Aus DER RABE RALF Juni/Juli 2022, Seite 5
Zehn „Gebote“ für Umweltaktive
1 Fahre Fahrrad, wird dir gesagt, das ist gut für Klima und Umwelt. Natürlich ist es besser, Rad zu fahren. Aber warum haben wir nicht mal ein Tempolimit, mit dem sich schnell Erdöl und CO₂ einsparen ließe? Wir haben kein Tempolimit, damit die Menschen weiter in der Illusion leben, wir könnten trotz Klimakatastrophe einfach so weitermachen wie bisher. Du sollst Rad fahren, aber du sollst keine Beschränkungen für Autos fordern, denn Tempo ist Freiheit.
2 Geh zu Fuß, wird dir gesagt, und es ist vollkommen richtig, öfter zu Fuß zu gehen. Gleichzeitig verursacht ein Milliardär mit einem einzigen Weltraumflug mehr Treibhausgase als jemand aus der ärmsten Milliarde Menschen im ganzen Leben. Das reichste eine Prozent der Menschheit ist für 16 Prozent des CO₂-Ausstoßes verantwortlich. Du sollst zu Fuß gehen, aber die Umweltzerstörer im Weltraum mit ihrem exklusiven Hobby sollst du toll finden.
3 Reise mit der Bahn, wird dir gesagt, und es ist richtig, Bahn zu fahren. Weltweit wurden mindestens 15 Bestellungen für das geplante Überschallpassagierflugzeug „Boom Overture“ aufgegeben. Überschallflugzeuge sind die schnellste, teuerste, lauteste und energiefressendste Art zu reisen. Du sollst mit der Bahn fahren, aber du sollst dich keinesfalls für Einschränkungen oder gar Verbote im Flugverkehr einsetzen.
4 Schalte deinen Computer aus, wenn du ihn nicht brauchst, wird dir gesagt. Eine einzige Bitcoin-Transaktion verbraucht so viel Strom wie ein Durchschnittshaushalt in den USA in 23 Tagen. Der CO₂-Fußabdruck dieser Transaktion ist so groß, als würde man sechs Jahre ununterbrochen Internetvideos schauen. Du sollst den Computer abschalten, wenn du ihn nicht brauchst, aber kritisiere nicht die Zocker- und Dealer-Währung Bitcoin.
5 Mach mit beim Müllsammeln und hilf die Umwelt sauber zu halten, wird dir gesagt. Doch nicht der Müll ist das Problem, sondern die aufwendig verpackten, kurzlebigen, unnötigen, nicht reparaturfähigen Produkte zum schnellen, gedankenlosen Konsum. Du sollst gebeugt hinter den Ignoranten herputzen, die ihren Müll in die Landschaft werfen, aber dabei niemals Worte wie „Pfandsysteme“ murmeln und dich auch nicht mit dem Kampf gegen geplante Obsoleszenz oder gar mit Wirtschaftsdemokratie beschäftigen.
6 Informiere dich in deinen Medien und Netzwerken, wird dir gesagt. Es ist gut, sich zu informieren, doch nicht nur in der Blöd-Zeitung und in asozialen Netzwerken wird gegen Umweltschutz, erneuerbare Energien und Fridays for Future gehetzt. Du sollst Informationen konsumieren, aber du sollst dich nicht mit den Strategien von fossilen Lobbyisten, Klimawandelleugnern und Profiteuren der Umweltzerstörung auseinandersetzen.
7 Sei kritisch, aber nicht zu radikal, wird dir gesagt. Aber wie wurden in unserem Land Atomkraftwerke, Atommülllager und Atomfabriken verhindert, angefangen vor fast 50 Jahren in Wyhl? Menschen unterschiedlichster Herkunft und Meinung haben illegal Bauplätze besetzt, und sie waren erfolgreich. In Berlin-Kreuzberg verhinderten Hausbesetzungen die autogerechte Kaputtsanierung und eine Stadtautobahn. Und erst vor einigen Jahren stoppte eine Waldbesetzung bei Köln einen Braunkohletagebau. Du darfst gern ein wenig kritisch sein, wird dir gesagt, am besten in jungen Jahren schon zartrosa wie die Roten oder blassgrün wie die Grünen – aber interessiere dich auf keinen Fall dafür, wie junge, freche Bewegungen in früheren Jahren so große Erfolge erzielt haben.
8 Setze dich mit den Umweltsündern und Klimasünderinnen in deiner nächsten Umgebung auseinander, wird dir gesagt. Dabei wissen die Konzernspitzen der Kohle-, Öl- und Gaskonzerne seit Jahrzehnten von den verheerenden Auswirkungen ihres Tuns. Es ist Täterwissen: Sie haben den Klimawandel heruntergespielt, haben über rechtslibertäre Netzwerke Klimawandelleugner finanziert und die Energiewende bekämpfen lassen. Millionen Menschen leiden schon heute unter der Klimakatastrophe und viele werden dadurch sterben. Du sollst dich über die kleinen Umweltsünden ärgern (am besten auch über deine eigenen), aber die Täter, die tatsächlichen Verantwortlichen für Tod und Elend durch die Klimaveränderungen, sollen ungeschoren bleiben.
9 Glaube an die neuen technologischen Wunderwaffen, mit denen wir die heutigen Probleme lösen werden, wird dir gesagt. Als der bisher letzte Weltkrieg schon verloren war, setzte die deutsche Propaganda in ihren Durchhalteparolen auf die neuen „Wunderwaffen“, mit denen der Krieg doch noch gewonnen werden sollte, und viele Menschen in Deutschland hofften bis zuletzt auf den vermeintlichen „Endsieg“. Im heutigen weltweiten Krieg gegen die Natur und gegen uns selber setzen die politisch und ökonomisch Verantwortlichen für die globale Zerstörung auf den Wunderwaffen-Mythos, nur unter neuen Bezeichnungen: bessere Atomkraftwerke, neue Gentechnik, künstliche Intelligenz, Transhumanismus. Du sollst an die neuen Wunderwaffen glauben, nicht aber an einen möglichen, guten, zukunftsfähigen, nicht giergetriebenen Fortschritt, der tatsächlich den Menschen nützen würde.
10 Jeden Tag hörst du: „Ändere dein Leben, lebe umweltfreundlich.“ Du schaust dich um: Krieg, Klimakatastrophe, Weltvermüllung, Artenausrottung, Rohstoffverschwendung, wachsende soziale Ungleichheit, Atommüll. Du sollst umweltschonend leben, aber du sollst nicht die zerstörerischen Strukturen ändern, die zu diesen Problemen führen.
Die Machtstrukturen hinter der Zerstörung
Lebe umweltfreundlich, wird dir gesagt, und habe ständig ein schlechtes Gewissen, weil du das gute, richtige, ökologische Leben gar nicht schaffen kannst. Beschäftige dich mit dir selbst, denn du allein bist für die Probleme verantwortlich, wird dir gesagt. Aber wer Schuldgefühle hat, hat keine Zeit, sich mit den Ursachen von Klimawandel und Artenausrottung zu beschäftigen oder gar die zerstörerischen Strukturen zu verändern.
Klimakatastrophe, Weltvermüllung, Atommüllproduktion und Artenausrottung haben Ursachen: unbegrenzte Gier und unbegrenztes Wachstum im begrenzten System Erde. Du sollst Rad fahren, Wasser sparen, Verpackungsmüll vermeiden, aber eines darfst du auf keinen Fall: Hinterfrage nicht die neue Weltreligion, den Glauben an das unbegrenzte Wachstum.
Bei einem anhaltenden Wachstum von drei Prozent verdoppelt sich das Bruttosozialprodukt alle 23 Jahre. Und eine Menge, die exponentiell wächst, vertausendfacht sich nach der zehnfachen Verdoppelungszeit. Dauerhaftes exponentielles Wachstum einer Wirtschaft ist nicht möglich und führt zwangsläufig zur Selbstzerstörung. Durch die periodischen Kriege im Laufe der Menschheitsgeschichte wurde das bisherige Wachstum immer wieder unterbrochen. Es ist erstrebenswert, die aktuellen Probleme ohne großen und letzten Krieg in den Griff zu bekommen.
Es ist richtig und wichtig, zu versuchen, ein gutes Leben zu führen. Es ist aber genauso wichtig, die Machtstrukturen hinter der Zerstörung infrage zu stellen und zu ändern.
Axel Mayer
Weitere Informationen: www.mitwelt.org