Aus DER RABE RALF Juni/Juli 2023, Seite 1
Komplexe Planungen werden beschleunigt – und kaum noch jemand kommt mit
Im Jahr 1990 hat die deutsche Ministerialbürokratie den Begriff der „Planungsbeschleunigung“ erfunden. Ziel war es, auch im Osten des Landes gleich gute Autobahnen, Eisenbahntrassen und Wasserstraßen wie in Altdeutschland zu schaffen. Ein größtenteils notwendiges Projekt, ohne Frage, denn die ostdeutsche Infrastruktur war nicht im besten Zustand. Schade an der Beschleunigungsplanung war nur, dass alles mit einer Art „Basta“-Politik weitgehend ohne Beteiligung der Öffentlichkeit ablaufen sollte und so die in der Wendezeit in Ostdeutschland eingeübte Beteiligungskultur gleich mal wieder zurechtgestutzt wurde.
Ein Lieblingswort der Ampel
Weil das in der Folgezeit aber mit der Beschleunigung so gut zu funktionieren schien, konnten bis heute kaum Bundesregierungen von der Beschleunigungsdroge lassen. Das funktionierte auch deshalb immer so gut, weil bis heute niemand nachfragte, was denn wirklich besser wurde in der Praxis und was wirklich geholfen hat. Bis heute wird mit immer gleichen Argumenten – die Planungen dauerten zu lange, die Infrastruktur sei marode – die Forderung begründet, die Planungsprozesse müssten deutlich schneller werden. Merkwürdig ist nur, dass scheinbar trotz der Dutzenden Bundesgesetze seit 1990 die echte Beschleunigung nie eingetreten ist.
Auch die Ampelkoalition in Berlin hat sich von der Beschleunigungsdroge anstecken lassen. Im Koalitionsvertrag von 2021 hat man bereits mächtig „Macherqualitäten“ demonstriert. Nicht weniger als 21-mal kam das Wort Beschleunigung in der Klimaeröffnungsbilanz der Bundesregierung auf nur 36 Seiten vor. Und auch im 177 Seiten langen Regierungsprogramm war Beschleunigung das Schlagwort schlechthin.
Der Unterschied: Bislang waren die Grünen immer der Auffassung, die Planungsbeschleunigung soll kein Instrument zum Abbau von Bürger- und Klagerechten sein. Sie soll auch nicht die Standards im Umweltschutz absenken. Das hat im Wesentlichen bis 2021 gut funktioniert. Nun aber verläuft die Konfliktlinie plötzlich anders und sorgt für nahezu unauflösbare sogenannte Dilemmata. Zum einen sind die Grünen als Regierungskraft sozusagen von vornherein gezwungen, einem gewissen Zeitgeist zu folgen. Und der verlangt, zumal in einem Industrieland wie Deutschland, so zu tun, als ob man als Regierung alle Hebel in der Hand hätte. Und zum anderen gibt es die Jahrhundertaufgabe Klimaschutz. Da die Vorgängerregierungen allesamt das Thema eher nur diskutiert statt wirklich angepackt haben, drängt nun die Aufgabe umso stärker.
Klimaschutz gegen Naturschutz
Die neue Konfliktlinie verläuft nun mitten durch das grüne Herz der Umweltbewegten, aber auch der grünen Kräfte in der Regierung. Klimaschutz gegen Naturschutz. Und was da derzeit in der Regierung Vorrang hat, wird an der Beschleunigungsgesetzgebung klar. Mit einem Frühjahrs- und Sommerpaket ist die Bundesregierung 2022 gestartet. Eine regelrechte „Beschleunigungswende“ für die Klima- und Energiewende ist das Ziel dieser Maßnahmenpakete.
Der entscheidende Unterschied: Beschleunigt wird nun – im Gegensatz zu früher – für den Klimaschutz, also für erneuerbare Energien. Der Schlüsselsatz lautet hier: „Die Errichtung und der Betrieb von Anlagen sowie den dazugehörigen Nebenanlagen liegen im überragenden öffentlichen Interesse und dienen der öffentlichen Sicherheit.“ Und genießen damit Priorität gegenüber allen anderen Bereichen oder Anforderungen. Und dieser Aspekt (gesetzesdeutsch: Belang) wird so lange Vorrang haben, bis Deutschland klimaneutral ist. Betroffen sind durch das Frühjahrs- und Sommerpaket von 2022 alle Anlagen zur Bereitstellung erneuerbarer Energien wie Solarparks und Windkraftanlagen sowie der Netzausbau. Das Bundesnaturschutzgesetz wurde entsprechend geändert – über sogenannte Ausnahmetatbestände in den Paragrafen 34 und 45. Windräder können nunmehr auch in Landschaftsschutzgebieten errichtet werden.
Priorität für Straßenbau
Was mit der neuen Abwägungsformel – verkürzt gesagt, im Zweifel für die erneuerbaren Energien – nach einem notwendigen, aber hinzunehmenden Übel aussieht, entpuppt sich in der Realpolitik der Bundesregierung allerdings als echter Bumerang. Gibt es für den Ausbau der erneuerbaren Energien und damit für mehr Klimaschutz noch eine Rechtfertigung, so ist diese für andere Bereiche der Industrie- oder Infrastruktur-Ertüchtigung nicht mehr so einfach zu erkennen.
Dennoch hat die Bundesregierung mit dem Entwurf eines „Gesetzes zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich“ vom vergangenen April dem Ausbau von Straßen und Autobahnen ebenso das überragende öffentliche Interesse zugestanden. Nachdem die Ampelregierung Anfang März im Koalitionsausschuss tagelang beraten und dann die stattliche Zahl von 144 Bauprojekten präsentiert hatte, fragte man sich, mit welcher Begründung sie diese Vorhaben nun als prioritär einstuft. Die Antwort: Es gibt keine.
Schaut man in den Gesetzentwurf, wird dort lediglich festgestellt, dass diese Straßenbauvorhaben – inzwischen sind es 148 – überragend wichtig seien. Die Begründung für die Bevorzugung dürfte dem Gesetzgeber auch schwerfallen, denn aus Klimaschutzgründen können Straßen nicht mit Vorrang gebaut werden. Das wäre absurd. Aber auch alle anderen Gründe würden nur weitere Industriebranchen auf die Idee bringen, nun ebenfalls das überragende öffentliche Interesse für sich einzufordern.
Vorrang für alles?
Vielleicht wäre dies ohnehin die „Lösung“. Wo alles prioritär ist, kann am Ende dann doch niemand die Bevorzugung erhalten. Ein gesetzliches Pseudoinstrument. Derzeit jedenfalls sieht es so aus, als wenn neben dem prioritären Ausbau der erneuerbaren Energien auch andere Sektoren der Wirtschaft in den Bevorzugungsstatus kommen werden. Und das bedeutet immer auch: weniger öffentliche Mitsprache und weniger Klagemöglichkeiten.
Neben der Bundesebene ist in Sachen Beschleunigung nun auch die Europäische Union aufgewacht, nachdem dort jahrelang keine Initiativen zu bemerken waren. Aber der Ukraine-Krieg sowie die Notwendigkeit, mehr gegen die Klimakrise zu unternehmen, haben auch in der EU neue Ideen und Initiativen für ein energiepolitisches Umsteuern entstehen lassen. Unter dem Slogan „Repower EU“ hat die EU-Kommission die gemeinsame Beschaffung von Erdgas, Flüssigerdgas (LNG) sowie Wasserstoff priorisiert. Ebenfalls bevorzugt werden neue Energiepartnerschaften und der Ausbau der Biomethan-Erzeugung. Die gesetzlich priorisierende Formel in der EU gibt dem Ausbau der erneuerbaren Energien ein überwiegendes öffentliches Interesse. Außerdem liegt der Ausbau im Interesse der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit.
Keine Umweltprüfung mehr für Einzelprojekte
Damit verbunden ist die Abkehr von Genehmigungen für Einzelvorhaben. Künftig wird es genügen, wenn in einer sogenannten Go-to-Area festgestellt wurde, dass der Ausbau erneuerbarer Energien prinzipiell in Ordnung ist. Statt einer Umweltverträglichkeitsprüfung für ein Einzelvorhaben mit potenziell großen Auswirkungen auf die Umwelt soll es künftig genügen, dass eine strategische Umweltprüfung für ein großes Gebiet – sagen wir den Kreis Teltow-Fläming in Brandenburg – auf einer übergeordneten Ebene festgestellt hat, dass im Allgemeinen keine unüberwindbaren Hindernisse für solche Bauvorhaben bestehen, wie beispielsweise neue Windparks. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung für das jeweilige Vorhaben ist dann nicht mehr nötig.
Wie dieses neue Planungsinstrument sich in die ausgefeilte und jahrelang eingeübte Praxis von Genehmigungsinstrumenten einordnet, ist völlig offen. In jedem Fall ist diese Änderung einer der stärksten Eingriffe in das Instrumentarium von Umweltplanung seit Jahrzehnten.
Michael Zschiesche
Der Autor leitet das Fachgebiet Umweltrecht und Partizipation beim Unabhängigen Institut für Umweltfragen (UfU e.V.) in Berlin.
Weitere Informationen: www.ufu.de/?s=Stellungnahme
Beschleunigungsgesetze seit 2021 und ihre Auswirkungen – eine Auswahl
2021 | Investitionsbeschleunigungsgesetz | Kleine Einschränkungen des Rechtsschutzes |
2022 | LNG-Beschleunigungsgesetz | Praktischer Wegfall der Beteiligungsmöglichkeiten, da keine Prüfung innerhalb der Stellungnahmefristen mehr möglich ist |
2022 | „Osterpaket“ | Geringere Begründungserfordernisse für Antragsteller |
2022 | EU-Notfallverordnung | Wegfall der Umweltverträglichkeitsprüfung, weniger Rechtsschutz |
2023 | Novelle der Verwaltungsgerichtsordnung | Geringere Kontrolldichte im Eilverfahren |