Aus DER RABE RALF Dezember 2024/Januar 2025, Seite 13
Von Bäumen, Wald, Wind, Energie und Märchen
Es ist nur noch eine Erinnerung an den letzten Sommer. Sattgrün präsentierten sich die Laubbäume. Kunterbunt zeigten sie sich im Herbst. Jetzt im Frühwinter sind sie blattlos. Hingegen haben die Nadelbäume ihr schmuckes Nadelkleid behalten. Doch bewegungslos stehen sie alle im Herbstnebel. Kein Stamm rührt sich. Kein Ast schwingt auf und ab. Auch kein Mucks ist zu hören. Kein Lüftchen regt sich. Große Windstille. Beginnende Winterruhe.
„Bäume bergen große Schätze“
Nicht so unter den städtischen Umweltfreunden. Die wollen, dass der Berliner Senat mehr für Erhalt und Pflege des Stadtgrüns tut. Ihr politisches Mittel dafür ist ein Volksbegehren, das, so es gewonnen wird, den Senat zum Handeln zwingen soll. Das ist für aller Bürger Wohlergehen notwendig. Unter der großen Vielfalt der Pflanzen fällt der Baum besonders auf. Er ist Symbol für Leben, für Wachstum, den Wandel und die unermesslich scheinende Kraft der Natur. In vielen Mythen und Märchen spielt er eine zentrale Rolle. Wie auch bei den diesjährigen Berliner Märchentagen im November, die den in vielen Völkern bekannten, Erde und Himmel miteinander verbindenden Weltenbaum zum zentralen Motto ihres mehrwöchigen Veranstaltungsreigens erhoben. Eine Märchenreise in jene Zeit, als die Menschen ihre Mitwelt noch als beseelt und ihresgleichen wahrnahmen. Eine Erzählung aus Estland handelt von den Bäumen Birke, Ahorn, Eiche und Wacholder, die den armen Holzhauer bitten, nicht gefällt zu werden. „Ob Blätter, Blüten oder Früchte – Bäume bergen große Schätze, die nicht immer leicht zu erreichen sind. Mühsam ist der Weg und manchmal voller Gefahren.“ Märchen um Mitgefühl, Achtsamkeit und auch magisches Glück. Geschichten über die Verbundenheit mit den Bäumen, diesen standhaften Wesen, die den Menschen Schutz bieten, Freude und Früchte schenken. Wie in Peter Roseggers Waldheimat. Der österreichische Dichter erzählt, wie er als kleiner Waldbauernjunge durch den hohen Schnee stapfte und sich dabei im Wald verirrte: „Außer dem Rauschen des Windes in den Wäldern hörte ich nichts. Ich wusste nicht, wo ich war. Wenn jetzt ein Reh käme, ich würde es fragen nach dem Weg, vielleicht könnte es ihn mir weisen. In der Christnacht reden ja Tiere die menschliche Sprache.“
Im Grimms Märchen „Hänsel und Gretel“ rettet ihre Antwort auf die Frage der Hexe, wer denn am Hexenhäuschen knabbert, das Geschwisterpaar vor Ungemach: „Es ist der Wind, das himmlische Kind.“ Vor 3.000 Jahren dachten einige Völker, dass der Wind entsteht, wenn die Erde ein- und ausatmet. Andere waren sich sicher: Er ist der Atem der Götter. Doch die Wissenschaft hat festgestellt: Wind entsteht aufgrund von Temperaturunterschieden der Luft. Warme Luft steigt auf, kalte Luft drängt nach. Luft gerät in Bewegung. Wind entsteht. Schon Jahrtausende nutzt ihn der Mensch als Energielieferant. Er treibt Segelboote und Windräder an.
Windenergieanlagen
Windenergieanlagen haben sich als sehr effiziente Stromerzeuger erwiesen. Schon nach einem halben Jahr sind die Investitionskosten wieder hereingespielt. Doch nachdenklich stimmt, wenn die Windrad-Erbauer mangels aufgelassener Alt- und Industrieflächen, mangels zweitrangiger Wiesen- und Ackerflächen zunehmend auf gute Böden und in die Wälder drängen. In Nordhessen liegt eines der größten zusammenhängenden Waldgebiete Mitteleuropas, der als „Märchenwald“ bekannte Reinhardswald. Im Frühjahr 2022 haben die „Behörden der Errichtung eines Windparks mit mindestens achtzehn 240 Meter hohen Windanlagen mitten in diesem Waldgebiet zugestimmt, was weithin Bestürzung ausgelöst hat“, berichtete eine konservative Zeitung. Denn in der rund 200 Quadratkilometer großen Waldfläche „befindet sich nicht nur die weithin als ‚Dornröschenschloss‘ bekannte Sababurg, sondern auch ein historischer Tierpark, ein sich selbst überlassenes Urwaldareal und etliche jahrhundertealte Eichen“. Zudem sei der Wald wegen seiner Artenvielfalt von großer Bedeutung, die von seltenen Wildkatzen über weißes Rotwild bis zu „Trittstein-Biotopen“ für wandernde Luchse reiche. Auf die Baugenehmigung folgten Klagen und ein Baustopp. Zwei Jahre später sind auch die noch laufenden Klagen kein Hinderungsgrund mehr. Wie ein lokaler Radiosender am 11. November berichtete, haben die Bauarbeiten für den umstrittenen Windpark Reinhardswald begonnen. Möglich machte das die Abgabe einer „Legal Opinion“, einer förmlichen schriftlichen Erklärung, durch eine Berliner Kanzlei.
Anfang 2024 stellte der Berliner Senat eine Studie mit 60 Standorten für große Windenergieanlagen vor (Rabe Ralf Juni 2024, S. 7). Auch in Brandenburg werden neue Windräder, zumeist in Windindustrieparks zusammengefasst, gebaut und alte Parks erweitert. Immer mehr Anlagen werden in Wälder gestellt. Die Auswirkungen auf Natur und Landschaft sind dabei nicht zu vernachlässigen, handelt es sich bei heutigen Windrädern doch um Industrieanlagen mit gewaltigen Dimensionen. Ein 200 Meter hohes Windkraftwerk mit einer Nabenhöhe von 140 Metern wiegt 7000 Tonnen. Die Hälfte des Gesamtgewichts stellt das Fundament. Das hat einen Durchmesser von 20 bis 30 Metern und eine Tiefe von bis zu vier Metern. Hier werden 1.300 Kubikmeter Beton und 180 Tonnen Stahl verbaut. Erfordern die Bodenverhältnisse eine tiefere Gründung, werden zusätzlich vierzig 15 Meter lange Betonpfeiler in den Boden gerammt. Heute erreichen neue Windräder bereits eine Gesamthöhe von 250 Metern.
Alte Welten, neue Welten
Hoch in den Himmel ragen die Windenergietürme. Die riesigen Rotorblätter erinnern an Windmühlen, aber mehr noch an Flugzeugpropeller. Ganz so, als ob die Menschen hoffen, damit zu neuen Welten aufbrechen zu können. Hingegen sind die mit den Wäldern verbundenen alten Welten – Märchen, Fabeln, Sagen, Legenden – verschollen. Jetzt, in der dunklen Jahreszeit, begegnen sie einem verschiedentlich wieder auf den Weihnachtsmärkten. Hübsch dekoriert mit aus Wäldern und Baumschulen herbeigeschafften Nadelbäumen – zumeist Fichten, aber auch Kiefern und Tannen. Weihnachtlicher Lichterglanz, Punsch und Glühwein – die Märchenwelt des dunklen Waldes funkelt in den langen Winternächten: Feen und Hexen, gute wie auch böse Geister sowie Kobolde, Zwerge und wilde Mannli. Ihnen gesellen sich in den Raunächten, der Zeit zwischen den Jahren, Frau Perchta, Frau Holle, Wotan und die Wilde Jagd hinzu, die, so wurde erzählt, gleich Zugvögeln über das Land ziehen. Während der langen Nächte, in denen die Tiere sprechen können, in denen – auch heute noch – die Häuser und Ställe mit Weihrauch beschlagen werden, und in denen man auf keinen Fall Wäsche waschen darf. Und der Weihnachtsbaum? Urkundlich erwähnt wird er erstmals 1508. Doch verhält es sich mit seinem Ursprung ähnlich wie mit den christlichen Feiertagen. Die haben alle eine heidnische Vorgeschichte. Die des Weihnachtsbaumes reicht zurück in die indogermanische Zeit, als der Nadelbaum zur Wintersonnenwende als immergrüner Lebensbaum eine besondere Wertschätzung erfuhr: als Symbol für das immerwährende Leben.
Thomas Thierschmann