Platzparks statt Parkplätze

Aus DER RABE RALF Dezember 2021/Januar 2022, Seite 18/19

Gerechte Mobilität in Berlin braucht Umwandlung von Parkflächen

In Berlin ist der öffentliche Raum nicht fair verteilt. (Foto: Gunnar Ridderström/​Unsplash)

In der Verkehrspolitik ist in den letzten Jahren viel passiert. Das Berliner Mobilitätsgesetz wurde verabschiedet. Es zielt auf ein Verkehrssystem, das die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen stadt-, umwelt-, sozial- und klimaverträglich, sicher und barrierefrei erfüllen soll. Doch die Realität auf Berliner Straßen sieht meistens noch ganz anders aus. Die Stadt versinkt im lärmenden Autoverkehr. Die Zahl der zugelassenen Autos steigt, darunter immer mehr SUVs, die den öffentlichen Raum zuparken und ihn dadurch schleichend privatisiert haben.

Für viele scheint es dabei ein „Recht“ auf stets verfügbaren und kostenfreien Parkraum wie eine Art Naturgesetz zu geben. Niemand würde auf die Idee kommen, sein Klavier, Pferd oder Klettergerüst ungefragt auf öffentlichem Grund abzustellen, Privat-Pkws aber werden im Durchschnitt weniger als eine Stunde am Tag gefahren und parken dort die restliche Zeit als „Stehzeuge“. Sie stehen der Mobilitätswende im Weg. Deshalb muss sich die Berliner Verkehrspolitik auf Landes- und Bezirksebene in der jetzt beginnenden Legislaturperiode ernsthaft mit Flächengerechtigkeit und Parkflächenumwandlung befassen. 

Mobilitätsgerechtigkeit umfassend gedacht

Mobilitäts-Ungerechtigkeit auf vier Ebenen. (Zum Vergrößern auf das Bild klicken. Grafik: PowerShift)

Was zunächst als lokales Berliner Verkehrsproblem erscheint, wiegt umso schwerer, wenn man grundsätzlicher über Gerechtigkeitsprobleme unseres Verkehrssystems nachdenkt. Die US-Forscherin Mimi Sheller spricht von „Mobility Justice“, Mobilitätsgerechtigkeit. Sie regt an, auf mindestens vier Ebenen (siehe Grafik) über Ungleichheit und Macht im Zusammenhang mit Mobilität nachzudenken: erstens auf der Ebene zwischen einzelnen Menschen, zweitens auf der Ebene von Straßen und öffentlichen Räumen der Stadt, drittens auf Ebene der Nationalstaaten und ihrer Grenzregime sowie viertens auf globaler Ebene.

Unsere Mobilität und das bisherige Verkehrssystem sind global gesehen enorm ungerecht: Die CO₂-Emissionen und der Ressourcenhunger der Industrienationen zwingen Menschen andernorts, immer schlimmere Gesundheits- und Umweltfolgen zu ertragen. Die Klimakrise ist auf vielerlei Weise auch eine Mobilitätskrise: CO₂-Emissionen des Verkehrssystems tragen maßgeblich zur beschleunigten Erderhitzung bei. Und diese wiederum erhöht mittel- und langfristig den Druck zu Migrations- und Fluchtbewegungen.

Während die Mobilität der Profiteure des heutigen Systems unbegrenzt zu sein scheint, wird die Mobilität derer, die besonders unter den Konsequenzen leiden müssen, durch brutale Grenzregime stark beschränkt. Die Gewinnung von Erdöl oder der Abbau von Automobil-Rohstoffen wie Bauxit in Guinea oder Eisenerz in Brasilien führen zu Umweltzerstörung, Landraub und Vertreibung und kosten immer wieder Menschenleben, wie vor drei Jahren im brasilianischen Brumadinho (Rabe Ralf August 2019, S. 18). Von Klima- und Ressourcengerechtigkeit keine Spur. Die betroffenen Menschen werden in den verkehrspolitischen Entscheidungen des globalen Nordens gar nicht berücksichtigt – geschweige denn beteiligt. Dass die gleichen Menschen an den tödlichen Grenzen Europas mit Gewalt aufgehalten oder durch illegale Pushbacks ihrer Rechte beraubt werden, ist umso unwürdiger für einen Staatenbund wie die EU, die sich zu den UN-Menschenrechtskonventionen bekennt.

Diese Ungerechtigkeit beginnt dort, wo wir Verkehr planen und organisieren, wo wir öffentlichen Raum verteilen – und wo das Auto als Transportmittel immer noch klar bevorteilt wird. Dem Fuß- und Radverkehr fehlen angemessene Wege. Körperlich eingeschränkte Menschen werden an einem selbstbestimmten Leben gehindert und sind angesichts mangelnder Barrierefreiheit häufig aufs Auto angewiesen. Kinder, ältere Menschen und diejenigen, die sich um sie kümmern, werden in der Verkehrsplanung nicht ausreichend berücksichtigt. Das Ergebnis: Zu wenige Orte zum Verweilen oder Durchschnaufen, zum Beispiel auf dem Fußweg zum Arzt. Zugeparkte Gehsteige, die den Schulweg zum lebensgefährlichen Hindernisparcours machen. Gesundheitsschädlicher Lärm und Luftverschmutzung. Benachteiligt werden auch die zwei Drittel der Berliner Bevölkerung, die gar kein Auto besitzen, sei es aus Überzeugung oder weil das Einkommen dafür nicht reicht. 

Lokale Maßnahmen auf allen Ebenen

Auf den motorisierten Individualverkehr (MIV) entfallen nur etwa 25 Prozent aller Wege des gesamten Verkehrs in Berlin. Der Umweltverbund, bestehend aus Fußverkehr, Radverkehr und ÖPNV, hat einen Anteil von rund 75 Prozent. Eine sozial gerechte Verkehrspolitik kann deshalb nicht aus der „Windschutzscheiben-Perspektive“, für das Auto, gemacht werden.

Zukunftsfähige, gerechte Mobilität für alle heißt vielmehr: Alle Menschen können mit so wenig Verkehrsaufwand wie möglich am gesellschaftlichen Leben teilhaben und ihre Mobilitätsbedürfnisse erfüllen. Sie können auf umweltverträgliche und sichere, gesunde, sozial gerechte Art ihre Ziele erreichen. Ob zur Arbeit, zur Bildungsstätte, zum Einkaufsort oder zur Freizeiteinrichtung – schon heute lässt sich die Erreichbarkeit nicht sinnvoll mit privaten Pkws organisieren. Wir brauchen mehr (Flächen-)Gerechtigkeit im öffentlichen Raum und eine Mobilitätswende. Dazu gehört eine konsequente Parkraumpolitik, die dem „ruhenden Autoverkehr“ Flächen entzieht, gerecht umverteilt und für Menschen nutzbar macht.

Folgende Gründe sprechen dafür:

Soziale Gerechtigkeit  

Ein zukunftsfähiges Verkehrssystem und lebenswerte öffentliche Räume sind ein Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit, denn sie erlauben gesellschaftliche Teilhabe für alle. Gerade Menschen mit wenig Geld haben oft kein eigenes Auto, wohnen aber viel häufiger als Menschen mit hohen Einkommen an lauten und schadstoffbelasteten Straßen, wo ihre Gesundheit stärker gefährdet ist. Sie leiden also besonders unter den Folgen des Autoverkehrs und profitieren am meisten von guter Rad- und Fußinfrastruktur und von günstigen oder kostenlosen ÖPNV-Angeboten. Eine Umverteilung von Verkehrsflächen zugunsten des Umweltverbundes macht Mobilität sozial gerechter. Hier wird deutlich, wie eng Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit miteinander verknüpft sind, gerade in Metropolen wie Berlin.

Flächengerechtigkeit  

58 Prozent der Verkehrsflächen in Berlin sind für Autos reserviert, davon 19 Prozentpunkte für parkende Fahrzeuge. Für den Radverkehr blieben bis 2019 nur drei Prozent der Flächen übrig, seitdem ist nicht allzu viel passiert. Das ist ungerecht. Ein Parkplatz nimmt etwa zwölf Quadratmeter ein – viele Kinderzimmer sind kleiner. Und obwohl die Baukosten bis zu 10.000 Euro betragen können, ist Parken oft kostenlos. Auch die jährlichen Unterhaltungskosten werden von der Allgemeinheit getragen. Anwohnerparkausweise kosten bislang nur 20,40 Euro für zwei Jahre. Damit geben wir dem Auto als meist ungenutztem Privateigentum mehr Raum als unseren Kindern und verschenken kostbare öffentliche Fläche.

Klimagerechtigkeit  

Die Klimakrise zwingt uns zu entschlossenem Klimaschutz. Die Klimawissenschaft und die weltweite Klimaschutz-Bewegung fordern dies seit Langem. Im Frühjahr 2021 urteilte auch das Bundesverfassungsgericht, dass rascher, entschlossener Klimaschutz unvermeidlich ist, um Freiheit und Grundrechte in der Zukunft zu bewahren.

Auch Berlin hat sich zum Klimaschutz verpflichtet – auf den Berliner Straßen und Parkplätzen ist davon aber noch fast nichts angekommen. Die Stärkung des Fuß- und Radverkehrs senkt den Ausstoß von Treibhausgasen und Luftschadstoffen, vermindert den Lärm und die Flächeninanspruchnahme. Doch bisher praktizieren wir noch das Gegenteil: Die Klimagas-Emissionen des Verkehrs stiegen bis zur Corona-Pandemie stetig an. Das widerspricht dem Pariser Klimaabkommen und den Reduktionszielen der Bundesregierung und des Landes Berlin. Deshalb muss die Fortschreibung des Berliner Mobilitätsgesetzes eine Verringerung des Autoverkehrs vorsehen und dazu klare Zielvorgaben, Termine und konkrete Maßnahmen formulieren.

Ressourcengerechtigkeit 

In allen Autos – ganz gleich ob Diesel-, Benzin- oder Elektrofahrzeug – stecken wertvolle Rohstoffe wie Stahl, Aluminium, Kupfer, Nickel, Lithium, Kobalt oder Seltene Erden. Sie werden häufig unter katastrophalen ökologischen und menschenrechtlichen Bedingungen in Entwicklungsländern gewonnen (Rabe Ralf Dezember 2018, S. 16). Der überdimensionierte Berliner Auto-Fuhrpark trägt so allein schon durch seinen Ressourcenverbrauch zur weltweiten Ungerechtigkeit bei.

Deshalb ist ein Austausch des Antriebssystems – vom Verbrennungs- zum Elektromotor – allein keine Lösung. Wir brauchen eine wirkliche Mobilitätswende mit viel weniger Autos. Das bedeutet den Umstieg vom Auto auf den Umweltverbund, der durch neue Mobilitätsdienste, wie zum Beispiel Sharing- und Pooling-Angebote ergänzt wird. Die wenigen verbleibenden Fahrzeuge müssen möglichst klein, rohstoff- und energieeffizient sein und geteilt werden. Gute Parkraumpolitik verdrängt das Auto aus der Innenstadt und hilft darüber hinaus, den Fahrzeugpark zu verkleinern. Das wäre ein konkreter lokaler Beitrag zu globaler Gerechtigkeit. 

Das Bündnis „Berliner Straßen für alle“ vereint 15 Umwelt- und Verkehrsverbände. (Foto: PowerShift)

Parkraumumwandlung ist effektiv und machbar

Im Luftreinhalteplan des Berliner Senats wird die Parkraumbewirtschaftung als eine der wirksamsten Maßnahmen zur Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs, für bessere Luftqualität, für mehr Klimaschutz, Verkehrssicherheit und Lärmschutz genannt. Trotzdem ist hier in der vergangenen Legislaturperiode viel zu wenig passiert. Das muss sich ändern. Das Bündnis „Berliner Straßen für alle“ fordert eine Umwandlung von berlinweit 60.000 Parkplätzen pro Jahr. Wollen wir dem Klimawandel aktiv entgegenwirken, Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen in anderen Teilen der Welt verhindern und unsere Stadt lebenswerter und sozial gerechter gestalten, kommen wir um Parkraumumwandlung nicht herum.

Stellen Sie sich vor: öffentliche Plätze und Straßen, an denen Kinder spielen und Menschen jeden Alters und unabhängig von körperlichen Einschränkungen verweilen können. Mehr Orte, an denen Leute aus der Nachbarschaft ins Gespräch kommen – ungestört von Autolärm und verschmutzter Luft. Eine Stadt, in der sich Jung und Alt auf dem Fahrrad sicher bewegen kann, in der ein gut ausgebauter ÖPNV die bessere Alternative ist und in der es mehr Platz gibt für Menschen, Tiere und Pflanzen. Das wär doch was, oder?

Hendrik Schnittker, Peter Fuchs  

Im Bündnis „Berliner Straßen für alle“ haben sich zusammengeschlossen: PowerShift, ADFC Berlin, Changing Cities, VCD Nordost, Greenpeace Berlin, Naturfreunde Berlin, BUND Berlin, FUSS e.V., Berlin 21, Grüne Liga Berlin, Institut für Urbane Mobilität, Schöne Städte e.V., Stadt für Menschen, Parkplatztransform, Pro Bahn 

Weitere Informationen: www.berliner-strassen-fuer-alle.de

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