Aus DER RABE RALF Juni/Juli 2023, Seite 21
Eine solidarische Kritik an den Protestformen der Letzten Generation
Liebe Aktivisti der Letzten Generation, ihr wollt Berlin lahmlegen, „um die Regierung zum Aufbruch zu bewegen“. Grundsätzlich stimme ich euch zu: Ihr seid vermutlich die letzte Generation, die vielleicht – hoffentlich – noch das Ruder herumreißen könnte, um den schlimmsten Klimakollaps und die Unbewohnbarkeit der Erde für die Menschen zu verhindern, oder wenigstens abzumildern. Dass ihr laut seid und Aufmerksamkeit erkämpft, finde ich richtig und notwendig. Insofern finde ich auch die Solidarität mit euch gegen staatliche Verfolgung und Repression richtig und notwendig.
Mit euren Aktionen zur Störung des Verkehrs bin ich jedoch nicht einverstanden. Nicht weil ich persönlich betroffen wäre – meist fahre ich mit dem Rad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln und wurde noch nie von euren Aktionen in der Bewältigung meines Alltags eingeschränkt. Jedoch möchte ich eure Aktionsform politisch-solidarisch kritisieren.
Den Mächtigen das Leben schwer machen
- Sich mit den Händen festzukleben, um etwas zu verhindern oder zumindest demonstrativ zu verzögern, ist ein starkes Signal. Indem ihr eure eigenen Körper einsetzt, signalisiert ihr Entschlossenheit und nehmt Verletzungen in Kauf. Davor habe ich Respekt, auch wenn es nicht meine Form wäre, weil ich meine Gesundheit für kein politisches Ziel riskieren würde.
- Allerdings stehen eure Forderungen – Neun-Euro-Ticket und Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 km/h – für mein Empfinden in keinem Verhältnis zu diesem hohen Einsatz. Beides wären Schritte in eine richtige Richtung und ich weiß, dass ihr mehr wollt – eure Forderung nach einem Gesellschaftsrat wäre ein eigenes diskussionswürdiges Thema. Aber selbst bei einer Konzentration auf das Verkehrsthema gäbe es doch so viel mehr, was jetzt schon ohne aufwendige Partizipationsverfahren zu fordern wäre, zum Beispiel: Entprivatisierung, Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs in der Fläche und Verbesserung der Zuverlässigkeit, Verlagerung von Transporten (die insgesamt herunterzufahren wären) von der Straße auf die Schiene.
- Mein größter Kritikpunkt: Für mich wirken eure Aktionen wie Treten nach unten. Mit der Behinderung des Autoverkehrs tut ihr dem kapitalistischen System nicht weh, sondern schadet vor allem vielen, die aufs Auto angewiesen sind, um ihren oft prekären Arbeitsalltag und ihre Sorgeverpflichtungen zu bewältigen. Damit bringt ihr die Leute gegen euch – und sicher auch einige gegen eure Forderungen – auf. Warum klebt ihr euch nicht dort fest, wo ihr die Richtigen trefft, also beispielsweise vor Autokonzernen, Chemieunternehmen oder Rüstungsschmieden?
- Mit euren Aktionen lenkt ihr die Aufmerksamkeit auf euch selbst und eure Aktionsform – statt auf die notwendigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen. Das passt zum identitätspolitischen Selbstdarstellungsmodus, der in erster Linie ausdrückt: Ich stehe auf der richtigen Seite und darum bin ich besser als andere – ganz im Sinne neoliberaler Konkurrenz.
- Dazu passt auch die moralisierend-vorwurfsvolle Botschaft gegenüber den Autofahrenden: Ihr tut das Falsche, ihr seid schuld, für die Rettung der Menschheit müsst ihr euer Verhalten ändern. Abgesehen davon, dass ihr damit keinen gewinnen werdet, schmiegt sich solche Individualisierung widerspruchsfrei in eine neoliberale Logik ein. Der persönliche CO₂-Fußabdruck wurde nicht umsonst von der Industrie in die Welt gesetzt.
- Die Einengung der Perspektive auf das Klimathema lässt andere, ebenso bedrohliche Katastrophen in den Hintergrund treten – beispielsweise den Verlust der Biodiversität und das Verschwinden des Süßwassers sowie die Krise der Menschenrechte mit der Zunahme von imperialistischen Kriegen, Landraub und Massenmord entlang der Fluchtrouten. Für viele Menschen im Globalen Süden ist ihre Welt schon jetzt unbewohnbar, und dafür tragen die Regierungen der Länder des Globalen Nordens eine wesentliche Mitverantwortung.
- Mit der Bezugnahme auf messbare Parameter wie CO₂-Ausstoß und Temperaturerhöhungen wird übersehen, in welch vielfältigen, fragilen Wechselwirkungen die Prozesse der Natur miteinander stehen. Dies ist noch längst nicht umfassend bekannt und erforscht. Vermeintliche Eindeutigkeiten und lineare Ursache-Wirkungs-Konstruktionen dienen als Türöffner für vereinfachende Klima-Scheinlösungen. Sie bieten marktförmige, zentralistische Hightech-„Lösungen“, die patriarchalen Machbarkeitsvorstellungen folgen und die Profitinteressen von globalen Konzernen und Finanzmarktakteuren bedienen.
Gemeinsam das Ruder herumreißen
Euer Gefühl der Hilflosigkeit kann ich nachvollziehen, und auch, dass ihr in eurer Verzweiflung glaubt, das Richtige zu tun. Mit meiner Kritik möchte ich euch nicht angreifen. Ich verstehe sie als Anregung für notwendige strategische Diskussionen.
Die Gesellschaft ist gespalten und euer Aktivismus spaltet leider auch. Dabei wäre es angesichts erwartbar härterer Zeiten und Notstandssituationen so wichtig, zusammenzurücken. Noch nie in der Geschichte der Menschheit war die Spaltung in Oben und Unten, in Arm und Reich so krass wie heute. Die Gegner sind nicht die ebenfalls betroffenen Mitmenschen, sondern die Institutionen des Kapitals und des Staates. Auch ich spüre Hilflosigkeit angesichts der unfassbar machtvollen illegitimen Vermögensmassen, die mit ihrem politischen Einfluss weltweit die Entdemokratisierung vorantreiben. Hilflosigkeit auch angesichts von immer autoritärer handelnder Staatsgewalt, die sich in immer mehr Ländern zu faschistoider Gewaltherrschaft entwickelt.
Welche Handlungsmöglichkeiten kann es geben, angesichts waffenstarrender Systeme unterschiedlicher politischer Ausprägung und unterschiedlichen geopolitischen Machtblöcken zugehörig? Welche Kräfte „von unten“ könnten dem etwas entgegensetzen? Meine persönlichen Hoffnungen richte ich zunehmend auf Bewegungen im Globalen Süden und auf diejenigen, die hierzulande mit ihnen in Resonanzbeziehungen treten. Vielleicht könnte es dann gemeinsam gelingen, das Ruder noch herumzureißen – auf der Grundlage einer klaren menschenrechtlichen Orientierung, die Menschen als Teil der Natur versteht und deren Erhalt und Pflege höchste Priorität einräumt. Vielleicht …
Elisabeth Voß
Der Beitrag erschien zuerst in der Freitag Community, www.freitag.de/community