Wirtschaft als sozialer Prozess

Aus DER RABE RALF Dezember 2022/Januar 2023, Seite 18

Eine demokratisch gestaltete Ökonomie kann ohne Wachstum auskommen

Bei der Kooperative Cecosesola in Venezuela entscheiden alle gemeinsam über Gemüsemärkte, Gesundheitszentrum und Bestattunginstitut. Für das Modell erhielt Cecosesola nun den Alternativen Nobelpreis. (Foto: cecosesola.org)

Mit „Postwachstum“ ist ein Zustand gemeint, in dem die Wirtschaft nicht mehr wächst. Der folgende Artikel erschien als Diskussionsbeitrag in der Reihe „Postwachstum und Kapitalismus – ein Widerspruch?“ im „Postwachstumsblog“ des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung. Den Aufschlag machte dort Andreas Exner mit dem Beitrag „Postwachstum braucht Solidarische Ökonomien“. Der Ökologe und kritische Gewerkschafter begründete, warum Geld und Marktwirtschaft zurückgedrängt werden müssen. Unsere Autorin ergänzt dies aus feministischer Perspektive. Ihr Text wurde für den Raben Ralf sprachlich überarbeitet.

Es ist vorbei. Die guten Zeiten, die nie für alle gut waren, und der geraubte Wohlstand – auch „imperiale Lebensweise“ genannt – neigen sich dem Ende zu. Dies zeichnete sich schon lange ab. Der Club of Rome veröffentlichte vor 50 Jahren seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“. Nun warnt er im diesjährigen Bericht „Earth for All“ erneut und stellt zwei mögliche Szenarien gegenüber: Das Szenario „Zu wenig, zu spät“ würde zu noch mehr Ungleichheit, sozialen Spannungen und einem globalen Temperaturanstieg um weit mehr als zwei Grad führen, mit verheerenden Auswirkungen. Um dies zu vermeiden, sei ein anderes Szenario erforderlich, ein sofortiger „Riesensprung“: Abschaffung von Armut und Ungleichheit, Ermächtigung von Frauen, Aufbau eines gesunden Nahrungsmittelsystems und Nutzung sauberer Energien.

Zukunftsforscher Jørgen Randers, der damals und heute die Studien mitverfasste, hält das „Zu wenig, zu spät“-Szenario für realistischer. Trotzdem, oder gerade deswegen, ruft „Earth for All“ zur Neuprogrammierung der Wirtschaft auf.

Kapitalismus und Patriarchat

Auch mir fällt es immer schwerer, mir einen Wandel zum Besseren vorzustellen. Vorschläge, was sich ändern müsste, gibt es immer wieder, aber wie können sie Realität werden? Was sind die Ursachen der multiplen Krisen und Katastrophen, und welche Kräfte wären notwendig, um eine tiefgreifende Transformation anzustoßen?

Andreas Exner hat auf die strukturellen Wachstumszwänge des Kapitalismus hingewiesen. Dies möchte ich ergänzen, denn allein damit erklärt sich noch nicht die Gewalttätigkeit gegenüber Mensch und Natur, die der kapitalistischen Wirtschaftsweise kulturell eingeschrieben ist. Wie kommt es, dass Menschen bereit und in der Lage sind, sich Machtpositionen zu erkämpfen, in denen sie andere ausbeuten und unterdrücken, die Natur und damit die Lebensgrundlagen anderer (und letztlich auch ihre eigenen) zerstören? Warum setzen so viele bereitwillig ihre Kreativität und ihr Engagement darein, Waffen und militärisches Gerät zu entwickeln, das den einzigen Zweck hat, andere Menschen zu töten?

Die strukturell rücksichtslose kapitalistische Konkurrenz steht in Wechselwirkung mit mitmenschlicher Rücksichtslosigkeit, die ignorant ist gegenüber der Einbettung des Menschen in die Natur und die tendenziell anderen ihr Menschsein abspricht. Patriarchale und koloniale Macht, Herrschaft und Gewalt sind älter als der Kapitalismus. Darum ist eine andere Wirtschaft zwar notwendig, aber nicht hinreichend für eine Postwachstumsgesellschaft. Ohne eine kulturelle Verankerung grundlegend anderer Welt- und Menschenbilder, die von Gewaltfreiheit und Respekt, ja Demut gegenüber den Geheimnissen des Lebens geprägt sind, kann ich mir eine Transformation zu einem guten Leben für alle nicht vorstellen.

Technokratische Weltsicht, gefährliche Scheinlösungen

Über die Zerstörung von Menschen und Natur haben schon in den 1980er Jahren feministische Wissenschaftlerinnen wie Carolyn Merchant oder Maria Mies geforscht. Sie fanden die Ursachen dafür in patriarchalen Machtstrukturen. Fabian Scheidler hat 2021 in seinem Buch „Der Stoff, aus dem wir sind“ untersucht, wie ein mechanistisches Weltbild, das komplexe Zusammenhänge auf einfache Ursache-Wirkungs-Beziehungen reduziert, Subjektivität abwertet und sie dem vermeintlich höherwertigen objektiv Messbaren unterordnet, zur Entfremdung vom Lebendigen und damit zu dessen Zerstörung führt.

Profitstreben, patriarchale Anmaßung und kalte Rationalität wirken zusammen bei der Ausplünderung von Bodenschätzen und beim Wasserraub, ebenso bei gentechnischen Eingriffen ins Erbgut, Klimamanipulationen durch Geo-Engineering oder der Vermüllung des Weltalls mit zigtausenden Satelliten. In letzter Konsequenz führt das technokratische Weltverständnis in den Transhumanismus, der mit dem Verschmelzen von Mensch und Maschine auch noch die letzte natürliche Lebendigkeit zerstört.

Der wissenschaftlich verbrämte Glaube an eine unbegrenzte technische Machbarkeit bringt gefährliche Klimascheinlösungen hervor, die von der Finanzindustrie im eigenen Profitinteresse politisch vermarktet werden. Die ökologischen Verheißungen der Digitalisierung – die von den Anfängen bis heute auch eine große militärische Bedeutung hat – sind typische Scheinlösungen.

Wirtschaft demokratisieren

Eine andere Wirtschaftsweise wird andere Technologien brauchen, die anderen Logiken folgen. Ivan Illich (1926-2002) prägte den Begriff „konvivial“ für eine Gesellschaft, „die ihren Werkzeugen (dies können Techniken, aber auch Institutionen sein) vernünftige Wachstumsbegrenzungen auferlegt“. Da der kapitalistischen Wirtschaft der Wachstumszwang eingeschrieben ist, was durch die Finanzmärkte noch verstärkt wird, lässt sich diese herrschende Ökonomie – die meines Erachtens ein verbrecherisches und rassistisches System ist – weder einbetten noch bändigen. Übermächtige Wirtschaftsakteure und Vermögensmassen haben keine Existenzberechtigung.

Nachhaltiges Wirtschaften braucht grundlegend andere Funktionsprinzipien, vor allem eine umfassende Demokratisierung wirtschaftlicher Prozesse. Wie diese vonstattengeht, können nur die jeweils Handelnden entscheiden. Wünschenswert wäre eine Regionalisierung durch behutsame Deglobalisierung von unten (anstelle der jetzigen erzwungenen zerstörerischen Deglobalisierung von oben) und der weltweit verstärkte Aufbau eigenständiger Versorgungsstrukturen. Insofern stimme ich Andreas Exner zu, dass die gesellschaftliche Reproduktion der Ausgangspunkt sein müsste. Eine wichtige Rolle spielt darin die „Solidarische Care-Ökonomie“, wie sie Gabriele Winker in ihrem gleichnamigen Buch beschreibt. Jedoch kann ich mir nur schwer vorstellen, dass sich der machtvolle und waffenstarrende kapitalistische Sektor kampflos austrocknen ließe.

Fragend voran

Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf und sehe eine Vielfalt an Alternativen. Ob mit oder ohne Planwirtschaft, Äquivalenttausch, Geld oder Markt – das halte ich für nachrangig gegenüber der demokratischen Selbstorganisation, die das Wirtschaften als sozialen Prozess begreift, in dem die Arbeit und die Würde der Arbeitenden eine bedeutende Stellung einnehmen. Schon heute gibt es weltweit vielfältige Keimformen zukünftigen Wirtschaftens – von meist kleinteiliger gemeinschaftlicher wirtschaftlicher Selbsthilfe, die Luis Razeto als „Solidarische Ökonomie“ beschrieben hat, bis zu großflächiger gesellschaftlicher Grundversorgung für alle, beispielsweise in den „Transformative Cities“-Initiativen. Wenn es eine gute Zukunft geben sollte, wird wohl die öffentliche (nicht staatliche!) Versorgung durch demokratisch gesteuerte Unternehmen die wichtigste Rolle spielen, im Sinne der „Foundational Economy“, was so viel wie Alltagsökonomie bedeutet. Untrennbar damit verbunden sind die Kämpfe gegen Privatisierung und Sozialabbau durch Streiks, Besetzungen oder Blockaden, die für mich ebenfalls zur Solidarischen Ökonomie gehören – genauso wie eine globale Perspektive.

In diesen Überlegungen aus privilegierter Perspektive versuche ich, auf die Behauptung von Alternativlosigkeit zu verzichten, und denke die Möglichkeit mit, dass ich mich irre. Dem zapatistischen „Fragend voran“ fühle ich mich ebenso verbunden wie einem „Feminismus für die 99 %“ – auch dieses Buch von Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser ist sehr lesenswert.

Elisabeth Voß

Zum Weiterlesen:

Andreas Exner u.a.: Postwachstum und Kapitalismus: Ein Widerspruch? Blog Postwachstum, Berlin 2022, www.postwachstum.de/tag/powakap

Elisabeth Voß: Nachhaltig Wirtschaften – aber wie? (Teil 1-5, Rabe Ralf Dezember 2020 bis Oktober 2021)

Wegweiser Solidarische Ökonomie: Anders Wirtschaften ist möglich! (Neuauflage), AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2015

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