Der Klimanotstand kommt so oder so

Aus DER RABE RALF April/Mai 2024, Seite 10

… zur Begrenzung oder als Folge der Klimakatastrophe

Klimastreik für Klimanotstand. (Foto: Diego Hättenschwiler/​Wikimedia Commons)

Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert. (Albert Einstein)

Wir befinden uns mitten in der Klimakatastrophe, doch die unbequeme Wahrheit darf nicht ausgesprochen werden, denn sie könnte den Geschäftsklimaindex und das Börsenbarometer negativ beeinflussen, das, worum es im Kapitalismus eigentlich geht. „Wahr ist nur, was uns nutzt!“, lautet das perfide Motto.

Wir sind offensichtlich verblendet, einem Wahn verfallen, der uns nicht stillstehen lässt in unserem zerstörerischen Tun, wie Goethes Zauberlehrlinge. „Dass alles so weitergeht, ist die Katastrophe“, wusste schon Walter Benjamin. Doch keiner weiß das Zauberwort, dass dem Spuk ein Ende machen könnte.

Als hätten wir nicht schon genug geschafft, so viel, dass davon die Welt aus den Fugen geht. Zeit aufzuwachen und innezuhalten, um zu bemerken, was die Stunde geschlagen hat. Fünf vor zwölf ist es jetzt immerhin schon seit 30 Jahren.

Neue unbequeme Wahrheiten

Die Wahrheit wird nicht gemocht – wer will schon wissen, dass es jetzt vielleicht schon viertel nach vier ist, und außerdem hat man zu tun. Nichtsdestotrotz müssen wieder einige neuere unbequeme Wahrheiten ausgesprochen werden, damit keiner sagen kann, er habe es nicht gewusst.

2023 war das bisher wärmste Jahr, und es war vollgepackt mit Katastrophen, wie sich einige vielleicht dunkel erinnern werden: Kanada, Griechenland, Libyen. Die vielbeschworene 1,5-Grad-Grenze des Pariser Klimaabkommens ist schon gefallen, die Süddeutsche Zeitung verkündete es am 9. Februar auf der Titelseite. Ende Januar waren erstmals 12 Monate jenseits des Klimalimits gemessen worden. An Land hat die Erderwärmung vielerorts schon 2,3 Grad erreicht, wie das Blatt berichtete, so auch in Deutschland und Europa.

Das Jahr 2024 ließ schon in den ersten beiden Monaten erkennen, dass es 2023 wohl noch in den Schatten stellen wird. Der Februar lag mit beispiellosen 6,6 Grad Celsius um 6,2 Grad über dem Wert der gültigen Referenzperiode von 1961 bis 1990. Von „Temperaturen, die eher für Mitte April typisch wären“, sprach der Deutsche Wetterdienst. Der Winter war in Deutschland insgesamt rund vier Grad zu warm.

Global lag die Temperaturkurve der ersten beiden Monate um 0,4 Grad über der des Vorjahres. Es dürfte sich dabei nicht nur um einen „El-Niño-Ausrutscher“ handeln, denn das gerade wieder im Pazifik auftretende Wetterphänomen El Niño bringt weltweit nur 0,1 bis 0,2 Grad Erwärmung.

Was es bedeutet, wenn das so weitergeht, kann sich jeder selbst ausrechnen. „Der Spiegel“ beschreibt den neuen Zustand schon mal als „Normalität der Extreme“. Aber Normalität dürfte bei diesen Entwicklungen schon bald nicht mehr möglich sein.

Den Ernst der Lage nicht begriffen

„Die Politik hat den Ernst der Lage nicht begriffen“, hieß unsere gemeinsame Stellungnahme von Anfang 2023 zur Räumung von Lützerath (Rabe Ralf August 2023, S. 12). Ein Jahr später muss man diese Diagnose erneut stellen.

Das gilt auch für die internationale Klimapolitik. Die Klimakonferenz COP 28 in Dubai wurde wieder von fossilen Weitermachern sabotiert und erwies sich erwartungsgemäß als unwillig und unfähig, den Klimaamoklauf der Menschheit zu beenden. Der Klimagipfel verkündete lediglich die Binsenweisheit, dass man von fossilen Brennstoffen wegkommen müsse, um die Treibhausgasemissionen zu senken. Letztlich ein klarer Sieg der „Weiter so“-Fraktion, der nicht nur das größte Politikversagen der Geschichte darstellt, sondern sich als Weg in den kollektiven Selbstmord erweisen dürfte.

Die Politik ignoriert offenbar bewusst die aktuellen Studien und Forschungsergebnisse zum noch verfügbaren Restbudget für CO₂-Emissionen, das in maximal sieben Jahren erschöpft sein wird. Die heutige Klimapolitik beruht auf spekulativen Annahmen, zum Beispiel über eine künftige CO₂-Rückholung in großem Stil, wobei niemand genau weiß, wie das geschehen soll. Die Politik vertagt das Emissions- und Erwärmungsproblem in unverantwortlicher Weise immer weiter in die Zukunft, macht es damit faktisch unlösbar und nimmt kommenden Generationen jede Handlungsfreiheit, wie auch schon das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat.

2023 wurden in Deutschland 2,8 Millionen neue Autos zugelassen und es geht immer noch um „Wachstumschancen“ und nicht um Umwelt- und Klimaschutz. Doch wenn der Kampf gegen die Erderwärmung nicht erheblich verschärft wird, werden die Pariser Klimaziele verfehlt, warnte der Klimawissenschaftler Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut kürzlich im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. „Schon in einer Generation wird dieses Versagen wahrscheinlich als Verbrechen gegen die Menschheit gewertet werden.“

Klimanotstand: Ermächtigung der Vernunft

Es hilft nichts, es muss immer wieder gesagt werden: Die Zuspitzung der Klima- und Umweltkrise erfordert ein sofortiges verbindliches Umsteuern. Ganz konkret ginge es um die Ausrufung des „Klimanotstands“ als Rechtsnorm, um rechtliche und finanzielle Veränderungen und Verbindlichkeiten, die einer solchen Notlage angemessen sind. Hier kann man Parallelen zum Corona-Notstand ziehen.

Die EU, mehrere EU-Länder und viele Städte und Kommunen haben schon vor mehreren Jahren einen „Goodwill-Klimanotstand“ ausgerufen. Eine entsprechende UN-Aufforderung erging 2020 an alle Staaten. Die Einhaltung des Klimavertrags von Paris erfordert dringend einen echten Notstand. Auch kommen diesbezüglich Forderungen aus der Wissenschaft, wie vor Kurzem der weit verbreitete Aufruf an die WHO wegen einer globalen gesundheitlichen Notlage aufgrund des Klimawandels.

Das Machtkartell der Profiteure und Lobbyisten der fossil-mobilen Zerstörungsorgie darf nicht länger seine verantwortungslose und kriminelle Weiter-so-Politik betreiben. Es braucht einen Klimagerichtshof, der die Emissionsreduzierung durchsetzt. Es gilt, die Brandstifter in Politik und Wirtschaft weltweit zu entmachten und der Vernunft an die Macht zu verhelfen, um den Absturz in Chaos und Barbarei noch zu verhindern und das Überleben der Menschheit zu sichern.

Jürgen Tallig

Weitere Informationen: earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com

Beiträge von Jürgen Tallig


Leserbrief

Aus DER RABE RALF August/September 2024, Seite 30

Mit einem Notstand à la Corona wird es nicht klappen

Was für dramatische Worte. Der Verfasser möchte durch „Ausrufung des ‚Klimanotstands‘“ „den Absturz in Chaos und Barbarei … verhindern“ und sieht dabei wünschenswerte „Parallelen zum Corona-Notstand“. Bloß das nicht!

Die meisten der verordneten Maßnahmen als Reaktion auf die Corona-Krise haben mehr Leid verursacht als verhindert. Wie inzwischen bekannt geworden ist, fußte keine der Maßnahmen auf wissenschaftlichen Daten, sondern es waren rein politische Entscheidungen. Es gab keine demokratische Debatte, wie diese Krise zu bewältigen sei. Der Meinungskorridor (wie leider heutzutage bei vielen wichtigen Themen) wurde von Politik und Medien immer weiter eingeengt. Kritiker wurden diffamiert, Meinungen kontra die Regierungslinie als rechts diffamiert, aber nicht diskutiert. Es wurde bewusst ein Klima der Angst geschaffen, um Maßnahmen durchsetzen zu können, die vormals undenkbar waren. Die Kassen der Pharmariesen haben sich mit Steuergeldern gefüllt. Auch wenn die Corona-Krise offiziell für beendet erklärt wurde, wurde keines der verschärften Gesetze für mehr Überwachung und weniger Freiheit wieder zurückgenommen. Am Ende lässt sich nur feststellen: Die globale Finanzindustrie hat gewonnen, die Menschheit vieles verloren.

So etwas brauchen wir nicht in der Umweltkrise. Es braucht eine breite Debatte, in der alle Meinungen zugelassen sind. Es braucht gut durchdachte Entscheidungen und besonnenes Handeln. Die Umweltkrise ist weitaus komplexer und wird nicht über Nacht gelöst werden. Wie soll eine Gesellschaft aussehen, die über Jahrzehnte im Notstand leben muss? Wie sollen kreative Lösungen entstehen, wie ein lebenswertes Miteinander erhalten bleiben, wenn permanent Angst und Panik geschürt werden? Die heutige Politikerkaste steht stark unter dem Einfluss der globalen Finanzindustrie. Entsprechend werden Umweltthemen mehr und mehr gekapert für noch mehr Profit, ohne dass es echte Lösungen zum Wohle des Planeten und all seiner Bewohner gibt.

Wie wir die Wende hin zu einer lebenswerten Zukunft schaffen sollen, weiß ich nicht. Ich bin aber überzeugt davon, dass es mit einem Notstand à la Corona nicht klappen wird.

Etienne Quiel, Berlin 

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