Wachstumsgrenzen – erreicht und überschritten

Aus DER RABE RALF Dezember 1995/Januar 1996

Es ist das herausragende Verdienst des 1987 erschienenen Brundtland-Berichtes, eine langfristige Tragfähigkeit (sustainability) der Wirtschaft zu einem weltumfassenden Ziel erhoben zu haben. Neben vielen richtungsweisenden Erkenntnissen und Schlußfolgerungen ist im Brundtland-Bericht aber auch die Forderung nach „einer neue Ära wirtschaftlichen Wachstums“ erhoben worden, zumindest für solche Nationen, deren Bevölkerung arm ist. Der Bericht geht von einer „fünf- bis zehnfachen Zunahme des weltweiten Industrie-Ausstoßes“ aus. Zwei Jahre später wurde vom Generalsekretär der Brundtland-Kommission diese Forderung eines „langfristig tragfähigen Wachstums“ erneut betont, indem er postulierte: „Eine fünffache bis zehnfache Steigerung wirtschaftlicher Aktivität wird in den nächsten fünfzig Jahren erforderlich sein“, um zu einer langfristigen Tragfähigkeit zu gelangen. Inzwischen wird auch unter Wirtschaftswissenschaftlern zunehmend die Kritik geäußert, daß ein derartiges Wachstum eine Unmöglichkeit ist, da bereits jetzt globale Grenzen des Wachstums erreicht und überschritten sind.

Wirtschaft als Teil des Welt-Ökosystems

Das globale Ökosystem ist einerseits Quelle aller materiellen „Inputs“, die das Teilsystem Wirtschaft speisen, anderseits ist es auch die Senke, d.h. das Sammelbecken, für alle Abfälle. Mittels einer einzigen Meßgröße (Bevölkerung mal Ressourcenverbrauch pro Kopf) läßt sich erfassen, wieviel Ressourcen aus dem globalen Ökosystem in das Teilsystem Wirtschaft und dann als Abfall zurück ins ursprüngliche Ökosystem gelangen. In früheren Zeiten (Bild A) war das Teilsystem Wirtschaft im Verhältnis zur Größe des globalen Ökosystem sehr klein. Inzwischen ist jedoch das wirtschaftliche Teilsystem im Vergleich zum globalen Ökosystem sehr groß geworden (Bild B). Die Abbildung veranschaulicht schematisch, daß das globale Ökosystem mit seinen Versorgungs- und Entsorgungsfunktionen das Teilsystem Wirtschaft nur innerhalb bestimmter Grenzen tragen kann.

Es hat der gesamten Menschheitsgeschichte bedurft, um die Weltwirtschaft bis etwa zum Jahre 1900 die 60-Milliarden-Dollar-Marke erreichen zu lassen. Heute jedoch wächst sie aller zwei Jahre um diese Größenordnung. Bei einem weiteren unbegrenzten Wachstum könnte sich die heute von der Weltwirtschaft erreichte Größenordnung von 20 Billionen Dollar innerhalb nur einer Generation verfünffachen. Es erscheint jedoch völlig unwahrscheinlich, daß die Welt eine Verdopplung der Wirtschaft noch verkraften kann, geschweige denn die Zielvorstellung der Brundtland-Kommission vom fünf- bis zehnfachen Anwachsen. Der Umweltberater der Weltbank, Robert Goodland, führt fünf Beweisstücke an, die demonstrieren sollen, daß globale Wachstumsgrenzen bereits erreicht und zum Teil überschritten sind:

Menschliche Aneignung von Biomasse

Ein entscheidender Grund für die Nichtwahrnehmung überschrittener Grenzen liegt in der trügerischen Beschleunigung beim exponentiellen Wachstum. Bei einer konstanten Wachstumsrate – und die wird bei wirtschaftlichem Wachstum immer angestrebt – ist der Zeitraum, den man braucht, um von einer „1% vollen Welt“ zu einer „2% vollen Welt“ zu kommen, der gleiche wie der, um von einer halbvollen zu einer „vollen Welt“ zu gelangen. Nimmt man als Maßstab die prozentuale Aneignung des Nettoprodukts landgestützter Photosynthese (Biomasse von Landpflanzen) durch den Menschen, so läßt sich kalkulieren, daß die Welt bereits 40% voll ist, weil wir auf eine direkte oder indirekte Weise bereits jetzt 40% des Nettoprimärprodukts landgestützter Photosynthese verbrauchen.

Geht man von einer 35jährigen Verdopplungsperiode für den Ressourcenverbrauch aus, so läßt sich zurückrechnen, daß von der derzeit 40% vollen Welt zurück zu einer nur 10% vollen Welt lediglich eine Spanne von zwei Verdopplungsperioden (70 Jahre) liegt. In nur einer Verdopplungsperiode, also in etwa 35 Jahren, wird man bei gleichbleibendem Wirtschaftswachstum auf eine 80% und dann sehr bald auf eine 100% volle Welt kommen, also eine 100%ige menschliche Aneignung des Nettoprodukts der Photosynthese, was ökologisch sehr unwahrscheinlich ist und politisch auch nicht erwünscht sein kann.

Erwärmung der Erdatmosphäre

Während das Waldsterben in einem Großteil der europäischen Wälder oder auch der saure Regen in Teilen Skandinaviens und der Vereinigten Staaten eher regionale Anzeichen überschrittener Grenzen sind, muß die globale Erwärmung als ein zwingendes Argument für die Überschreitung globaler Grenzen angesehen werden.

Die gesamte soziale und kulturelle Infrastruktur der Menschheit hat sich während der vergangenen siebentausend Jahre einem Weltklima angepaßt, das niemals mehr als 1°C vom heutigen Klima abwich. Alle bisher verfügbaren Hinweise deuten darauf hin, daß die globale Erwärmung bereits eingesetzt hat. Die wahrscheinlich schlimmen Folgen einer weiteren Erwärmung der Erdatmosphäre gehören heute bereits zum Allgemeinwissen.

Ozonloch

Die Löcher in der Ozonschicht müssen als ein zwingender Beweis dafür angesehen werden, daß menschliche Aktivitäten unser lebenserhaltendes Ökosystem bereits nachhaltig geschädigt haben. Obwohl 85% der ozonzersetzenden FCKW im industriellen Norden freigesetzt werden, ist das größte Ozonloch über der Antarktis entstanden. Ein eindrucksvolles Beispiel, wie umfassend und global die Schäden bereits sind. Der Zusammenhang zwischen erhöhter UV-B-Strahlung infolge der geschädigten Ozonschicht und Hautkrebs sind hinlänglich bekannt. Mögliche Folgen sind aber auch schwerwiegende Ernteverluste auf dem Land sowie reduzierte Fischfangmengen aus den Meeren.

Bodendegradation

Obwohl Böden schon vor Tausenden von Jahren ruiniert wurden, hat sich das Ausmaß der Bodendegradation (Verschlechterung der Bodenqualität – vom Absinken der Bodenwerte bis zur Verwüstung) sprunghaft vergrößert und ist heute ein weltweites Phänomen. 35% des Landes sind weltweit bereits geschädigt. Dies deutet darauf hin, daß die regenerativen Kräfte der Bodenressourcen unserer Erde stark überfordert sind. Da 97% unser Nahrungsmittel vom Land kommen und nicht aus Gewässern und Meeren, ist die Bodendegradation eine sehr ernste Krise für die Welternährungswirtschaft.

Rückgang der Artenvielfalt

Die menschliche Wirtschaft hat in den letzten hundert Jahren in einem solch extremen Umfang zugenommen, daß schon längst kein Platz mehr für alle Arten ist. Der artenreichste Lebensraum der Welt, der tropische Regenwald, ist schon zu 55% zerstört und schrumpft weiter.

Konservative Schätzungen gehen dabei von einer Rate von mehr als fünftausend Arten aus, die unwiederbringlich verlorengehen. Das weltweite Artensterben ist ein Indikator für die Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen.

Schlußfolgerung

Tatsächlich ist das Teilsystem Wirtschaft im Verhältnis zum globalen Ökosystem so groß geworden, das die regenerativen und assimilativen Kapazitäten der Rohstoffquellen und Senken weit überdehnt worden sind. Das im Brundtland-Bericht geforderte Wachstum würde auf eine gefährliche Weise die Überschreitung der Grenzen verschärfen. Eine langfristige Tragfähigkeit kann nur erreicht werden, wenn neben der Stabilisierung der Bevölkerungszahl der Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch drastisch abnimmt. Die reichen Länder der Welt stehen vor der unpopulären Aufgabe, ein weiteres Expandieren der Wirtschaft zu drosseln. Der Nobelpreisträger Tinbergen hat es am deutlichsten formuliert: „kein weiteres Produktionswachstum in den reichen Ländern“! Alle politischen Ansätze in den Industrienationen zur Erreichung einer tragfähigen Entwicklung müßten sich diese Forderung zu eigen machen.

Reinhard Piechocki


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