Aus DER RABE RALF April/Mai 2020, Seite 10
„Rewilding“ – ein dynamisches Konzept für den Naturschutz der Zukunft?
Die Natur muss geschützt werden! Aber wie? Der klassische Naturschutz will vor allem einen guten Status quo erhalten, während das sogenannte Rewilding die ständige Veränderung ermöglichen will. Kann dieser Ansatz helfen, wieder mehr Wildnis in Deutschland zuzulassen?
Tiere gestalten die Landschaft
Das Konzept des „Rewilding“, das vor etwa 20 Jahren in Nordamerika aufkam, findet inzwischen auch in Europa immer mehr Verfechter. Durch die Wiederansiedlung von Schlüsselarten sollen dynamische Prozesse in Gang gebracht werden.
Wisent, Wildpferd und Auerochse streiften einst über den ganzen europäischen Kontinent. Solche Megaherbivoren, also große Pflanzenfresser, sollen nach dem Willen der Organisation „Rewilding Europe“ bald zurückkehren. Entsprechende Nachzüchtungen sind bereits in den Niederlanden, Rumänien und Spanien unterwegs.
Als Gegengewicht zu den Pflanzenfressern braucht es Spitzenprädatoren. Das sind Raubtiere, die ganz oben in der Nahrungskette stehen, wie Wölfe und Bären. Sie dezimieren nicht nur die Zahl der Beutetiere, sondern verändern mit ihrer Anwesenheit vor allem deren Verhaltensmuster.
Die Aktivitäten der großen Tierarten gestalten die Landschaft um. Während an der einen Stelle Bäume zurückgedrängt werden, können sie vielleicht an anderer Stelle wieder wachsen. Idealerweise entsteht dabei ein anpassungsfähiges Ökosystem, das nicht durch Menschen gemanagt werden muss. Am Ende profitieren nicht nur die Schlüsselarten, sondern ganz vielfältige Arten von Bäumen über Insekten bis zu Pilzen.
Natürlich beschränken sich die Tiere nicht auf die ihnen zugewiesenen Flächen. So kann es in dichter besiedelten Gebieten zu Konflikten mit dem Menschen kommen. Der Yellowstone-Nationalpark in den USA ist etwa halb so groß wie das Bundesland Sachsen. Über Schutzgebiete dieser Größenordnung verfügt Deutschland nicht, dafür herrschen Kulturlandschaften vor. Das heißt aber nicht automatisch, dass es keine Natur gibt.
Naturschutz mit der Sense
Einige traditionelle Landnutzungsformen zeichnen sich ebenfalls durch eine große biologische Vielfalt aus. Der Ansatz des klassischen Naturschutzes ist es, helfend einzugreifen, statt Flächen sich selbst zu überlassen. Ein Beispiel sind Streuobstwiesen. Sie gehören zu den artenreichsten Biotopen Deutschlands – etwa 5000 Tier- und Pflanzenarten wurden bereits auf Streuobstwiesen gezählt. Hochstämmige Obstbäume mit Höhlen und Totholz bieten Unterschlupf für Fledermäuse und Vögel. Insekten profitieren von der Vielfalt der Wildpflanzen.
Ohne eine schonende Bewirtschaftung durch den Menschen gehen diese Lebensräume jedoch verloren. Die Wiesen müssen extensiv beweidet oder gemäht werden, um nicht mit Büschen zuzuwachsen. Die Obstbäume müssen gepflanzt und gepflegt werden. Der Ansatz, die Natur komplett sich selbst zu überlassen, wie es das Rewilding vorsieht, kann klassische Naturschutzkonzepte somit nicht ersetzen – aber ergänzen.
Zu wenig Wildnis
Wildnis, also vom Menschen weitgehend unbeeinflusste Naturlandschaft, macht in Deutschland nur 0,6 Prozent der Landesfläche aus. Die Bundesregierung hat sich in ihrer „Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt“ zum Ziel gesetzt, diese Fläche auf zwei Prozent zu erhöhen. In der Initiative „Wildnis in Deutschland“ haben sich 19 Naturschutzorganisationen wie NABU, BUND, Greenpeace und Grüne Liga zusammengeschlossen, die die Wildnisziele mit Flächenprojekten, Öffentlichkeitsarbeit und Fachwissen unterstützen.
Manuel Schweiger koordiniert dieses Netzwerk und ist außerdem Leiter des Deutschlandprogramms der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt. Im Gespräch mit dem Raben Ralf erklärt er, welche Anregungen Rewilding für den Naturschutz in Deutschland liefern kann und wieso Deutschland im internationalen Vergleich hinterherhinkt.
Der Rabe Ralf: Herr Schweiger, Sie setzen sich für mehr Wildnis ein. Ist das Konzept des Rewilding aus Ihrer Sicht auf Deutschland übertragbar?
Manuel Schweiger: Der Begriff Rewilding wird sehr unterschiedlich gebraucht. Wir verwenden den Begriff bewusst nicht und distanzieren uns auch ein Stück weit davon. Er wird sehr stark von Gruppen besetzt, die vor allem die Wiedereinführung von großen Tieren – besonders Pflanzenfressern – verfolgen. Es stimmt, dass diese Tiere viel Dynamik in Gebiete hineinbringen. Aber unser Ansatz ist andersherum: Wir müssen erst einmal Lebensräume schaffen, in denen überlebensfähige Populationen ohne das Zutun des Menschen ihren Platz finden. Im Idealfall kommen die Tiere dann von selbst. Das sehen wir bei den Wisenten und den Elchen, die sich nun langsam von Osten her in Deutschland von allein ausbreiten. Für diese Tiere soll es geeignete Rückzugsräume geben.
Wie würden Sie den Ansatz für Deutschland beschreiben?
Rewilding besagt ja auch, dass wir wieder mehr dynamische Prozesse in die Landschaft bringen müssen. Diesen Aspekt unterstützen wir als Initiative „Wildnis in Deutschland“. Dieses Mehr an Dynamik reicht von mehr Wildpflanzen auf dem Acker bis hin zu den großen Wildnisgebieten, für die wir uns stark machen.
Die Feststellung, dass Natur etwas Dynamisches ist, ist tatsächlich noch relativ neu im Naturschutz. Das sieht man an der FFH-Richtlinie, der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der EU für das europaweite Schutzgebiets-Netzwerk „Natura 2000“. Diese Richtlinie verfolgt einen statischen Ansatz für den Naturschutz: Es geht immer darum, ein Habitat oder eine Art in einen bestimmten Zustand zu erhalten.
Die Intention, die Natur zu schützen, ist richtig. Aber gerade in Zeiten des Klimawandels wird uns vor Augen geführt, dass wir der Natur Spielräume geben müssen. Gleichzeitig kennt auch der klassische Naturschutz schon seit Jahrzehnten Maßnahmen, wie sie der Ansatz des Rewilding umschreibt, zum Beispiel die Renaturierung von Bächen. Wenn es wirklich um Wildnis geht, also Gebiete, aus denen sich der Mensch weitgehend zurückzieht und wo die Natur sich frei entfalten darf, dann sprechen wir lieber von Wildnisentwicklung als von Rewilding.
Die Bundesregierung will bis 2020 auf zwei Prozent der Landesfläche Wildnisgebiete schaffen. Ist das viel?
Das Ziel ist also absolut sinnvoll. Viele Verbände sagen, es müsste eigentlich noch mehr sein. Wenn wir uns international vergleichen, gehören wir eher zu den Schlusslichtern. Andere, ärmere Nationen tun viel mehr für ihre Naturlandschaften. Es ist wichtig, große zusammenhängende Gebiete zu sichern, um auch den Naturgewalten Raum geben zu können. Eintausend Hektar sollten es schon sein: Das ist ein Kreis von dreieinhalb Kilometern Durchmesser. Diese Flächen im dicht besiedelten Deutschland überhaupt zu finden und dann die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass hier die Natur frei walten darf: das sind schon langwierige Prozesse.
Sind wir denn auf einem guten Weg?
Es gibt jetzt ein neues Förderprogramm vom Bund: den Wildnisfonds. Jedes Jahr werden 10 Millionen Euro für den Kauf und die Sicherung von neuen Wildnisflächen bereitgestellt mit einer 100-Prozent-Förderung auf den Kaufpreis. Das ist eine Forderung, die von unserem Netzwerk gestellt wurde und die helfen wird, dem Ziel näher zu kommen. Mit dem Geld ist es künftig einfach, die Flächeneigentümer zu überzeugen. Vor allem die Bundesländer, die Kommunen und die privaten Eigentümer sind gefragt – und da muss man zum Teil dicke Bretter bohren.
Aber wir haben die Unterstützung der Öffentlichkeit: Die Mehrheit will mehr Wildnis in Deutschland. Wir wollen nicht, dass dieses Ziel nur in irgendwelchen Akten verschwindet.
Wildnisgebiete sind auch eine Attraktion für Menschen. Gibt es da ein Risiko, dass zu viele Menschen in die Wildnis kommen?
Also, der Run auf die Wildnis ist ziemlich groß. Im Gegensatz zu der sonst vorherrschenden Naturentfremdung ist in den Nationalparks ein gegenteiliger Effekt zu beobachten. Einige Schutzgebiete erreichen schon kritische Punkte, was den Besucheransturm angeht. Aber das zeigt doch auch, wie groß das Bedürfnis nach Wildnis in der Gesellschaft ist! Wir brauchen unbedingt mehr davon.
Vielen Dank für das Gespräch!
Text und Interview: Sarah Buron
Weitere Informationen:
www.wildnis-in-deutschland.de
Tel. 069 / 94344633
www.rewildingeurope.eu
www.bmu.de/ws4527