Faschismus in Genua

Aus DER RABE RALF August/September 2001, Seite 1

Von Starhawk

Ich war dabei, als die Carabinieri gegen Ende des G8-Gipfels in Genua das Zentrum der unabhängigen Medien und die Diaz-Schule stürmten. Wir hörten die Schreie, konnten aber aus Angst um unser Leben nicht aus der Tür und herunter, um zu helfen. Kurze Zeit später hatten die Polizisten auch uns gefunden, aber wir hatten Glück, weil sich gerade ein Parlamentsabgeordneter in unserem Gebäude befand; Rechtsanwälte und Medien trafen ein, die Polizei zog sich zurück.

Aber nichts konnte unsere Freunde in der Schule auf der gegenüberliegenden Straßenseite schützen. Dort waren Demonstranten und ein Teil der unabhängigen Medien untergebracht. Das Gebäude wurde von der Polizei gestürmt, die Medienleute und Demonstranten auf die Straße geschleppt und brutal geschlagen. Sie schlugen die Menschen, die, aus dem Schlaf gerissen, hilflos gestikulierten, die Hände hoben und ”Pacifisti! Pacifisti!” riefen. Die Carabinieri brachen ihnen die Knochen, schlugen ihnen die Zähne ein, die Schädel. Überall dort, wo Leute ihr Nachtlager hatten, waren Blutlachen. Als die Polizei ihre Arbeit beendet hatte, rief sie die Krankenwagen. Die ganze Nacht lang beobachteten wir, wie die Leute ins Krankenhaus gefahren wurden oder einfach nur ins Gefängnis. Viele von ihnen wurden dort mißhandelt, in Räumen, in denen Bilder von Mussolini an der Wand hingen.

Das ist alles wirklich geschehen, und zwar nicht in den 30er Jahren, sondern in der Nacht vom 21. zum 22. Juli 2001, nicht in einem Land der ”Dritten Welt”, sondern im blühenden, zivilisierten, sonnigen Italien. Die meisten Opfer waren keine Gewalttäter, sondern friedliche Demonstranten gegen ein neoliberales Wirtschaftssystem, in dem nur Geld etwas zählt – weder Menschen noch Natur.

Als ich dies drei Tage später aufschrieb, lagen die meisten der Opfer noch im Krankenhaus. Ich kann den Horror dieser Nacht nicht angemessen beschreiben, aber so entsetzlich es auch ist damit zu leben, umso schrecklicher ist, was diese Geschehnisse gleichzeitig bedeuten:

Daß die Polizei eine solche Aktion öffentlich ausführt, vor den Augen von Richtern, Abgeordneten und Medien, bedeutet, daß sie nicht erwartet, dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Es bedeutet, daß die Polizei von weiter oben, von maßgeblichen Politikern unterstützt wurde. ”La Repubblica” druckte den Bericht eines Polizisten, der bei dem Angriff dabei war. Als einige seiner Kollegen sich darüber besorgt zeigten, daß bei ihrem Einsatz die Verfassung verletzt wurde, sei ihnen gesagt worden, sie müßten sich keine Sorgen machen: ”Wir sind geschützt.”

Daß auch diese Politiker nicht erwarten, angeklagt oder aus dem Amt entlassen zu werden, bedeutet, daß sie von noch weiter oben, letztlich vom italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi persönlich, unterstützt wurden. Daß Italiener geschlagen, verletzt und unschuldig inhaftiert werden konnten, zeigt, daß die Täter nicht erwartet haben, von ihren eigenen Bürgern zur Verantwortung gezogen zu werden. Daß Ausländer verprügelt, mißhandelt und in Gefängnisse gesteckt wurden, zeigt, daß niemand erwartet hat, daß die internationale Gemeinschaft Rechenschaft verlangt. Und in der Tat, wer sollte sie zur Rechenschaft ziehen? Ein mit zweifelhaften Methoden an die Macht gekommener George Bush? Schweden, dessen Polizei beim Göteborger Gipfel auf Demonstranten geschossen hat? Kanada, wo in Quebec die ”Wall of Shame” errichtet wurde, um den Protest draußen zu halten?

Daß Berlusconi solche Aktionen unterstützen konnte, bedeutet, daß er sich internationaler Unterstützung sicher war und daß diese Übergriffe mit der wachsenden internationalen Gewalt gegenüber Globalisierungskritikern verbunden sind. Daß die italienische Regierung Polizeitaktiken von den Protesten beim Quebec-Gipfel angewendet hat, bedeutet, daß auch auf dieser Seite ein globales Netzwerk existiert. Da waren die “Wall of Shame”, der massive Einsatz von Tränengas und die Observierung der Demonstranten durch die kanadische Polizei – die Ergebnisse werden nächstes Jahr beim Gipfeltreffen in Calgary genutzt. Wie wir bei jeder Aktion lernen, lernen sie genauso.

Die italienische Regierung hat nun die Organisatoren des NGO-Zusammenschlusses Genua Social Forum im Visier. Das zeigt, was die ganze Zeit ihr Ziel war: das Anti-Globalisierungs-Netzwerk zu diskreditieren und die friedlichen und legalen Demonstranten ebenso wie die Protagonisten direkter Aktionen zu entmutigen. Der Leiter des Forums hat seinen Arbeitsplatz verloren, andere müssen um ihre Freiheit und Sicherheit fürchten.

Es ist schwierig, sich einen Überblick über die Ereignisse in Genua zu verschaffen. Wer mittendrin war, konnte kaum verstehen, was vor sich ging. So erschien plötzlich der ”Schwarze Block” der Radikalen und Gewaltbereiten mitten auf einem Platz, auf dem eigentlich eine friedliche Demonstration stattfinden sollte. Die Polizei schlug auf demonstrierende Frauen und Pazifisten ein und sprühte Tränengas, während der ”Schwarze Block” unbehelligt verschwand. – Als wir gerade im Versammlungszentrum zu Mittag aßen, flogen plötzlich Tränengasbehälter in den Speiseraum und draußen, keine 150 Meter weiter, begann eine offene Schlacht. – Gefangene berichteten, so lange mißhandelt geworden zu sein, bis sie einwilligten, ”Viva il Duce!” zu rufen. – Die Polizei gab als Grund für den Angriff auf die Schule die vermutete Anwesenheit von Gewalttätern des ”Schwarzen Blocks” an; sie hat deren wirkliches Camp jedoch nicht gestürmt, in der Nacht des Angriffs hatten die meisten die Stadt ohnehin schon verlassen.

Was das alles bedeutet? Unsere Antwort auf die Ereignisse in Genua entscheidet darüber, welcher Grad an Gewalt bei künftigen Protesten gegen Globalisierung und Neoliberalismus angewendet werden kann, ob es weitere Tote und Verletzte beim Gipfel in Calgary geben wird.

Es gibt Anzeichen dafür, daß ihre Strategie nach hinten losgehen könnte. Am Tag nach dem Überfall in Genua waren in ganz Italien 250.000 Menschen auf den Straßen. Der Druck auf den Innenminister, zurückzutreten, bringt Berlusconis Regierung in Gefahr. Überall auf der Welt gab es Proteste vor den italienischen Botschaften.

Damit die Sache nicht in Vergessenheit gerät, müssen wir den Druck aufrechterhalten, bei den Botschaften protestieren, mit Freunden oder Kollegen politisch aktiv werden, telefonieren und Briefe schreiben, um in die Öffentlichkeit zu kommen. Oder bei den lokalen Medien anfragen, warum über diese Themen nicht berichtet wird.

Jetzt sollten wir unsere Differenzen beiseite lassen und solidarisch zusammenarbeiten. Wenn dieser Grad der Repression unbeantwortet bleibt, kann in Zukunft niemand mehr sicher sein – nicht der friedlichste Demonstrant und nicht die mildeste Reformgruppe. Wenn wir jetzt nicht reagieren, wo der politische Raum noch da ist, um aktiv zu werden, wird dieser Raum bald verschwunden sein.

Machen wir weiter mit der Organisation und Mobilisierung für das nächste Mal. Unsere Angst ist ihre mächtigste Waffe. Die Tatsache, daß sie Zuflucht zu faschistischer Gewalt nehmen mußten, zeigt, daß wir eine ernstzunehmende Bedrohung für sie sind. Wir brauchen bessere Vorbereitung und bessere Netzwerke.

Starhawk ist eine der bekanntesten Vertreterinnen der unabhängigen US-amerikanischen Umweltbewegung. Sie steht dort für eine feministische, pazifistische und spirituelle Perspektive.

Mehr zu Genua und Globalisierung: www.attac-netzwerk.de

Übersetzung: Felix Kessler


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