Als Papas Job noch sicher war – 30 goldene Jahre in Ost und West

Aus DER RABE RALF Oktober 1997

Ende der 60er Jahre setzte der Rockmusiker Frank Zappa dem American way of life ein musikalisches Denkmal: den Song Bobby Brown. Bobby Brown, der von sich selbst sagt: „Oh God, I am the American dream“, ist der weiße, männliche Lohnarbeiter mit gesichertem Ein- und Auskommen, der sein Leben zwischen Auto und Fernseher verbringt und sich einfach toll findet. Bobby Brown findet, daß Frauen für Haushalt und Kinder, der Boß fürs Gehalt und die Regierung für die Straßenreinigung zuständig sind. Er glaubt, daß er zuviel Steuern zahlt, daß die in Afrika mal arbeiten sollten und daß Verbrecher auf den elektrischen Stuhl gehören. Er schimpft gern auf die Regierung, würde aber nie etwas gegen sie tun. Er kann nicht kochen, putzt nie sein Klo und ist ein extrem schlechter Zuhörer. Außerhalb seines Jobs fühlt er sich für nichts verantwortlich.

Bobby Brown, Soldat der Industrie

Natürlich ist Bobby Brown auch ein wirklicher Mensch, nicht nur eine Figur, wenn auch bisweilen selbst seine Familie daran zweifelt. Das führt auch immer wieder zu Verwerfungen: an den Tatsachen des Lebens – Liebe und Tod, Krankheit und Mitgefühl, der Sehnsucht nach Identität und der Frage nach dem Sinn des Lebens – bricht sich die Schablonenhaftigkeit und Scheinsicherheit seiner Existenz. Die Wirklichkeit des Lebens und die Schärfe eigener Erfahrungen muß er deshalb vermeiden und verdrängen, was teilweise seine infantile Kultur und Lebensweise erklärt, aber auch echte Tragik enthalten kann: ein großer Teil der Film- und Fernsehidustrie ist damit beschäftigt, diese Konflikte auf- und wegzuarbeiten.

Bobby Brown ist der Soldat des Fordismus, der industriellen Massenproduktion. Jede Variante industrieller Modernisierung hat ihre Bobby Browns. Die realsozialistische Variante verlangt ein größeres Maß an politischer Loyalität, die „amerikanistische“ läßt ihn weiter von der Leine – aber es ist dasselbe Schema.

Bobby Brown hat wenig zu entscheiden und ist doch entscheidend. Gegen seine Stimmungslage können auch die Eliten nur bedingt handeln – jedenfalls bis Mitte der 70er Jahre. Das liegt an seiner Schlüsselrolle bei der Organisation der Machtverhältnisse. Bobby Brown hat immer einen Boß, egal ob er Angestellter, Facharbeiter oder Selbständiger ist. Aber er ist auch selbst ein Boß: er kommandiert eine Familie, er hantiert mit fremder Arbeit, er konsumiert die Leistungen vieler anderer. Bobby Brown und sein Boß sind zusammen  ein Team, eine gesellschaftliche Firma, die den Kitt eines weitgespannten Herrschaftsgeflechts bildet.

Was ist die historische Bedeutung dieses Teams, und was ist die herrschaftstechnische Leistung und das ökonomisch-ökologische Problem dieser Firma? Wie in Teil 4 (Juli 97)* gezeigt, hat die industrielle Zivilisation ihre Voraussetzungen in der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur: der Verfügbarmachung von Arbeit, der Waffenfunktion der Ökonomie, der Nutzung regionaler Zwangssektoren in der Weltgesellschaft. Es ist eine historisch ungewöhnliche Art der Ausbeutung und Erhaltung von Herrschaft, aber zeitweise sehr erfolgreich. In einer kapitalistischen Struktur ist dieses System profitabel und sinnvoll für Herrschaftseliten und Handelskapitale, aber eigentlich nicht für die breite Bevölkerung. Es hat den Nachteil, daß sich Widerstand nicht in teilweisem Rückzug artikulieren kann (wie etwa im Feudalismus, wo die Bauern in Krisenzeiten ihre Abgaben verringern und sich auf Selbstversorgung konzentrieren), sondern schnell in politischen, prinzipiellen Widerstand umschlägt.

Die Sozis retten den Kapitalismus

Genau daran drohte das Ganze vor 100 Jahren fast zu scheitern. Die Oberklasse war damals eine ziemlich kleine und homogene „geschlossene Gesellschaft“, die sich nur wenige auf der Welt nicht zu Feinden gemacht hatte. Sie bestand aus den Regierungen der europäischen Großmächte und der USA; den Führungsspitzen des Militärs, der großen Konzerne und der Banken; einer Rest-Elite aus adligen und bildungsbürgerlichen Familien und einer jüngeren Gruppe von Bürokraten und hohen Verwaltungsbeamten. Alles in allem zehntausend gegen den Rest der Welt, die nicht von ungefähr unter Angstneurosen und Wahnvorstellungen litten. Die Kolonien wurden von Aufständen erschüttert, und auch zu Hause war keine Ruhe: die sozialistischen Organisationen standen auf dem Höhepunkt ihres Massenzulaufs, wie auch eine Reihe unabhängiger oder anarchistischer Arbeiterorganisationen; die Frauenbewegung formierte sich, ebenso die schwarze Bewegung in den USA. Man stand „am Rande der Anarchie“, was bei durchschnitlich 1000 Streiks pro Jahr in den USA keine Übertreibung war. Der Weltkrieg hielt den Laden noch einmal zusammen, aber dann war Schluß. 1918 war das Zeitalter des Kapitalismus unter bürgerlicher Hegemonie zu Ende.

Was sich dann durchsetzte – in sozialen Kämpfen und Pakten – war der Beginn der Bobby-Brown-Zeit. In den führenden Industrieländern begann das widersprüchliche Zusammenwachsen der alten staatlichen und wirtschaftlichen Herrschaftselite mit den Führungen der sozialdemokratischen Organisationen (wie auch immer sie hießen). Die soziale Basis dafür war Bobby Brown: Der männliche, weiße Lohnarbeiter im „besten Alter“, dessen ökonomische Sicherheit und soziale Vorrangstellung gesichert wurden, konnte im Bündnis mit den erweiterten (und von altem Ballast befreiten) herrschenden Eliten das kapitalistische Projekt weiterführen. Seine Privilegien waren: ein „Familienlohn“, d.h. die generelle Höherbezahlung männlicher und verheirateter Arbeitskräfte; die Abgrenzung von einer weitgehend rechtlosen Zuwandererschicht, die die niedrigen Arbeiten ausführte; eine ökonomisch-soziale Sicherheitsgarantie durch aktive, beschäftigungsorientierte Konjunkturpolitik; die praktische Bindung der Lohnhöhe an die Gewinnentwicklung, d.h. eine Teilung der Beute.

Mit dem Bündnis von Kapital und Arbeit wuchs zusammen, was zusammengehörte. In der Arbeiterbewegung gab es schon immer Möchtegern-Bobby-Browns, die nicht nur dem Kapital bessere Bedingungen abtrotzen, sondern vor allem auch die eigenen Privilegien als „Männer ihres Volkes“ verteidigen wollten. Sie stritten gegen die Ausweitung der Frauen- und Jugendarbeit, und sie halfen bei der weltweiten Durchsetzung des Kapitalismus, von dem sie lebten. Bis zur Weltwirtschaftskrise blieb das Bündnis labil und gefährdet, danach wurde es in festere Formen gegossen und bildete die konkurrierenden Modelle fordistischer Modernisierung heraus: die faschistische, die realsozialistische und die amerikanistische Variante.

Das Zweiergespann von Arbeit und Kapital hatte eine durchschlagende Kraft. Es funktioniert als Herrschaftsmaschine, die die Ströme von Material und Arbeit um den Globus biegt und Massen von „anderen Menschen“ in diese Ordnung zwingt. Es organisiert, kontrolliert und verteidigt gemeinsam den Zustrom von Natur, Ressourcen, billiger ausländischer Zulieferarbeit, billiger inländischer Schmutzarbeit, unentlohnter häuslicher Arbeit.

Natürlich kann dieses Zweiergespann allein keinen Monat lang existieren. Das Essen muß gekocht, die Kinder aufgezogen, die Alten und Kranken gepflegt, der Müll weggeräumt und die Fabriken gefegt werden. Die unappetitlichen Arbeiten, die vor und hinter der Wirkungsstätte von Bobby Brown liegen, müssen erledigt werden: in den Lagerhallen und Schlachthöfen, an den Fließbändern und in den Plantagen. Diese Arbeiten beginnen früh und enden spät, sind schmutzig und anstrengend, schlecht oder gar nicht entlohnt, haben keine Tarifverträge, bieten keine Garantien für Alter und Krankheit und keine Aufstiegsmöglichkeiten. Sie sind die Domäne der Hausfrauen und Industriefrauen, der Zuwanderer und Ungelernten; all derer, die nicht in den Stadtvierteln mit sauberen Fassaden leben.

Bezahlt wird nicht!

Die ökologischen Folgen der Bobby-Brown-Zeit waren katastrophal. Daß das angeblich niemand gewußt hat, ist nicht wahr. Es war durchaus bekannt; man war aber der Ansicht, die Umweltschäden ließen sich mit Geld und Technik nachträglich beseitigen.

Daß das Bündnis von Kapital und Arbeit auf Kosten der Natur ging, wird oft gesagt; die Ursachen bleiben jedoch meist unklar. Die ökologische Zerstörungskraft der fordistischen Ära wird als kulturelles Problem beschrieben, als Folge eines „Wegwerf-Lebensstils“. Oder es sind die ökologisch falschen Preise schuld: die extrem niedrige Bewertung der Kosten von natürlichen Ressourcen und die systematische „Externalisierung von Kosten“. Letzteres bedeutet: die realen Kosten, die bei der Herstellung eines Produkts anfallen, werden zu einem großen Teil weder vom Hersteller noch vom Käufer bezahlt, sondern von der Gesellschaft insgesamt, von anderen Ländern oder – wie heute üblich – überhaupt nicht. Wer Benzin verkauft oder kauft, bezahlt nicht mit für die Kosten, die bei einer ökologischen Sanierung der Erdölfördergebiete entstehen würden, und auch nicht für die Schädigung der Atmosphäre durch die CO2-Emission. Wer einen Hamburger kauft oder verkauft, zahlt nicht für die Zerstörung der Regenwälder in Südamerika, die für die Rinderweiden umgelegt werden, und auch nicht für die Vertreibung der dortigen Bevölkerung. Der „reale Preis“ für einen Hamburger, der alle diese Kosten enthält, liegt bei etwa dreihundert Mark.

Doch warum sind die Preise so, wie sie sind? Preise entstehen ja nicht automatisch, sondern sind in hohem Maße bestimmt durch Steuern und Subventionen und durch die Art und Weise, Preise im internationalen Markt durchzudrücken. Auch die „falschen“ Preise sind keine Erklärung. Die ökologische Zerstörungskraft der fordistischen Zeit muß aus ihrer gesellschaftlichen Struktur erklärt werden, aus der Art und Weise, wie verschiedene Interessen durchgesetzt werden.

Zwangsarbeit auf freien Märkten

Kapitalismus kann demnach nicht einfach nur eine Methode sein, Güter zu produzieren. Dafür sind seine Güter zu überflüssig und seine Methoden zu unwirtschaftlich. Hier hat die Kritik im Sinne der Nachhaltigkeit recht: Was soll man von einer Wirtschaft halten, deren Produkte einen eingebauten Verschleiß haben, damit sie schneller kaputtgehen? Die mit 40% Verlust auf einem weltweiten Nahrungsmittelmarkt rechnet, d.h. einer Vernichtung von 40% der erzeugten Nahrungsmittel auf dem Weg von der Ernte bis auf den Verbrauchermarkt? Deren höchstes Ziel es zu sein scheint, in jeden Winkel der Welt denselben häßlichen weißen Plastikstuhl zu stellen? Natürlich geht es auch um Profit. Aber was ist schon Geld, wenn man dafür nichts kaufen kann? Was ist Kapital, wenn man es nicht einsetzen kann, um Macht auszuüben? Beim Kapitalismus muß es sich um ein machtpolitisches Konzept handeln.

Letztlich geht es immer nur darum, wer den Transfer von natürlichen Reichtümern, produzierten Gütern und Dienstleistungen zu sich hin erzwingen kann und wer nicht; wer soziale Vorherrschaft ausüben kann und wer nicht. Alles andere sind nur Mittel – das gilt auch für die meisten nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen. Herbert Giersch, ehemaliger Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel sagte es so: „Statt mit Menschen Boden zu erobern, importiert man besser die Früchte des Bodens; statt Menschen in den Krieg zu schicken, läßt man sie besser für den Erwerb von Devisen arbeiten.“ Letztlich sind beide, Krieg und Handel, alternative und einander ergänzende Mittel, eine „räumliche Ordnung“ zu schaffen – eine Lehre, die am Kieler Institut für Weltwirtschaft zu NS-Zeiten entwickelt wurde, als übrigens auch der spätere bundesdeutsche Wirtschaftsminister Karl Schiller dort arbeitete. Unterm Strich geht es nur darum, wie erreicht wird, daß die Ströme von Natur und Arbeit vom Süden in den Norden führen, von arm zu reich, von Unterprivilegierten zu Bobby Brown.

Das Entscheidende dabei ist, die Möglichkeit eigenständiger Existenzsicherung weltweit auszuschalten. Die Zerstörung oder Enteignung natürlicher Ressourcen und die Zerschlagung selbsterhaltender regionaler Wirtschaftsformen schafft erst den Zwang, seinen Lebensunterhalt auf dem Markt zu suchen. Philippinische Hausangestellte sind in den arabischen Emiraten so billig, weil es für die Frauen zu Hause keine Möglichkeit gibt, sich und ihre Familien durchzubringen. Die Produkte der landwirtschaftlichen Monokulturen des Südens sind auf den internationalen Märkten so billig, weil die Böden auf wenige Großbesitzer verteilt sind und der Masse der Menschen nichts übrig bleibt, als ihre Arbeit billigst zur Verfügung zu stellen, um nicht zu verhungern. Billig heißt nichts anderes als verfügbar. Die Arbeit einer Hausfrau ist billig, solange andere, unabhängige Existenzmöglichkeiten für Frauen nicht oder nur sehr schwer zur Verfügung stehen. Mit Werttheorien und ähnlichem hat das alles nichts zu tun. Das Maß der Verfügbarkeit schafft den Preis, und die Verfügbarkeit wird durch Ausschaltung der unabhängigen Existenzmöglichkeiten geschaffen. Es handelt sich um indirekte Zwangsarbeit, in vielerlei Formen und Schattierungen.

Die wirtschaftlichen Neuerungen seit den 40er bis zu den 70er Jahren sind zuallererst Wege der Verfügbarmachung und Dominanzerhaltung. Die Industrialisierung der Landwirtschaft in den USA und Europa, später die Grüne Revolution in Indien, schafft kreditgestützt die Selbstversorgungslandwirtschaft ab. Daß Maschinen und Chemie höhere Erträge bringen, ist nur ein Nebeneffekt. Geschaffen werden vor allem Abhängigkeiten: der Zwang, Güter zu kaufen, ohne die nichts mehr gedeiht; der Zwang, sich auf großen Besitztümern zu verdingen und den eigenen Kleinbesitz abzutreten. Versuche, nationale Ressourcen weniger verfügbar zu machen, etwa durch Verstaatlichung, werden durch militärische Interventionen ausgeschaltet – vom Sturz der Regierung Mossadegh in Persien 1953 über die US-Militäraktionen in Mittelamerika bis zum Sturz Allendes 1973. Der „freie Welthandel“ garantiert den Zugriff von „Investoren“ überall in der „freien Welt“ – und damit die bekannten Wege der Enteignung und Vertreibung, der Zerstörung einheimischer Produktionszweige und der Freisetzung von billiger, weil alternativloser Arbeitskraft. Die US-Regierung verschenkt buchstäblich bis zu drei Viertel der Weizenexporte nach Indien, Ägypten, Brasilien und Südostasien unter dem Vorwand von „Nahrungsmittelhilfe“. Nachdem daraufhin die einheimische Nahrungswirtschaft bankrott geht, übernimmt das Agro-Business die weitere „Versorgung“ – nun natürlich teuer bezahlt.

Die großen fordistischen Produktionsstätten – Maschinenbau, Rüstungs-, Auto-, Konsumgüterindustie – sind vor allem gigantische Transfermaschinen, um den Zustrom von Natur und billiger Arbeit zu erzwingen. Standardisierung und Normierung ermöglichen es, weltweit erbrachte Vorleistungen beliebig zu komplexen Endprodukten zusammenzusetzen – in den hochindustrialisierten Metropolen. Diese Produkte sind Machtmittel. Erschaffen kann sie nur, wer über alle ihre Voraussetzungen verfügen kann (Rohstoffe, ausländische Billigarbeit, technologisches und wissenschaftliches Know-How), also nur reiche Staaten mit einer hohen Machtkonzentration.

Dasselbe Verhältnis herrscht auch zwischen Bobby Brown und seinem sozialen Umfeld. Bobby Brown konsumiert die Arbeit seiner Ehefrau und all derer, deren billige Waren er kauft, um sich zu versorgen und zu einem komplexen Produkt zusammenzubauen: seiner Arbeitskraft. Die Bezahlung, die er dafür erhält, ermöglicht ihm den Zugriff auf immer mehr Dienstleistungen und Zuarbeiten anderer Menschen. Das funktioniert nur, weil die gesellschaftliche Ordnung garantiert, daß die Arbeitsstelle von Bobby Brown anderen Menschen praktisch nicht zur Verfügung steht: Frauen, Ausländern, weniger Leistungs- und Anpassungsfähigen. Dieser Ausschluß erscheint oft als „natürlich“, weil Bobby Brown die Leistungen seiner Umwelt darauf verwendet, sich selbst zu einem qualifizierten industriellen Werkzeug umzubauen, das dann gut zu dem privilegierten Job paßt. Wer nicht die privilegierte Lebensweise und gesellschaftliche Position von Bobby Brown hat, kann sich nicht mit der gleichen Konsequenz zum glatten Werkzeug umbauen und scheint daher für diese Arbeitsplätze tatsächlich weniger geeignet zu sein. Die besonderen Fähigkeiten von Bobby Brown beruhen darauf, daß es unendlich viele Dinge gibt, die er nicht können muß: alles, was ihm von seinem sozialen Hinterland abgenommen wird. Davon abgeschnitten, sieht es für ihn ähnlich übel aus wie für die große Industrie, wenn sie von ihren Zulieferungen abgeschnitten wird: er klappt zusammen.

Das ökologische Problem dieses Systems liegt darin, daß es sich um eine so kostspielige Variante von Raub und Dominanz handelt. Um einen Sack Erdnüsse zu rauben, benutzt es einen „Revolver“, der aus komplizierten High-Tech-Geräten besteht oder in der aufwendigen Produktion unsinniger Güter, im Umpflügen ganzer Landstriche oder in der Zerstörung ganzer Volkswirtschaften, in Mondflügen oder in Rudeln von Steuerbeamten und Verpackungsdesignern. Der Sack Erdnüsse ist, obwohl auf dem Weltmarkt für ein Butterbrot gehandelt, verdammt teuer, weil so viel dafür getan werden muß, damit er sich in die richtige Richtung bewegt. Ein Bankraub ist demgegenüber ökologisch geradezu vorbildlich.

Als Ost und West noch was zu bieten hatten

Auch die Sowjetunion organisierte so ihre inneren Kolonien – die Republiken, Regionen und Menschen, die mit landwirtschaftlicher Zulieferung, Rohstoffabbau und „niedrigproduktiver“ Arbeit das technologische und soziale System der russischen Bobby Browns stützten. Sie nahm die osteuropäischen Verbündeten in dieses System auf und profitierte in den Beziehungen zu ihren Einflußstaaten in der Dritten Welt ebenfalls von den ungleichen Handelsbedingungen, auch wenn sie im Verhältnis besser zahlte als die USA.

Beide Varianten verließen sich jedoch im Verhältnis zu den abhängigen Gebieten nicht auf reine militärische Gewalt und Besetzung. Sie setzten vielmehr stark auf indirekte Abhängigkeiten, z.B. technologische und handelspolitische, und bedienten gleichzeitig das Eigeninteresse neuer Eliten in den abhängigen Ländern, die im Gegenzug die Erschließung und „Entwicklung“ ihrer Region durchsetzen und absichern halfen.

Realsozialismus und Amerikanismus ließen dabei die von ihnen gepflegte Bobby-Brown-Schicht relativ offen: Wer in der Lage und bereit war, sich als effektives Werkzeug nach dem Vorbild von Bobby Brown zuzurichten und einzubringen, konnte zumindest theoretisch auch einer werden – selbst wenn sie eine Frau war; schwarz war; aus den asiatischen Teilrepubliken der Sowjetunion stammte usw. Individueller Aufstieg war möglich. Das hieß dann Demokratie oder Emanzipation.

Die neue Herrschaftsstruktur erweiterte das Zweiergespann von Arbeit und Kapital um die nationalen Eliten der Dritten Welt und um die diffuse Gruppe der potentiellen Aufsteiger. Die Leistungskraft der gesellschaftlichen Firma stieg gerade dadurch, daß sie laxer geführt wurde als die nationalsozialistische Maschinerie, daß sie Nischen bot und alternative Lebensformen tolerierte.

Die sozialen und politischen Versprechungen des Amerikanismus und des Realsozialismus waren nicht alle leer. Beide enthielten – als Reaktion auf den Druck der antikolonialen Kämpfe, der Arbeitskämpfe, der politischen Radikalisierungen der 30er und 40er Jahre – eine Reihe grundsätzlicher sozialer Garantien wie Arbeit, Gesundheitsversorgung und Sicherung des Existenzminimums. Vor allem profitierten beide Systeme davon, daß sie persönliche Auswege aus beengenden sozialen Verhältnissen anboten. Die Ordnung des Dorfes, der Familie, der traditionellen Sozialsysteme zu verlassen, bot – bei aller Kälte der städtischen, industriellen Welt – Chancen des individuellen Entkommens und relativer Befreiung. Und zwar weltweit. Ein Job in der Stadt oder ein Studienplatz an der Uni hatten ihre Sogwirkung und Symbolkraft. Ohne diese Dynamik wäre die enorme Anziehungskraft des Amerikanismus und des Realsozialismus bis in die Mitte der 70er Jahre nicht möglich gewesen.

Die Revolution der wachsenden Ansprüche, die dabei losgetreten wurde, hatte ihre eigene Dynamik unabhängig vom System. Die ökologische und ökonomische Krise, in die das fordistische Herrschaftssystem ab Mitte der 70er Jahre geriet, ist ihrem Wesen nach eine Herrschaftskrise.

Sie ist zu diesem Zeitpunkt noch keine soziale Krise. Noch sind die politische Zustimmung und die soziale Orientierung an der industriellen Modernisierung keinen offenen Zweifeln ausgesetzt. Aber sie sind immer wieder bedroht. Das Bobby-Brown-System stürzt in einen rapiden Verfallsprozeß, funktioniert nicht mehr, wird aufgekündigt. Es beginnt die Suche nach neuen Varianten der Herrschaftssicherung.

Die Aufgabe ist klar: Eine neue Variante muß mindestens so wirksam sein wie die alte, aber effizienter und ökologischer. Eine solche Aufgabe löst man nicht am Schreibtisch (und auch nicht am Runden Tisch), aber das bedeutet nicht, daß sie in den Planungsetagen der gesellschaftlichen Kräfte nicht bearbeitet wird. Auf den Fluren dieser Bürohäuser treffen wir dann auch die Anwälte der Nachhaltigkeit.

Christoph Spehr

Literatur:

Heinz Dietrich: Ironien der Weltgeschichte. Strukturparallelen zwischen Nazi-Lebensraum und Erster/Dritter Welt heute, in: Das Fünfhundertjährige Reich, Bonn 1980.

Detlev Hartmann: Leben als Sabotage. Zur Krise der technologischen Gewalt, 2. Auflage, Berlin 1988.

Karl-Heinz Roth: Vernichtung und Entwicklung. Die nazistische „Neuordnung“ und Bretton Woods, 1985.

Wolfgang Sachs: Die auto-mobile Gesellschaft, in: Brüggemeier/Rommelspacher: Besiegte Natur. Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Auflage, München 1989.

Claudia von Werlhof: Der Proletarier ist tot. Es lebe die Hausfrau? In: Bennholdt-Thomsen/Mies/Werlhof: Frauen – die letzte Kolonie, Reinbek 1983.

Jochen Zimmer: Soziales Wandern. Zur proletarischen Naturaneignung, in: Brüggemeier/Rommelspacher, Besiegte Natur (s.o.).

Gekürzt und bearbeitet aus:

Christoph Spehr, „Die Ökofalle –

Nachhaltigkeit und Krise“, Promedia

Verlag, Wien 1996, 240S., 34,- DM.


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