Sei der erste Vogel

Aus DER RABE RALF August/September 2024, Seite 13

Ein Natur-Abenteuer mitten in der Stadt bietet das nächtliche „Vogellauschen auf dem Friedhof“

Vogelmodelle aus Holz in Originalgröße machen die Sache anschaulich.

Es ist kurz nach 17 Uhr an einem Freitag. Bei einer recht sommerlichen Temperatur steige ich ausgerüstet mit Schlafsack, Isomatte und vollgepacktem Rucksack in eine völlig überfüllte Tram. Ich bin auf dem Weg zu einer Aktion, die meine Sinne schärfen soll und mein Herz jetzt schon etwas schneller schlagen lässt: Heute übernachte ich auf einem Friedhof! Kein alltägliches Vorhaben, um das Wochenende einzuläuten – aber insgeheim ein Abenteuer, das meine wildesten Kindheitsträume wiederbelebt.

Mit Schlafsack und Isomatte

Es wird heute allerdings weniger darum gehen, mich zu gruseln, sondern vielmehr darum, die lebendigen und stimmgewaltigen Bewohner des Friedhofes kennenzulernen: Das Projekt „Be the first bird – Vogellauschen auf dem Friedhof“, das die Stiftung Naturschutz Berlin fördert, lädt dazu ein, bei einer Übernachtung auf dem Friedhof Sankt Elisabeth II die Gesänge der „frühen Vögel“ zu hören. Dabei kann man die verschiedenen Vögel der Stadt kennenlernen und mehr über sie, ihre Stimmen und ihre Lebensräume erfahren. Gerade auf Friedhöfen sind Vögel ziemlich ungestört: Hier ist es ruhig, es gibt viele Rückzugsmöglichkeiten und nachts ist das Gelände menschenleer. Normalerweise.

Am Eingang zum Friedhof treffe ich auf meine Abenteuer-Crew: Zwei Frauen verschiedenen Alters, die allein gekommen sind, eine dreiköpfige Familie, Vater, Mutter, Kind, eine Mama mit ihren zwei kleinen Töchtern – sowie Micha und Eike, die Veranstalter. „Toll, dass ihr da seid!“, strahlt Micha. Die beiden ausgebildeten Wald- und Wildnispädagogen haben zusammen mit Projektleiter Michael Grosch und anderen Pädagogen das Konzept entwickelt und starten heute im zweiten Jahr in die Veranstaltungsreihe. Mit Sack und Pack gehen wir vom Friedhofseingang einen breiten Weg hinunter, vorbei an Grabsteinen. Der elf Hektar große Friedhof liegt in leuchtendem Grün, Bäume und Pflanzen wuchern in voller Pracht. Wir laufen auf die Kapelle zu. Das rote Backsteingebäude, erbaut 1887, steht unter Denkmalschutz.

Hier können wir uns ein Plätzchen aussuchen: In der Kapelle, auf der überdachten Veranda oder auf der angrenzenden Wiese dürfen wir unser Nachtlager aufschlagen. Ich lege Isomatte und Schlafsack unter eine Kastanie.

Die Kohlmeise mit der Fahrradpumpe

Etwa 19 Uhr, Kennlernrunde auf der Wiese. Auf dem Friedhof lassen wir jetzt nicht nur unseren Alltag, sondern auch unsere Nachnamen hinter uns: Jeder bekommt eine Vogelkarte mit dem Steckbrief eines Singvogels, und ich werde zu Christina Nachtigall. Ob wir heute Nacht eine hören?

Micha Zaunkönig und Eike Mönchsgrasmücke erklären anhand der Karten, welche Vögel hier leben und weshalb der Friedhof ein guter Lebensraum für sie ist. Bei kleinen Spielchen prägen wir uns die Namen aller Vögel gut ein. „Zilpzalp? Den Namen habe ich vorher noch nie gehört“, sagt ein Teilnehmer. „Der heißt tatsächlich so, weil sein eingängiger Gesang genau so klingt“, erklärt Micha.

Dann haben wir etwas Zeit, allein den Vögeln zu lauschen. Dafür suchen wir uns einen ruhigen Ort zum Hinsetzen oder Hinlegen. Wer möchte, kann eine Augenbinde tragen, damit sich das Gehör fokussiert. Amseln zwitschern, Tauben gurren, ein leichter Wind bringt die Wipfel der hohen Bäume zum Rauschen. Die Stille auf dem Friedhof ist gar nicht so still! Wie klingen die Gesänge? Welche Laute finden wir besonders auffällig? Können wir sie imitieren?

Mit einem Vogelruf holt uns Micha zurück auf die Wiese. Wir sammeln unsere Eindrücke. „Ein Vogel macht immer zi-zi-bäh, zi-zi-bäh“, sagt eine Teilnehmerin. „Das ist die Kohlmeise“, sagt Eike. „Ihre Gesangspalette ist sehr breit, aber das Zi-zi-bäh ist charakteristisch für sie. Manche sagen auch, das klingt wie eine Fahrradpumpe.“

Mit Schlafsack und Isomatte – heute lieber unter einem schützenden Dach.

Was sich Vögel erzählen

Der Sicherheitsdienst beendet seinen Kontrollgang, und wir gehen alle zusammen über den Friedhof. Das Tageslicht verabschiedet sich langsam. Immer wieder bleiben wir stehen und lauschen in die Wipfel. „Da! Hört ihr es?“ Eike hebt den Zeigefinger. Zwei Amseln scheinen sich zu unterhalten. Er hält den Finger so lange oben, bis die Vögel verstummen. Sobald sie wieder anfangen, schnellt sein Zeigefinger wieder in die Luft, alle tun es ihm nach. „Am Gesang kann man nicht nur die Vogelarten erkennen – er verrät auch, was sie sich erzählen“, sagt Micha. Sie stoßen Lockrufe aus, um Artgenossen anzuziehen, warnen andere bei Gefahr oder Männchen versuchen, Weibchen zu beeindrucken.

Nützliche Eselsbrücken helfen dabei, die Gesänge zuzuordnen. Micha prägt uns den Ruf der Ringeltaube mit dem Satz ein: „Gudruuun du, hör gut zuuu, du!“ Der Buchfink stottert anhand seiner Gesangsmelodie: „Das-das-das-das-das-ist mein Baum!“ Die beiden Experten haben kleine Vogelmodelle aus Holz in Originalgröße dabei und zeigen sie, sobald wir den entsprechenden Vogel gehört haben. Denn zu Gesicht bekommen wir in der Dämmerung fast keinen. Umso beeindruckender ist ihr lautstarker Gesang. Unglaublich, was für kräftige Stimmen diese zarten Wesen haben!

20:30 Uhr. Beim Wandern über den Friedhof hören und sehen wir vor allem Amseln, die sich in der Dämmerung lautstark verständigen. Eike spricht von einem „Amselteppich, der sich über alles legt“. In der Ferne donnert es jetzt, Regentropfen fallen. Wir haben den Rundgang rechtzeitig beendet, bevor ein ausgiebiger Regenschauer losbricht. Mit dem Übernachten auf der Wiese wird es heute wohl nichts. Also breiten wir uns auf der überdachten Veranda der Kapelle aus. Eike und Micha bringen eine Feuerschale heran, wir packen unseren Proviant aus und unterhalten uns.

Ganz früh singt der Hausrotschwanz

Etwa 22 Uhr. Ich komme in einen Zustand entspannten Dösens. Die Ruhe auf dem Friedhof, die frische Luft, die Dunkelheit, das flackernde Feuer – es braucht nicht viel mehr und ich schlafe ein.

Irgendwann nachts. Die Stadt ist laut in der Ferne und von unten wirken die Bäume viel größer. Im Halbschlaf höre ich das eingängige Geräusch der S-Bahn, auch den Wind. Dann wird es wieder still und ich sinke in einen Schlaf voller lebhafter Träume.

3:45 Uhr. Es raschelt, die Tür der Kapelle knarzt, Micha und Eike sind schon auf den Beinen und kochen Tee und Kaffee für alle. In Emaille-Tassen servieren sie uns das erste Getränk des sehr frühen Morgens. In der Dunkelheit singt schon der Hausrotschwanz. Über dem Friedhof liegt eine tiefe Ruhe, in die immer wieder ein Vogel hineinruft, gefühlt ist es noch mitten in der Nacht. Das Vogelgezwitscher wird langsam mehrstimmig.

4:30 Uhr. Gemeinsam ziehen wir los, schleichen vorsichtig über die Wege, bleiben immer wieder stehen. Eike hebt wieder den Finger. Hier trällert die Amsel, da tönt das Sommergoldhähnchen, auch der Zilpzalp ist schon wieder wach und Gudruuun braucht wohl auch nicht so viel Schlaf. Eike hat wieder die kleinen Vogelmodelle dabei, und wer zuerst eine Vogelstimme wiedererkannt hat, bekommt das entsprechende Modell überreicht. Immer mehr Vögel fallen in das morgendliche Getöne ein, fasziniert lauschen wir jeder Vogelstimme hinterher. Am Ende zeigen die Modelle, wie vielfältig das Konzert war: Neben Amsel und Taube begegneten uns Buchfink, Zilpzalp, Mönchsgrasmücke, Blaumeise, Kohlmeise, Rotkehlchen und Sommergoldhähnchen.

Fotos: Christina Koormann

„Ein ganz tolles Erlebnis“

6:45 Uhr. „Das war ein ganz tolles Erlebnis“, sagt ein Teilnehmer in der Abschlussrunde, als die ersten Sonnenstrahlen um die Kapelle kriechen. „Ich wusste bis gestern noch gar nicht, dass es einen Zilpzalp gibt, jetzt kann ich ihn sogar am Ruf erkennen.“ Eine Teilnehmerin sagt: „Ich interessiere mich schon eine ganze Zeit für das Erkennen von Vogelstimmen, wusste aber nicht so genau, wie ich damit anfangen kann. Die Übernachtung auf dem Friedhof hat mir einen tollen Einstieg ermöglicht.“ Auch die drei Mädchen, die dabei sind, fanden die Nacht und den frühen Morgen spannend. „Besonders gut hat mir gefallen, als wir gestern mit verbundenen Augen den Vögeln zugehört haben“, sagt eine.

7:15 Uhr. Wir verabschieden uns am Friedhofstor. Die Begeisterung ist bei allen deutlich zu spüren. Ein Mädchen hat ein Stück Kohle gefunden und damit eine riesige Amsel auf den Boden gemalt. Sie ist ganz schwarz verschmiert und lächelt glücklich. Ich gehe leicht übernächtigt und vollgepackt zurück zur Tramhaltestelle. Im Baum am Gleis höre ich es rufen: „Gudruuuun du, hör gut zuuu, du!“

Christina Koormann

Weitere Informationen: www.stiftung-naturschutz.de

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