürnberger Lebkuchen, Westfälischen Schinken und dergleichen. Traurig und elend genug, daß man nicht mehr viel finden kann, wenn man Heimaterzeugnisse aufzählen will.“ Für Landauer war klar, dass Begriffe wie „Volk“ und „Heimat“ nichts mit staatlichen Grenzen und Nationalismus zu tun haben, sondern mit einer „Verbindung zwischen den Menschen, die tatsächlich da ist“. Ist das Volkslied ein Ausdruck dieser Verbindung?

Ja!

Warum denkt man in Deutschland beim „Volkslied“ trotzdem immer an dumpfe Heimatseligkeit oder kitschige Schlager mit Tendenz zur Marschmusik?

Das gibt es ja eben auch. Kitsch, Dumpfheit und Gewalt. Das gibt es aber auch im Rap und im Hardrock.

Im Vergleich zu anderen Ländern gibt es hierzulande nur eine schwach ausgebildete Volksliedtradition. Das war nicht immer so. Warum hat es einen Bruch gegeben? Eine Spätfolge des ideologischen Missbrauches durch politische Machthaber?

Das fing wie schon erwähnt bei den Romantikern an: „Des Knaben Wunderhorn“ hätte doch auch „Des Kindes Wunderhorn“ heißen können. Darin 2000 Gedichte, die meisten davon umgeschrieben und aus dem Zusammenhang gerissen. Dann die erste deutsche Wiedervereinigung 1871 mit „Blut und Eisen“ unter Bismarck, Blütezeit des kaisertreuen „Volksliedes“. Aber es gab eben immer auch das subversiv witzige, mutig fragende, seine Zeit herausfordernde, nach Menschlichkeit verlangende Lied.

Peter Rohland, Zupfgeigenhansel, Fasia Jansen … in Deutschland hat es auch nach 1945 Sängerinnen und Sänger gegeben, die aufmüpfige und rebellische Volkslieder gesungen haben. Begreift ihr euch als Teil dieser Szene?

Sie gingen uns voran, wir prüfen, verändern, erweitern, so wie das die nächste Generation auch tun wird. Es hat zu allen Zeiten Leute gegeben, die das Feuer gehütet haben. Darum geht es: Weitergabe des Feuers, nicht Anbetung der Asche.

Ihr spielt auch Lieder von Autoren mit zweifelhafter Ideologie – ohne euch mit dieser Gesinnung gemein zu machen. Wie geht das? Sind Lied und Autor immer trennbar?

Natürlich nicht, aber manchmal gelingt auch einem Bösewicht etwas Menschliches, wir waren alle mal unschuldige Kinder.

Michael Zachcial (links) und Felix Kroll. (Foto: Bing-Hong Hsiao)

Die Grenzgänger wurden 1989 in Bremen gegründet. Seit 2014 spielt ihr in der heutigen Formation. Ihr habt über ein Dutzend Platten gemacht und fünfmal den Preis der deutschen Schallplattenkritik bekommen. Die Ideen und die Lieder scheinen euch nie auszugehen. Wie macht ihr das?

Das Leben ist voller Geschichten, und es gibt so viele alte Lieder, die heute noch Herz und Verstand berühren können. Ein bisschen wie „Upcycling“ anstatt neu kaufen.

„Weh dem Lande, wo man nicht mehr singet“, sagte Johann Gottfried Seume. Wie kann man jungen Menschen wieder Lust auf Volkslieder machen, ohne zum Chrupalla zu werden?

Singen verbindet, das meint Seume. Chrupalla will wohl eher singen, um auszugrenzen.

Ihr habt Texte von Friedrich Hölderlin, Georg Herwegh und Karl Marx vertont, allesamt Kritiker der deutschen Verhältnisse und Vertreter eines „anderen Deutschland“. Auch im Volkslied wird „das Vaterland“ mal als falsche, repressive Idylle gegeißelt, mal sehnsüchtig vermisst oder utopisch eingefordert. Von heutigen Linken wird der positive Bezug auf Deutschland kategorisch abgelehnt, weil er immer auf Ausgrenzung beruht und historisch nur Unglück gebracht hat. Ist das ein Fehler?

Auch der Sozialismus ist ja später in eine Phase getreten, wo er „auf Ausgrenzung beruht und Unglück gebracht hat“. Alles Gute in seiner Zeit kann sich ins Gegenteil verkehren. Es gibt Lieder, es gibt uns, die Bevölkerung. Lasst uns tanzen und singen!

„Daß aber uns das Vaterland nicht werde / Zum kleinen Raum“, heißt es in einem späten Hölderlin-Fragment. Kann uns das Volkslied dabei helfen?

Nicht „das Volkslied“, aber viele aus diesem Genre. Mir fallen ganz viele ein, die wir spielen!

Muss ein gutes Volkslied immer eingängig und einfach sein? In eurer Musik merkt man, dass einige von euch aus dem Jazz und der Klassik kommen. Langweilt euch die schlichte Instrumentalisierung des Volksliedes nicht manchmal? Oder muss jeder sein Können in die Soli auslagern?

Wieso muss ein Volkslied schlicht sein? Die Menschen und ihre Verhältnisse sind es doch auch nicht. Wir spielen die Lieder so, wie wir sie heute sehen und empfinden und begreifen. Tief, vielschichtig, so wie das Leben.

In eurer Version von Schillers „Ode an die Freude“ heißt es statt „Alle Menschen werden Brüder“ hintersinnig „Alle Brüder werden Menschen“. Andere sprechen von „Geschwisterlichkeit“. Wie eng muss man sich an den überlieferten Text halten? Muss im Volkslied nun auch gegendert werden?

Im „Volkslied“ wird immer umgesungen. Der bekannte Volksliedforscher Wolfgang Steinitz sieht darin das eigentliche Wesen des Volksliedes und in diesem Prozess der Weiter- und Umdichtens selbst etwas hoch Demokratisches.

Erzählt uns bitte noch von eurem „Grenzgänger-Netzwerk“. Wie kann man euch unterstützen? Wie man hört, habt ihr ein großes Volkslied-Projekt vor. Worum geht es?

Es geht um die Lieder aus den Büchern von Wolfgang Steinitz. Eine Sammlung demokratischer Volkslieder aus sechs Jahrhunderten, die er vor siebzig Jahren veröffentlicht hat und von denen wir glauben, dass insbesondere die junge Generation sie kennen sollte. Steinitz stammte aus einer jüdischen Familie, er war Kommunist, floh vor den Faschisten, baute die DDR mit auf und trug dreihundert Lieder zusammen, die alle vom Kampf für ein besseres Land, eine bessere Welt erzählen, von Menschenrechten und Freiheit. Volkslieder. Da Spotify und Co so schlecht zahlen, stellen wir alles auf unsere Internetseite und laden ein, uns mit einer Spende oder einem kleinen Abo zu unterstützen. In zehn Jahren sind wir fertig mit der Arbeit!

Vielen Dank!

Das Gespräch führte Johann Thun. 

Die Grenzgänger stellen nicht nur ihr Steinitz-Projekt online, ihre gesamte Diskografie kann hier angehört werden: www.musikvonwelt.de

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