„Mit Rucksack, Stock und Laute“

Aus DER RABE RALF Oktober/November 2021, Seite 18

120 Jahre Wandervogel – eine Annäherung an die erste deutsche Jugendbewegung

Eine Wandervogel-Gruppe aus Berlin auf großer Fahrt, um 1930. (Foto: Scherl Bilderdienst/​ADN Zentralbild/​Bundesarchiv/​Wikimedia Commons)

Wer hat euch Wandervögeln
Die Wissenschaft geschenkt,
Dass ihr auf Land und Meeren
Nie falsch den Flügel lenkt?
Dass ihr die alte Palme
Im Süden wieder wählt,
Dass ihr die alten Linden
Im Norden nicht verfehlt!

So heißt es auf einem Grabstein auf dem Friedhof Dahlem-Dorf. Der Legende nach soll von dieser Grabinschrift die Jugendbewegung des Wandervogels ihren Namen haben.

Gemeinsam wandern in der Natur

Der Wandervogel wurde am 4. November 1901 im Ratskeller des Rathauses von Steglitz – damals eine Kleinstadt mit 25.000 Einwohnern – als Verein für Jugendfahrten gegründet. An dieser Stelle, wo heute eine Shopping-Mall protzt, erinnert eine Gedenktafel an die offizielle Konstituierung des Wandervogel-Vereins. Bereits fünf Jahre zuvor hatte der Jurist Hermann Hoffmann-Fölkersamb mit organisierten Wandertouren für Steglitzer Schüler eine Vorlage dazu geboten.

Die Gründung eines solchen Vereins lag damals regelrecht in der Luft. Es war die Zeit, in der Lord Baden-Powell in England die Boyscout-Bewegung ausrief, als deren Ableger 1911 der Deutsche Pfadfinderbund entstand. Gleichzeitig war es die Zeit der Reformbewegungen, mit denen das Programm des Wandervogels und seiner zahlreichen Abspaltungen korrespondierte. Die Ertüchtigung des Körpers, Freikörperkultur (FKK), der Verzicht auf Alkohol und Nikotin waren ebenso wie die Romantisierung von Natur und Heimat wichtige Bezugspunkte. Ein weiterer Aspekt ist die Bekleidung – weg von der Korsettmode zugunsten einer praktischen Kleidung.

Männliche Bünde aus bürgerlichen Haushalten

Der Zupfgeigenhansl, Titelblatt der Erstausgabe von 1909 (Foto: Archiv der deutschen Jugendbewegung)

Von der Romantik inspiriert, fingen auch die Wandervögel an, Volkslieder zu sammeln. Ein Teil davon wurde im bekannten Liederbuch „Der Zupfgeigenhansl“ (1909) abgedruckt. Wandern, gegenseitiges Vorlesen und gemeinsames Musizieren schufen ein Gemeinschaftsgefühl und einen Ort ohne Eltern für die anfänglich rein männlichen Bünde aus bürgerlichen Haushalten. Die Bewegung lässt sich deshalb auch als Ausdruck einer Initiationsphase lesen, die von der Loslösung vom Elternhaus in die Erwachsenenwelt führte.

Um 1905 tauchten die ersten Wanderschwestern auf, was in den Kreisen des Wandervogels nicht unumstritten blieb, war doch die rein männliche Gemeinschaft der ursprünglichen Wandervögel einem homoerotischen Ideal verpflichtet. Gerade für den Schriftsteller Hans Blüher, dessen Erinnerungen an den Wandervogel eine sehr wichtige Rolle in der modernen Rezeption spielen, war der Wandervogel ein Bund, an dem er seine Ideale und Vorstellungen vom „mannmännlichen Eros“ festmachte. Auch in Europas erster Schwulenzeitung „Der Eigene“ wird der Wandervogel wiederholt zum Thema von Artikeln und Prosatexten.

Ebenso hat die Reformpädagogik auf den Wandervogel gewirkt und versucht, eine neue, „natürliche“ Pädagogik in den Reihen der Jugendbewegung zu etablieren. Hier ist vorrangig Ludwig Gurlitt zu nennen, der am Steglitzer Gymnasium unterrichtete.

Emanzipatorisch bis reaktionär

Die Wirkung des Wandervogels ging aber noch weiter. In ihm ist ein Vorbild für alle späteren Jugendverbände zu erkennen – auch wenn sie politisch so unterschiedlich ausgerichtet waren wie die linkssozialdemokratischen Falken, die nationalsozialistische Hitlerjugend, die aus der Arbeiterbewegung entstandene Naturfreundejugend oder die kommunistische Freie Deutsche Jugend (FDJ). Alle diese Jugendverbände gehen auf den Verein aus Steglitz zurück, der bereits 1914 auf 40.000 Mitglieder anwuchs.

Am Rathaus Steglitz erinnert eine Tafel an die Gründung. (Foto: Wilfried Roemer/​Wikimedia Commons)

Das Thema Wandervogel ist – so viel sollte deutlich geworden sein– sehr vielschichtig. Hier ist ein Kristallisationspunkt für viele Strömungen und Entwicklungen zu erkennen. Einer der wesentlichen Aspekte ist dabei auch der Bezug zur ökologischen Bewegung.

Im Wandervogel herrschte überwiegend ein romantisiertes Naturbild vor. Bis heute lassen sich bekanntlich in der deutschsprachigen Ökologiebewegung Spuren der deutschen Romantik und ihrer Naturverklärung finden. In Verbindung mit der ebenfalls sehr stark in der deutschen Gefühlswelt verankerten Liebe zur „Heimat“, waren Teile des Wandervogels auch anfällig für Parolen à la „Naturschutz ist Heimatschutz“. Es verwundert daher wenig, dass ein Teil der recht heterogenen Bewegung später von Vertretern der sogenannten Konservativen Revolution und des deutschen Nationalismus rekrutiert werden konnte.

Ein wichtiges Verbindungsglied zwischen dem Wandervogel, der Ökologiebewegung und der Konservativen Revolution stellt der Autor Ludwig Klages dar. Seine Rede „Mensch und Erde“, die er 1913 beim Ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner im Osthessischen Bergland hielt, wurde zu einer programmatischen Schrift der sich damals gründenden Ökologiebewegung. Klages‘ Werk ist allerdings nicht frei von irrationalen Zügen und antisemitischen Grundtönen.

Vor dem aufgezeigten Hintergrund bleibt die Würdigung des Wandervogels eine zwiespältige Sache. Waren die Grundgedanken auch revolutionär und emanzipatorisch, bildeten sie doch gleichzeitig einen Nährboden für reaktionäre Strömungen und schließlich den Nationalsozialismus.

Maurice Schuhmann

Am 2. November um 18 Uhr bietet der Autor einen Vortrag über den Wandervogel als Online-Veranstaltung der Volkshochschule Steglitz an. Eine Anmeldung über die VHS ist erforderlich: www.berlin.de/vhs (Suchbegriff: Wandervogel)

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