Rezensionen

Aus DER RABE RALF August/September 2024, Seiten 22/23, 26/27

Climate Fiction

Wüstenplaneten, gewaltige Fluten und der ganz gewöhnliche Weltuntergang – Annäherung an ein Genre

Vor nicht allzu langer Zeit war eine Verfilmung von Frank Herberts Roman „Dune“ („Der Wüstenplanet“) im Kino zu sehen. Der Film wurde als klassischer Science-Fiction-Film beworben und die vielleicht aktuellste Ebene der Romanvorlage, die Klimafrage, wurde nicht weiter thematisiert. Dabei gilt der Dune-Zyklus als ein wichtiger Vorläufer für das, was man mittlerweile als Climate Fiction bezeichnet.

Von Jules Verne bis „Mad Max“

Etwa im Jahr 2007 tauchte erstmals der Begriff „Climate Fiction“ als Bezeichnung für ein eigenständiges Genre auf. Als Namensgeber wird dabei häufig der US-Journalist und Aktivist Dan Bloom angegeben. Es dauerte dann aber ein paar Jahre, bis sich der Begriff durchsetzte.

Die Klimakrise oder ein extremer Klimawandel finden sich als Themen in der Science-Fiction-Literatur natürlich schon früher – bis hin zu den Romanen und Erzählungen des französischen Schriftstellers Jules Verne („Der Schuss am Kilimandscharo“, 1889). Auch die Science-Fiction-Filme der 1970er und frühen 1980er schlachteten das Thema bereits mehrfach aus. Die hier dargestellte Welt gleicht häufig einer dystopischen, zerstörten Landschaft, die ihren radikalsten Ausdruck in den „Mad Max“-Filmen fand.

Als ein weiterer Vorläufer oder als verwandtes Genre kann Ecofiction angesehen werden. Diese „Öko-Fiction“ war geprägt durch Romane wie „Das Wort für Welt ist Wald“ (1972) von Ursula Le Guin (Rabe Ralf Februar 2022, S. 20). Das Genre ist breiter aufgestellt und hat auch heute nicht allein den Klimawandel und seine Auswirkungen im Blick. Daher gilt es als ein eigenständiges kulturelles Genre.

Katastrophen, Krieg, Apokalypse

Folgt man der Überlegung des französischen Philosophen Guy Lardreau, dass Science Fiction eine „denkende Literaturgattung“ ist und man sie als Modell nutzen kann, um mögliche Zukünfte in Form von Gedankenexperimenten zu durchdenken, ist diese Literatur von besonderem Interesse, gerade in Bezug auf den Wandel von Gesellschaften. Sind doch die drohenden gesellschaftlichen Veränderungen bei Nichteinhaltung von bestimmten Grenzen mittlerweile auch jenseits von Science-Fiction-Vorstellungen absehbar.

In einer Zeit, in der rasche Klimaverschiebungen nicht länger graue Theorie bleiben und extreme Wetterbedingungen keine Jahrhundertereignisse mehr sind, wird Climate Fiction für viele Leser:innen und Autor:innen interessanter. Grob fallen unter diese Kategorie Romane und Erzählungen, die Klimaänderungen unter den folgenden Aspekten beleuchten: als (Natur-)Katastrophenromane, als gesellschaftliche Dystopien, als Kriegsgeschichten, die sich aus den veränderten Rahmenbedingungen ergeben, oder als apokalyptische Szenarien.

Im Grunde genommen läuft es immer wieder auf eine ähnliche, negative Darstellung der Zukunft hinaus. Die Frage, inwiefern menschliches Handeln die Krise verursacht, wird häufig ausgeklammert. Stattdessen beleuchten die Autorinnen und Autoren je nach Couleur entweder das Bedrohungsszenario als solches oder dessen gesellschaftliche Auswirkungen.

Unterhaltsamer Untergang

In meist sehr dunklen Farben und apokalyptischen Szenarien wird uns in den meisten Romanen und Erzählungen dieses Genres eine Welt vorgeführt, in der Nahrungsmittel und Energieressourcen knapp sind, während gleichzeitig Naturkatastrophen zunehmen – von extremen Dürren bis zu gewaltigen Fluten. Die beschriebenen Auswirkungen werden dann ebenso pessimistisch dargestellt – Konflikte, Krieg und häufig tyrannisch-autoritäre Staatssysteme. Lichtblicke, die zum Beispiel von einer inmitten der Krisen zum Altruismus neigenden Gesellschaft erzählen, sucht man fast vergeblich. Eher noch finden sich transhumanistisch orientierte Geschichten oder Märchen von einer technischen Lösung oder Bewältigung der Krise. Wie generell der Science Fiction fehlt es auch der Climate Fiction an utopischen Vorstellungen.

So sehr sich dieses Genre einer zunehmenden Beliebtheit erfreut – und mit Filmen wie „The Day After Tomorrow“ (2004) schon erfolgreiche Mainstream-Blockbuster hervorgebracht hat –, so erstaunlich ist es, dass Climate Fiction nach wie vor kaum als Warnung wahrgenommen wird, sondern vorrangig der Unterhaltung dient. Bislang gelingt es vielen Menschen offenbar problemlos, die fiktionale Ebene und die Realität voneinander zu trennen, auch wenn bereits Anzeichen einer Überschneidung sichtbar sind.

Wenige Ausnahmen

Es gibt aber auch ein paar Ausnahmen, die einen anderen Zugang wählen – und damit vielleicht schon eher der populärwissenschaftlichen Literatur als der Science Fiction zuzurechnen sind. Ein gutes Beispiel ist „Alice, der Klimawandel und die Katze Zeta“ von Margret Boysen, ein an dem beliebten Buch „Alice im Wunderland“ orientierter Roman, aber kein Kinderbuch. Die Geschichte ist eher im klassischen Märchenstil gehalten als im traditionellen Science-Fiction-Stil und versucht in dieser Form, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Klimakrise allgemeinverständlich darzustellen – ohne in ein apokalyptisches Szenario abzudriften. Unterschiedliche Zugänge und Ansätze zur Klimadiskussion werden aufgegriffen.

Mehr über Climate Fiction zu wissen, könnte dennoch Klimaaktivist:innen helfen, popkulturell aufgeladene Bilder zur Untermalung ihrer Argumente zu nutzen – und auch die Geschichten als solche: als Modelle für eine in einer akuten Krise steckende Welt.

Übrigens enthält der Eintrag „Climate Fiction“ in der englischsprachigen Wikipedia eine umfangreiche Literaturliste mit vielen lesenswerten Titeln. Von einigen gibt es auch Übersetzungen ins Deutsche.

Maurice Schuhmann


Immer zusammen – nie allein

Ein Film und ein Buch rufen zur solidarischen Kooperation auf – auch bei politischen Differenzen

„Genug ist Genug“, stand auf den Plakaten und Transparenten, die an den Wänden des Kulturzentrums Oyoun in Berlin-Neukölln hingen. Es war eine Mut machende Veranstaltung im Rahmen der Teuerungsproteste im September 2022 in Berlin. In kurzen Ansprachen erklärten GewerkschafterInnen, Klimabewegte, MigrantInnen, Beschäftigte aus dem Krankenhaussektor und Reinigungskräfte ihre Bereitschaft, gemeinsam gegen die herrschende Politik Widerstand zu leisten. Die Veranstaltung vor fast zwei Jahren wäre wahrscheinlich schon vergessen, wenn sie nicht in den Film “Niemals allein, immer zusammen“ Eingang gefunden hätte.

In der Dokumentation begleitet die Berliner Filmemacherin Joana Georgi die fünf AktivistInnen Feline, Patricia, Quang, Simin und Zaza durch ihren politischen Alltag im Jahr 2022.

Der Film beginnt mit den Klimaprotesten, für die hier der damalige Sprecher von Fridays for Future Berlin, Quang Paasch, steht. Bei der Vorbereitung auf einen Pressetermin erzählt er nebenbei, wie er durch sein Engagement in der Klimabewegung ein politisches, antikapitalistisches Bewusstsein entwickelt hat.

Vergessene Bewegungsgeschichte

Die nächsten Szenen spielen vor allem in Neukölln und Kreuzberg. Darunter ist das antirassistische Wochenende im Oktober 2022 am Oranienplatz, mit einer Rede der bekannten US-Feministin Angela Davis als Höhepunkt. Besonders beeindruckend ist eine Szene mit zwei jungen AktivistInnen der Berliner Krankenhausbewegung, die beim Malen der Schilder darüber nachdenken, warum sie an diesem kalten Wintermorgen ihre MitschülerInnen zum Streiken motivieren wollen. Am Ende kommen die beiden zu dem Schluss, dass ihr politisches Engagement auch für sie persönlich ein Gewinn ist. Ihnen ist klar geworden, dass sie Geschichte machen und keine hilflosen Objekte mehr sind.

Mitten im Film erklingt das Lied „Brot und Rosen“, die Hymne der proletarischen Frauenbewegung. Auch als ein klares Zeichen: Feministische Kämpfe, die Bewegungen für Klimagerechtigkeit und gegen Rassismus können nur in einer antikapitalistischen Perspektive gemeinsam mit möglichst vielen Lohnabhängigen erfolgreich sein.

Der Film ist nicht glattgebügelt und gibt genügend Stoff für politische Auseinandersetzungen. So erzählt eine Protagonistin, dass sie die Sommerschule der Kommunistischen Partei Palästinas besucht hatte. Später wird der 2020 erschienene Suhrkamp-Band „Reisende der Weltrevolution“ von Brigitte Studer eingeblendet, der die Geschichte der frühen Kommunistischen Internationale behandelt. Damals wurde der Kampf der Arbeiter, der Frauen und der rassistisch Unterdrückten noch zusammen gedacht, bevor die Stalinisierung diese Entwicklung stoppte.

Heute ist diese linke Geschichte weitgehend vergessen. Umso wichtiger sind Filme wie „Niemals allein, immer zusammen“. Hier ist zu sehen, wie eine politische Basis hergestellt werden kann – als Voraussetzung dafür, dass politische Streitthemen wie die Nahostfrage sinnvoll diskutiert werden können. Es steht die Frage im Mittelpunkt, wie man, bei allen Kontroversen, zusammen für ein wichtiges gemeinsames Ziel kämpfen kann.

Klimaaktivismus im gesellschaftlichen Winter

Wie man trotz unterschiedlicher Standpunkte gemeinsam etwas durchsetzen kann, ist auch der schwarz-rote Faden des Buches „Kipppunkte“, das der langjährige österreichische Klimaaktivist Manuel Grebenjak herausgegeben hat. Auf knapp 400 Seiten wird eine Bilanz von über 15 Jahren Klimabewegung gezogen. Dabei kommen KlimaaktivistInnen aus sehr unterschiedlichen Spektren zu Wort, von Greenpeace bis „Ende Gelände“. Auch weniger bekannte Initiativen aus dem deutschsprachigen Raum wie das Klimavolksbegehren in Österreich oder der Verein Klimaschutz Schweiz werden vorgestellt. Natürlich dürfen auch die bekannten Akteure wie Fridays for Future, Letzte Generation und Extinction Rebellion nicht fehlen.

In Kurzbeiträgen stellen die AktivistInnen ihre Organisationen selbst vor. Dabei kommen fast alle Gruppen zu dem Schluss, dass nach dem klimabewegten Aufbruch von 2019 spätestens ab 2022 der „Winter der Bewegung“ eingesetzt hat. Dieser Rückzug hat verschiedene Gründe. Die Aufbruchstimmung der ersten Klimastreiks ist vorbei, dafür setzt ein Prozess der Normalisierung der Klimakrise ein. Viele Menschen wollen von immer neuen apokalyptischen Meldungen nichts mehr hören und schalten im wahrsten Sinne des Wortes ihre Kommunikationsgeräte ab.

Burnout, Rückzug, Irrwege

Die andere Ebene der Krise der Klimabewegung betrifft ihre innere Struktur. AktivistInnen ziehen sich zurück wegen scheinbarer Erfolglosigkeit, auch wegen Burnout oder anderer beruflicher Perspektiven. In dieser Situation erhalten irrationale Bewegungen Zulauf, die sich eher einen Weltuntergang als ein Ende des Kapitalismus vorstellen können. Ein Grund dafür liegt auch in manchen apokalyptischen Erzählungen von der Klimakrise.

Im Buch vertreten aber nur sehr wenige AutorInnen einen solchen Diskurs. Eine Ausnahme ist die Mitbegründerin des Netzwerks Klimaaktivismus Sara Schurmann, die schon im Titel den Ton vorgibt: „Abgrund: Wie die Klimakrise eskaliert“. In dem Beitrag werden unterschiedliche Wetterphänomene benannt, ohne zu gewichten, welche mit dem Klimawandel in Verbindung stehen und welche immer wieder vorkommende Wetterereignisse sind. Eine solche Unterscheidung ist aber nötig, um überhaupt sinnvoll über den Klimawandel diskutieren zu können.

Wie hältst du‘s mit dem Kapitalismus?

Der Verzicht auf Alarmstimmung ist auch eine Voraussetzung, um zu erkennen, dass die Klimagerechtigkeitsbewegung das kapitalgetriebene Wirtschaftssystem zum Gegner hat. Dann ist es ein konsequenter Schritt, sich mit Lohnabhängigen zu vernetzen und zu verbünden. Die Initiative „Wir fahren zusammen“, in der Fridays-for-Future-Aktive mit Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs kooperieren, wird nicht zufällig in dem Buch von ganz unterschiedlichen Gruppen als positives Vorbild hervorgehoben.

Es gäbe weitere Beispiele, etwa die Kooperation zwischen Klimabewegten und Bosch-ArbeiterInnen, die 2021 gegen die Schließung ihres Werks in München kämpften. Auch in Wolfsburg geht eine Verkehrswende-Initiative diesen Weg. Leider fanden solche Initiativen im Buch ebenso wenig Erwähnung wie der Film „Der laute Frühling“ von Johanna Schellhagen, der ebenfalls die Zusammenarbeit zwischen Klima- und ArbeiterInnenbewegung zum Thema hat (Rabe Ralf Juni 2023, S. 5).

Entbehrlich wäre das Interview mit Sven Hillenkamp gewesen. Der ehemalige Linke warnt heute die Klimabewegung sogar davor, sich antikapitalistisch aufzustellen. Stattdessen solle sie sich Verstärkung im konservativen Lager suchen, etwa mit dem Ruf nach Verteidigung der Heimat. Das ist zum Glück der einzige Text dieser Art. Ansonsten könnte der Titel des Films „Niemals allein, immer zusammen“ auch das Motto des Buches sein, das hoffentlich viele Diskussionen auslösen wird.

Peter Nowak

Niemals allein, immer zusammen
Regie: Joana Georgi
Dokumentarfilm, 90 Minuten
Deutschland 2024
seit 13. Juni im Kino

Manuel Grebenjak (Hrsg.):
Kipppunkte
Strategien im Ökosystem der Klimabewegung
Unrast-Verlag, Münster 2024
396 Seiten,
22 Euro
ISBN 978-3-89771-378-9


Verunsicherte Jugend

Eine aktuelle Studie zeigt, wie die junge Generation denkt und was sie will

Wohin die Reise einer Gesellschaft gehen könnte, lässt sich teilweise aus den Merkmalen und der Befindlichkeit der Jugend einschätzen. Auch haben junge Generationen eine andere Wahrnehmung als „die Alten“ und sind weniger von festen Vorstellungen und Routinen geprägt. Daher sind Jugendstudien spannend – und in einer aktuellen bestätigt sich einmal mehr die gesamtgesellschaftliche Lage und Stimmung: Es herrscht Pessimismus.

Diese Studie wurde von dem Jugendforscher Simon Schnetzer verfasst und herausgegeben und fachlich von Kilian Hampel und Klaus Hurrelmann begleitet. Dazu wurde eine Online-Befragung bei über 2.000 repräsentativ ausgewählten 14- bis 29-Jährigen in Deutschland durchgeführt. Sowohl die persönliche als auch die gesellschaftliche Stimmungslage wurde abgefragt. Demnach hat das Gefühl allgemeiner Überforderung zugenommen.

Krisenbedingtes Gefühl der Fremdbestimmung

Es dominieren Sorgen um die Sicherung des Wohlstands, was zu hoher politischer Unzufriedenheit und zu einem deutlichen Rechtsruck führt. Eine zentrale Aussage: „Die jungen Leute fühlen sich durch wirtschaftliche und politische Krisen stark verunsichert. Sie haben den Eindruck, in der Vergangenheit nicht gehört worden und ohne Einfluss auf wichtige Entscheidungen gewesen zu sein. Sie hatten nach ihrem eigenen Eindruck keinen Einfluss auf die Gestaltung der von Krisen geprägten Lebensbedingungen, die sie heute vorfinden. Deshalb ist es für sie nicht selbstverständlich, hierfür die Verantwortung zu übernehmen.“

Gleichwohl sind junge Menschen offenbar bereit, Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft zu übernehmen, denn 45 Prozent stimmen der Aussage zu, dass sie die Verantwortung für den Wohlstand in Deutschland tragen werden. Dies jedoch wollen sie mit stärkerer Berücksichtigung ihrer eigenen Vorstellungen tun, gerade im beruflichen Bereich. In vielen Bereichen wie Bildung, Politik und Wirtschaft erwarten sie aber Reformen, die sie selbst nicht allein erbringen könnten.

Ökologisch begründeter Verzicht ist unpopulär

Dies zeigt sich auch in ihrer Einstellung zu Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Knapp der Hälfte der Befragten bereitet der Klimawandel Sorgen, und sie meinen, dass in Deutschland nicht genug dafür getan wird. Allerdings ist nur eine Minderheit bereit, für Nachhaltigkeit auch Verzicht zu üben. Die Jungen erwarten von Politik und Wirtschaft kollektive Ansätze und strukturelle Veränderungen, weil sie hier den wirkungsvollsten Hebel für Verbesserungen sehen. Rechtspopulistische Einstellungen in der jungen Generation sind im Vergleich zu früheren Studien deutlich gewachsen.

Die Studie bietet detaillierte Eindrücke und Einschätzungen zu einem ganzen Spektrum an Themen. Deutlich wird, wie vielfältig „die“ Jugend ist.

Edgar Göll

Simon Schnetzer, Kilian Hampel, Klaus Hurrelmann:
Trendstudie Jugend in Deutschland 2024
Verantwortung für die Zukunft? Ja, aber
Datajockey Verlag, Kempten 2024
108 Seiten, 74 Euro
 


Das Gewissen der Revolution

Isaak Steinbergs Hauptwerk ist auch in nichtrevolutionären Zeiten wichtig

Auch der dogmatischste Altkommunist wird aus dem heutigen Russland keine revolutionäre Hoffnung mehr schöpfen können. Spätestens Wladimir Putin hat deutlich gemacht, dass Russlands Mission nur noch im eigenen Machterhalt und in der eigenen Machterweiterung liegt. Vom Realkommunismus konnte der heutige Alleinherrscher trotzdem etwas Wesentliches übernehmen: den Obrigkeitsstaat und den Staatsterrorismus.

Musste es zwangsläufig so kommen? War die Oktoberrevolution nichts als der Beginn eines Albtraums, der den Wunsch nach Freiheit und Gleichheit in Gräbern, Lagern und Despotismus enden ließ?

Früh gab es Stimmen, die vor dieser Entwicklung warnten. Eine der wichtigsten gehörte Isaak Steinberg, dessen Hauptwerk endlich wieder als Neudruck vorliegt.

Jura und Talmud

Isaak Nachman Steinberg wurde am 25. Juli 1818 im lettischen Daugavpils geboren. Die Stadt war damals vom Russischen Kaiserreich besetzt, heute hat sie eine überwiegend russischsprachige Bevölkerung. Steinbergs Eltern entstammten dem jüdischen Bürgertum, die Familie war gleichzeitig gläubig und liberal. Isaak besuchte das Gymnasium in Pärnu (Pernau) und studierte Jura in Moskau. Dort kam er mit der linken Partei der Sozialrevolutionäre in Kontakt und wurde bald ein eifriges Mitglied. Das zaristische Russland sah das natürlich gar nicht gern und verbannte ihn nach Deutschland.

Steinberg machte das Beste daraus und setzte sein Studium in Heidelberg fort. Seine Eltern schickten ihm einen persönlichen Talmud-Lehrer mit. Sein Name war Salman Rabinkow. Dieser beeinflusste später auch Erich Fromm. 1941 wurde er von den Nazis ermordet.

1910 wurde Steinberg beim bekannten Rechtsphilosophen Gustav Radbruch promoviert. Heute kennt man vielleicht noch die „Radbruchsche Formel“, nach der als extrem ungerecht erachteten staatlichen Normen die Rechtsnatur abzusprechen sei. Radbruch reagierte damit auf das Un-Recht des Nationalsozialismus. Steinberg sollte schon vorher mit derselben Frage konfrontiert werden.

Neben Mördern beten

Nach seiner Promotion durfte Steinberg wieder nach Russland zurückkehren. Er wurde Anwalt und gründete eine Familie. Er war weiterhin für die Sozialrevolutionäre tätig. 1917 kämpfte er erfolgreich mit der Revolution gegen die Truppen des Zaren. Die Oktoberrevolution blieb das entscheidende Ereignis seines Lebens.

In der Koalitionsregierung aus Bolschewiki und Sozialrevolutionären wurde Steinberg zum Justizminister ernannt. Er erkannte früh, was Lenin und seine Genossen im Sinn hatten, und wurde zum konsequenten Kritiker des bolschewistischen Terrors, der nun begann. Manchmal, so die Anekdote, soll er sogar mitten in den Verhandlungen gebetet haben. Der Gedanke an die Heiligkeit des Rechts blieb sein moralischer Kompass. Eine Revolution dürfe, so Steinberg, niemals hinter das Recht zurückfallen.

Angesichts der Gewaltorgien im Februar 1918 soll es zu folgendem Dialog zwischen Steinberg und Lenin gekommen sein: „Wozu haben wir überhaupt ein Volkskommissariat für Justiz? Nennen wir es doch einfach ‚Kommissariat für soziale Ausrottung‘ und kümmern wir uns nicht mehr darum!“ Lenins Antwort: „Gut formuliert, genau das soll es sein. Aber das können wir nicht sagen.“

Es gab noch einen anderen Grund, warum sich Steinberg mit den Bolschewiki überwarf: den Frieden von Brest-Litowsk. Lenin drängte im Weltkrieg darauf, einen Friedensvertrag mit den Mittelmächten zu schließen, um seine kriegsmüde Armee zu schonen und die bolschewistische Herrschaft im Land zu sichern. Er setzte sich durch. Sowjetrussland schied als Kriegsteilnehmer aus und die deutsche Oberste Heeresleitung konnte territoriale Ansprüche geltend machen. Für Steinberg war das Verrat. Er legte sein Amt als Justizminister nieder.

Die Bolschewiki konnten nun ihre Macht durch Gewalt und Terror stabilisieren. Die Rote Armee vernichtete die Kronstädter Matrosen, die maßgeblich an der Oktoberrevolution beteiligt waren, und auch die Partei der Sozialrevolutionäre wurde bald verboten. Steinberg wurde zum Feind erklärt und 1923 ausgewiesen. Sein Doktorvater Radbruch, nun Reichsjustizminister in Deutschland, half ihm im Exil Fuß zu fassen.

Verteidiger der Revolution

Im Exil, das ihn auch nach England, Australien und Nordamerika führen sollte, wurde der Publizist Steinberg der Weltöffentlichkeit als Gegner des Bolschewismus bekannt. Er korrespondierte mit Albert Einstein und Winston Churchill, mit Emma Goldman und Thomas Mann.

Steinberg sang nicht das hohe Lied der bürgerlichen Ordnung. Die Oktoberrevolution verteidigte er immer. Lenin warf er vor allem vor, ihren emanzipatorischen Kern verraten zu haben. Der Steinberg-Experte Hendrik Wallat schreibt dazu: „Es war stets sein Anliegen, der Identifikation von Russischer Revolution und Bolschewismus entgegenzuwirken und an die Alternativen in der Geschichte zu erinnern.“

Steinberg war und blieb ein Linker. Er näherte sich libertären Ideen an, ohne sich jemals als Anarchist zu definieren. Die Dringlichkeit einer konkreten Utopie wurde ihm auch angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung bewusst. Der Jude Steinberg wurde Mitbegründer der Freeland League, deren Ziel es war, eine Heimstätte für das verfolgte Volk zu finden – jenseits von Palästina. Alle Versuche scheiterten. Nach der israelischen Staatsgründung engagierte sich Steinberg, der schon vorher jede Vertreibungspolitik abgelehnt hatte, für eine binationale Konföderation zwischen Palästinensern und Juden. Auch dieser Traum ging nicht in Erfüllung. Die Folgen sind bis heute sichtbar.

Nur ein Träumer?

Wer sich mit Steinberg beschäftigt, könnte auf den Gedanken kommen, dass er eine Art idealistischer Don Quijote war, ein Träumer in einer Welt voll Gewalt. Das wäre allerdings ein Trugschluss, wie Wallat in seinen Studien nachgewiesen hat: „Steinberg verkörpert wie wenige andere eine Personalunion von politischem Theoretiker und Praktiker. Sein politisches Handeln war von festen Prinzipien geleitet, die nicht schlicht gesetzt waren, sondern reflexiv theoretisch entfaltet wurden; praktische Erfahrung hat er stets zugleich geistig verarbeitet.“

Steinberg mag auf den ersten Blick als widersprüchliche Person erscheinen: Er war gläubiger Jude und Revolutionär, ein Verteidiger des Rechtsstaats und ein Anarchist, ein in der jiddischen Kultur verwurzelter russischer Balte und ein überzeugter Kosmopolit. Wer sich mit ihm beschäftigt, wird feststellen, dass es sich hier gerade nicht um Widersprüche handelt. Tobias Grill, ein anderer Steinberg-Experte, spricht von seinem „verwurzelten Kosmopolitismus“. Eine schöne Formulierung, die genau zutrifft.

Gewichtiges Hauptwerk

Wer den heute zu Unrecht vergessenen Steinberg kennenlernen will, sollte direkt zum Hauptwerk des Autors greifen. Das Buch „Gewalt und Terror in der Revolution. Das Schicksal der Erniedrigten und Beleidigten in der russischen Revolution“ erschien 1923 im Berliner Exil zunächst auf Russisch. 1931 wurde eine erste deutsche Übersetzung gedruckt. Den größten Teil der Studie hatte Steinberg noch zwischen 1920 und 1923 in Moskau verfasst. Hier liegt das Werk eines engagierten Augenzeugen vor, der das russische Sprichwort „Er lügt wie ein Augenzeuge“ widerlegt. Minutiös zeichnet Steinberg nach, wie ein utopischer Aufbruch in Blut und Gewalt unterging. Besonders lesenswert ist das Kapitel, in dem Steinberg die Russische mit der Französischen Revolution vergleicht. Auch letztere scheiterte bekanntlich daran, dass zwar dem König, aber nicht der Macht der Kopf abgeschlagen wurde.

Man muss Gerald Grüneklee, Kopf des wunderbaren „Der Ziegelbrenner“-Versandantiquariats und Autor streitbarer Bücher (Rabe Ralf April 2024, S. 26), dafür danken, dass er dieses eminent wichtige Werk in seinem kleinen Verlag neu herausgegeben hat. Und die Aktualität? 1929 mahnte Steinberg: „Man wird die Zukunft Sowjet-Russlands nur dann würdigen können, wenn man nicht nur den offiziellen Kreml, sondern auch die unsichtbaren Katakomben vor Augen hat.“ Für Putins Regime wird das Gleiche gelten.

Johann Thun

Isaak Steinberg:
Gewalt und Terror in der Revolution
Das Schicksal der Erniedrigten und Beleidigten in der russischen Revolution
Hrsg. von Gerald Grüneklee, Nachwort von Hendrik Wallat
Anares Verlag, Bremen 2024
355 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-935716-83-3


Ein Weg zum Glück

Mit buddhistischer Lebensweisheit und Humor wieder Balance in den Alltag bringen

Zwischen unserem Alltagsstress hasten wir vom einen zum anderen. Es scheint, als würden wir ständig vom Weg zu einem glücklichen und erfüllten Leben abweichen, weil äußere Einflüsse an unserer Zeit und Energie zehren. Unsere innere Balance schwankt. Zwischen Müdigkeit, Erschöpfung und Stress ist es jedoch von großer Bedeutung, sich an etwas zu orientieren, das die Pfade zum Glück ebnet. Ein innerer Frieden ist wichtig für alle Aufgaben, die im beruflichen sowie privaten Leben bevorstehen – denn sonst trüben unsere vermeintlich negativen Emotionen unseren Blick auf die Welt.

Vom Physikstudium zum Buddhismus

Ajahn Brahm scheint seinen Weg zum eigenen Glück bereits gefunden zu haben. Er schreibt in seinem Buch „Die Kuh, die weinte“ über die uralten Weisheiten des Buddhismus, welche sich auf die Entwicklung des eigenen Geistes konzentrieren. Die Wurzeln des Buddhismus reichen mehr als 2.000 Jahre zurück nach Indien. Heute hat die Religion geschätzte 450 Millionen Anhänger auf der ganzen Welt und auch im Westen fühlen sich viele Menschen zur Spiritualität dieser Weltreligion und zu ihren Lehren hingezogen. Manchmal wird Buddhismus hier auch zur Lifestyleprodukt.

Der als Peter Betts geborene Londoner Brahm verknüpft die zeitlos gültigen Lebensweisheiten – häufig auch auf sehr britische, humorvolle Art – mit lebensnahen und modernen Themen. Bereits während seines Physik-Studiums vertiefte er sein Interesse an den buddhistischen Weisheiten und der Meditation. Ein Jahr nach dem Abschluss seines Studiums wanderte er nach Thailand aus, um sich dort gänzlich den Traditionen der Waldklöster zu widmen. Seit 32 Jahren ist er nun selbst buddhistischer Mönch, Abt – Vorsteher eines Klosters – und spiritueller Leiter der buddhistischen Gesellschaft Westaustraliens.

Andere Perspektiven gewinnen

Sein Buch unterteilt er in elf „essenzielle Begleiter des Lebens“: von Liebe und Verbindlichkeit über innere Ruhe bis hin zu Leiden und Loslassen. Die einzelnen Säulen werden in Kurzgeschichten beleuchtet, in denen Ajahn Brahm ehrlich und authentisch seine gewonnenen Lebensweisheiten teilt. Dies geschieht unter Akzeptanz aller Unebenheiten unseres Weges zum Glück. Der Autor vermittelt, wie er seine persönlichen Hindernisse annehmen und sie sogar in Positivität verwandeln konnte.

Aufgrund der Einteilung in einzelne kurze und persönliche Geschichten lässt das Buch viel Freiraum zum Nachdenken und eignet sich auch ideal für einen kurzen Rat zwischendurch oder beruhigt die Seele vor dem Schlafengehen. Keineswegs sollten die Geschichten hintereinanderweg gelesen werden – denn gut Ding will Weile haben …

Für diejenigen, die ihren Alltag ein wenig entschleunigen und vermeintlich beschwerliche Situationen aus einem neuen Blickwinkel betrachten möchten, bietet „Die Kuh, die weinte“ hervorragende Möglichkeiten, den eigenen Gedanken freien Lauf zu lassen und andere Perspektiven willkommen zu heißen.

Kaya Thielemann

Ajahn Brahm:
Die Kuh, die weinte
Buddhistische Geschichten über den Weg zum Glück
Lotos Verlag, München 2006
240 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-7787-8183-8

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