Die Schule als Problem haben wir durch die traditionellen Indianer kennengelernt. Diese wehren sich mit allen Mitteln gegen die Schule für ihre Kinder, weil sie wissen, daß die Schule Indianer zu Weißen macht. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir die Schulpflicht hinnehmen, zeigt ihnen unseren Abstand von einem natürlichen Leben. Denn es ist unnatürlich, Kinder aus dem lebendigen Ganzen auszusondern, genauso wie es unnatürlich ist, daß die Alten bei uns keinen Platz mehr haben.
Jeder, der einen kritischen Abstand zu unserer Gesellschaft einnimmt, muß die Schule – nicht nur als Anpassungs- und Reproduktionsinstrument – in Frage stellen.
Wir sind nach Frankreich gegangen, weil Kinder dort ohne große Umstände der Schule fernbleiben können. Die Eltern verpflichten sich, ihren Kindern die obligatorische Erziehung selbst zu vermitteln.
Wir kennen mehrere Familien, deren Kinder zum Teil schon erwachsen sind, ohne die Schule besucht zu haben. Die mittlere Reife haben sie ohne größere Probleme ”extern” abgelegt. Sogar das Abitur nehmen zwei jetzt in Angriff. Die meisten aber scheinen dies nicht mehr in Betracht zu ziehen; man geriete wieder zu tief in das System.
Da ich als ehemaliger Lehrer unser Bildungssystem recht genau kenne, seien mir einige Anmerkungen dazu erlaubt.
Alle Gegner bürokratischer Planwirtschaft müßten Gegner unserer Schule sein. Alles Wesentliche ist dort zentral vorgeschrieben. In Gang gehalten wird der Betrieb von Beamten und Funktionären. Pädagogische Probleme tauchen nicht deshalb auf, weil der Stoff zu schwierig ist, sondern weil die Schule im falschen Moment das Falsche von den falschen Schülern verlangt. Nichts, was bis zum Abitur von Schülern verlangt wird, bereitet größere intellektuelle Schwierigkeiten an sich.
Daß die Schule überhaupt existiert, verdankt sie ihrer Rolle als Anpassungsinstrument. Diese kann sie spielen, weil die Gesellschaft ihr die Machtmittel der sozialen Vorauswahl in die Hand gegeben hat: Noten und Zeugnisse entscheiden über dein späteres Leben, also füge dich.
Wenig, was bis zum Abitur von Schülern verlangt wird, ist für ein alternatives Leben von Bedeutung. Im Gegenteil: vieles, was ich auf Schulen gelernt habe, mußte ich mühsam wieder loswerden, weil es mir den Blick auf das Wesentliche verbaute. Ich habe 1964 Abitur gemacht. Ich war damit kaum auf die Ost-West-Auseinandersetzungen, noch weniger auf den Nord-Süd Konflikt, überhaupt nicht auf die Umweltproblematik, gar nicht auf biologische Nahrungsmittel und in keiner Weise aufs Bäumepflanzen vorbereitet. Sicher hat sich seither etwas geändert. Aber die Probleme, die heute aktuell sind, wird man nach wie vor kaum im vorgeschriebenen Schulplan finden. Natürlich gibt es immer Lehrer, die mehr aus der Schule machen als vorgesehen ist. Aber selbst dann bleibt die Situation: hier der Lehrer, dort die Schüler, und vor dem Schultor ist der Spuk vorbei.
Der technische Fortschritt verlangt, das bisherige Wissen verarbeitet zu haben, um an der vordersten Front weiterarbeiten zu können. Wer aber unsere Gesellschaft so weit durchschaut, daß er einen wirklichen Fortschritt nur außerhalb der vorgezeichneten Bahnen für möglich hält, wird für sich, oder mehr noch für seine Kinder, eine Schule meiden, die nur auf vorgezeichnete Bahnen vorbereiten kann.
Was ist das für eine Gesellschaft, die nichts mit ihren Kindern anzufangen weiß, die ihnen keine positive Rolle im alltäglichen Leben zuweist, sondern sie aus dem Verkehr zieht, um sie in besonderen Anstalten großzuziehen? In Frankreich ist das noch krasser, weil die Landkinder mit elf Jahren die ganze Woche über in der Stadt bleiben. Damit gewöhnen sie sich an das scheinbar angenehmere Stadtleben, das sie unfähig macht, später wieder auf dem Hof mit anzupacken. Nur dem Schulversager bleibt praktisch nichts anderes übrig, als zurückzukehren.
Ein Argument lautet, ohne Schule lernten die Kinder kein ”soziales Verhalten”. Ich möchte dem entgegenhalten: soziales Verhalten entwickelt sich dort, wo mehrere Personen, auch unterschiedlichen Alters, miteinander leben. Es gibt kaum eine künstlichere Situation als zwanzig gleichaltrige Kinder in einem Klassenzimmer. Kein natürliches soziales Verhalten kann sich dort entwickeln.
Es ist auch nicht die Quantität der sozialen Kontakte, die einen Menschen formt. Der Sättigungsgrad menschlicher Beziehungen ist schneller erreicht als wir annehmen. Wie viele unter den Hunderten, denen wir täglich begegnen, sind für uns auch nur von irgendeiner Bedeutung? Auf dem Land begegnen wir täglich nur wenigen Menschen, aber jeder gewinnt mit der Zeit eine genau umrissene Bedeutung für uns – wie wir für sie. Was manchem am Anfang lästig ist – daß jeder über jeden alles weiß – ist im Grunde genommen die wiedergefundene Beziehung zum ”Nächsten”. Niemand geht in einer Masse unter. Vielleicht ist sogar nur auf dieser Ebene soziales Leben möglich.
Nun aus der eigenen praktischen Erfahrung.
Bisher sind es zwei unserer Kinder, die das Schulalter erreicht haben und sich den Schulstoff zu Hause aneignen. Auch wenn sie etwas über ein Jahr auseinander sind, arbeiten sie dabei weitgehend zusammen.
Mit dem Lesen fing es an. Wir hatten in der Verwandtschaft alle möglichen Schulbücher gesammelt. Was die Kinder davon nicht interessierte, legten sie gleich beiseite, schauten aber dann später aus Neugier doch mal wieder hinein.
Beim Lesen kam zum Beispiel der Junge viel schneller voran, obwohl er der Jüngere ist. Beim Schreiben war es das Mädchen. Hier blieb der Junge fast ein Jahr lang bei großen Druckbuchstaben, um dann von einem auf den anderen Tag auf lateinische Schreibschrift ”umzuschalten”. Dieses Verhalten hätte in der Schule schon zu Problemen geführt.
Unter uns sprechen wir deutsch. Lesen und Schreiben lernten die Kinder daher auch zuerst in deutsch. Französisch kam von außen an uns heran, und ich selbst hatte am Anfang noch einige Schwierigkeiten, da ich es nie gelernt hatte.
Als nach einiger Zeit regelmäßig Nachbarskinder ins Haus kamen, war es für mich als Sprachlehrer phantastisch, zu beobachten, mit wie wenig theoretischen Kenntnissen eine praktische Kommunikation möglich ist. Heute, zwei Jahre später, sind die Kinder zweisprachig. Sie korrigieren uns, wenn wir Fehler machen, und sie machen sich lustig über deutschen Besuch, der sein Schulfranzösisch hervorkramt. Französisch lesen haben die Kinder von sich aus gelernt, wirklich völlig von selbst.
Rechnen hat schon immer alle Kinder interessiert. Es genügt fast, im täglichen Ablauf auf Probleme hinzuweisen, wie neulich beim Bäumepflanzen: Wir gruben zusammen die Pflanzlöcher, nachdem wir zuvor die Stellen markiert hatten. Man kann sich leicht vorstellen, wie oft dabei Fragen auftauchen: Wie viele haben wir schon, wie viele kommen noch? Wann haben wir die Hälfte fertig, wann zwei Drittel? Reichen die Bäume? usw.
Wichtiger noch als schulisches Wissen scheint mir zu sein, was die Kinder einfach dadurch lernen, daß sie ständig bei uns auf dem Hof sind. Ziegen hüten zum Beispiel. Es ist unwahrscheinlich beeindruckend, wenn eine Herde von vierzig Ziegen abends vom Berg zurückkommt und zwei Kinder sie mit lautem Geschrei auf dem Weg halten.
Schon fast selbstverständlich ist, daß sie kleinere Arbeiten, die sie mit Hammer und Zange verrichten können, mit viel Ehrgeiz selbst in Angriff nehmen. Und die Kleineren wachsen ganz natürlich in den Aufgabenbereich der Größeren hinein.
An dieser Stelle möchte ich hervorheben, wie sehr wir eine Großmutter oder einen Großvater im Haus vermissen. Und welch trauriges Los haben dabei die Großeltern, die keinen eigenen Aufgabenbereich mehr vorfinden oder in ein Altersheim aussortiert werden.
Mehr als einmal habe ich von indianischen Freunden gehört: ”Sucht euch eine Großmutter.” Sie haben recht – das menschliche Leben umfaßt siebzig, achtzig Jahre, diese müssen in einer lebendigen Gemeinschaft Platz finden und vertreten sein. Auch darum ist es falsch, Kinder in eigene Anstalten auszusondern. Alle verlieren dabei.
Gisbert Bölling: Einfach anders leben, Der Grüne Zweig 55, Verlag Werner Pieper