Der Wind hat sich gedreht

Aus DER RABE RALF August/September 2024, Seite 21

Domenico Lucano ist wieder Bürgermeister des kalabrischen Willkommensdorfes Riace und auch EU-Abgeordneter

Domenico Lucano Mitte Juli im EU-Parlament in Straßburg. (Foto: Screenshot/​Open)

„Immer wenn ich am Strand stand, die Füße im Wasser, und hinausschaute aufs Meer, dann hatte ich eine Gewissheit: Wer immer an unsere Tür klopft, ob es ein Elender ist, ein Flüchtling oder ein Reisender, er bedeutet die einzige Rettung für die ganze Welt, die einzige Hoffnung gegen die Gewalt der Geschichte.“ – Domenico Lucano*

Bei der Europawahl war insgesamt ein bedrückender Rechtsruck zu beobachten. Aber es gab auch Lichtblicke: Auf der Liste der italienischen Alleanza Verdi e Sinistra (Grün-Linke Allianz) wurde Domenico Lucano am 9. Juni ins EU-Parlament gewählt. Der frühere Bürgermeister des kalabrischen Bergdorfs Riace wurde weltberühmt, weil es ihm gelang, mit seiner Politik der Aufnahme von Geflüchteten sein vom Aussterben bedrohtes Dorf wiederzubeleben. Ein bescheidener Wohlstand mit Arbeitsplätzen für Einheimische und Zugereiste wurde möglich, weil es Fördergelder zur Unterstützung der Schutzsuchenden während des Asylverfahrens gab. Das Willkommensdorf Riace war ein Gegenmodell zu den menschenunwürdigen Flüchtlingslagern, zur Bereicherung an Geflüchteten durch die Mafia und zur Ausbeutung von Migranten in der Landwirtschaft.

Den Vertretern einer fremdenfeindlichen Abschreckungspolitik war das ein Dorn im Auge. Lucano wurde überwacht, als Bürgermeister abgesetzt und für fast ein Jahr aus Riace verbannt, weil ihm der Einsatz für Flüchtlinge wichtiger war als die akribische Einhaltung bürokratischer Auflagen (Rabe Ralf Dezember 2021, S. 20). In einem eindeutig politischen Prozess wurde er 2022 zu über 13 Jahren Gefängnis verurteilt (Oktober 2023, S. 20). Im Herbst 2023 wurde das Urteil aufgehoben, eine geringfügige Strafe zur Bewährung ausgesetzt (Dezember 2023, S. 19). Seither bemühte sich der von seinen Freunden Mimmo genannte ehemalige Bürgermeister, wenigstens in kleinem Umfang und mithilfe von Spenden weiterhin Geflüchtete in Riace zu unterstützen.

Die Geschichte von Riace ins EU-Parlament tragen

Am Tag der Europawahl wurde Domenico Lucano nicht nur als EU-Abgeordneter, sondern sechs Jahre nach seiner Absetzung auch erneut als Bürgermeister von Riace gewählt. Er hat immer wieder betont, dass ihm die Bürgermeisterwahl am meisten bedeutet. Ob ihm allerdings viel Zeit bleiben wird für sein Amt, ist fraglich. Denn als EU-Abgeordneter muss er ständig zwischen Brüssel und Straßburg unterwegs sein.

Dort hat er eine Mission: Im EU-Parlament möchte er vor allem die Geschichte von Riace erzählen. Im Interview mit der Zeitung Il Dubbio machte er am 25. Juni deutlich: „Heute in Brüssel zu sein, ist die Revanche der verlassenen Dörfer, der alten Gemeinschaften von Landarbeitern, die der Welt eine Lektion erteilen. Ich werde diese Hoffnung mitbringen, als die Alternative, die wir Europa anbieten.“ Am 16. Juli, dem ersten Sitzungstag des EU-Parlaments in Straßburg, betonte er gegenüber der Online-Zeitung Quotidiano.net, dass die zentralen Themen für ihn „die Menschenrechte der Schwächsten und der Migranten“ sind.

Antifaschistische Solidarität und Behördenwillkür

Mit Domenico Lucano wurden weitere fünf Mitglieder der Grün-Linken Allianz ins EU-Parlament gewählt, darunter der frühere Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, der sich bis heute für die Rechte von Geflüchteten einsetzt. Gewählt wurde auch Ilaria Salis, die im Februar 2023 in Budapest wegen angeblicher Gewalttaten gegen Teilnehmer eines rechtsextremen Aufmarschs zum „Tag der Ehre“ verhaftet worden war. Es war auch ein Akt antifaschistischer Solidarität, dass die Allianz sie zur Wahl aufstellte. Nachdem sie im Gefängnis menschenunwürdige Behandlung erleiden musste, war die Lehrerin zuletzt im Hausarrest. Als Europa-Abgeordnete wurde sie aufgrund ihrer Immunität freigelassen und konnte nach Italien zurückkehren.

Wegen der angeblichen Gewalttaten waren mehrere Personen angeklagt, auch aus Deutschland. Die 23-jährige Maja T. war Ende 2023 in Berlin verhaftet worden. Am 28. Juni wurde sie übereilt aus dem Gefängnis in Dresden nach Ungarn abgeschoben, obwohl das Bundesverfassungsgericht in einem Eilentscheid der Abschiebung widersprochen hatte. Als non-binäre Person ist sie im ungarischen Strafvollzug in besonderem Maße gefährdet. Selbst das ZDF berichtete von einem Justizkrimi. Der Vorsitzende der Linkspartei, Martin Schirdewan, der auch der europäischen Linksfraktion vorsteht, bezeichnete die Abschiebung als „offenen Angriff auf den Rechtsstaat“.

Das Bergdorf Riace in der süditalienischen Region Kalabrien wurde als „Willkommensdorf“ weltbekannt. (Foto: Elisabeth Voß)

Neues Leben trotz Klimakatastrophe?

In Riace laufen derweil die Vorbereitungen für ein Sommerkulturfestival. Eine Gruppe junger Leute hat ein Crowdfunding gestartet, mit dem ein vielfältiges Kulturprogramm und die Wiederherstellung eines zerstörten Wandgemäldes ermöglicht werden sollen. Dass sich junge Menschen engagieren und in ihrem Dorf bleiben möchten, statt auf der Suche nach Erwerbsarbeit wegzuziehen, wie es schon so viele seit Generationen getan haben, ist bemerkenswert und hoffnungsvoll.

Allerdings wird es nicht leicht werden, das Dorf am Leben zu erhalten. Die Förderprogramme für die Aufnahme von Geflüchteten wurden durch die rechte Regierung in Rom weitgehend eingestellt. Ein Fonds, aus dem es bisher Unterstützung gab, ist bald aufgebraucht, so dass unklar ist, wie es weiterhin finanziell ermöglicht werden kann, sich um die Ankommenden zu kümmern und die Werkstätten zu betreiben. Die sind ein wichtiger Teil des Willkommensmodells, weil dort Einheimische und Zugereiste zusammenarbeiten und ein bescheidenes Einkommen erzielen.

Eine Ölmühle schafft wenigstens saisonale Arbeitsplätze. Durch die anhaltende Trockenheit sind allerdings die Olivenhaine gefährdet. Die zerstörerische Landnutzung in Verbindung mit der Klimakatastrophe hat in Südeuropa schon seit vielen Jahren verheerende Auswirkungen. Aufgrund der Dürre darf Wasser nur noch zum Trinken und Waschen verwendet werden, eine Bewässerung der Gemüsegärten ist strikt untersagt. So stehen die Versuche, eine lokale Selbstversorgung und bescheidene, aber tragfähige wirtschaftliche Strukturen aufzubauen, vor vielerlei Schwierigkeiten.

Noch ist nicht absehbar, was die Wiederwahl von Mimmo Lucano als Bürgermeister und sein EU-Mandat für Riace bedeuten werden. Die Bedeutung solcher Orte des Willkommens kann jedoch nicht hoch genug geschätzt werden, angesichts der vielen Menschen, die gezwungen sind zu fliehen.

Elisabeth Voß

* in seinem Buch „Das Dorf des Willkommens“ (siehe auch Rezension der Autorin, Rabe Ralf Februar 2022, S. 23)

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