Für eine ökosoziale Energiewende

Aus DER RABE RALF August/September 2023, Seite 16/17

Ein Appell an Regierungen, Institutionen und unsere Brüder und Schwestern

„Manifest der Völker des Südens: Für eine gerechte Energiewende von unten“ (Grafik: Angie Vanessita/​Pacto Ecosocial e Intercultural del Sur)

Vorschläge jenseits zerstörerischer Wachstumspfade

Eine Energiewende ist notwendig – aber was heißt das konkret? Um neue, vermeintlich ökologische Energiequellen zu erschließen, werden großindustrielle Vorhaben wie beispielsweise das LNG-Terminal vor Rügen projektiert. Und ausgerechnet aus Namibia soll Wasserstoff importiert werden – in kolonialer Tradition. Solche Klimascheinlösungen haben mit Ökologie nichts zu tun. Sie sollen neue, profitable Geschäftsfelder erschließen.

Das Naheliegendste, eine starke Reduzierung des Energieverbrauchs, würde eine Veränderung der Lebens- und Wirtschaftsweise erfordern. An die Stelle einer wachstumsorientierten Profitwirtschaft müsste ein konsequenter Rückbau treten – im Sinne von „Degrowth“, also Wachstumsrücknahme. Eine solche „Postwachstumsgesellschaft“ bräuchte aber auch andere Wertvorstellungen als das Krisen verursachende Schneller-Höher-Weiter und müsste demokratisch organisiert sein.

Höchste Zeit, auf Stimmen zu hören, die Vorschläge jenseits der zerstörerischen Wachstumspfade formulieren. Stimmen, die keinen patriarchalen Vorstellungen von fast unbegrenzter technischer Machbarkeit anhängen, sondern für ein „Pluriversum“ stehen – für vielfältige Sichtweisen eines Lebens im Einklang mit der Natur (Rabe Ralf Februar 2023, S. 20).

In diesem Sinne ist im Februar dieses Jahres eine Initiative aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern mit einem Manifest an die Öffentlichkeit getreten. Dieser „Ökosoziale und interkulturelle Pakt des Südens“ ist „motiviert durch die Dringlichkeit, eine soziale Dynamik aufzubauen, die in der Lage ist, auf die Dynamik der kapitalistischen Anpassung, der Konzentration des Reichtums und der Zerstörung der Ökosysteme, die wir inmitten der Krise der Zivilisation entstehen sehen, zu reagieren und ihr entgegenzuwirken“.

Neben Organisationen und Einzelpersonen aus Lateinamerika finden sich unter den Erstunterzeichner*innen auch Verbündete aus anderen Kontinenten. Weitere Unterschriften sind erwünscht und können hier eingetragen werden: www.pactoecosocialdelsur.com/manifesto

Elisabeth Voß


Manifest der Völker des Südens

Über zwei Jahre nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie und den katastrophalen Folgen der russischen Invasion in der Ukraine zeichnet sich eine „neue Normalität“ ab. Dieser neue globale Status quo spiegelt eine Verschärfung mehrerer Krisen wider: sozial, wirtschaftlich, politisch, ökologisch, biomedizinisch und geopolitisch. Der ökologische Kollaps rückt näher. Das alltägliche Leben hat sich zunehmend militarisiert. Der Zugang zu guten Lebensmitteln, sauberem Wasser und erschwinglicher Gesundheitsversorgung wurde drastisch eingeschränkt. Immer mehr Regierungen sind autokratisch geworden. Die Reichen wurden noch reicher, die Mächtigen noch mächtiger und die unregulierte Technologie hat diese Trends noch beschleunigt.

Die Triebkräfte dieses ungerechten Status quo – Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus, Kolonialismus, plünderndes und räuberisches Verhalten gegenüber der Natur sowie verschiedene Fundamentalismen – verschärfen die Situation. Deshalb müssen wir dringend neue Visionen des ökosozialen Übergangs und der Transformation diskutieren und umsetzen, die geschlechtergerecht, regenerativ und menschenfreundlich sind, sowohl auf lokaler als auch auf internationaler Ebene.

Neuer grüner Kolonialismus

In diesem Manifest der Völker des Südens für eine ökosoziale Energiewende stellen wir fest, dass sich die Probleme des geopolitischen Globalen Südens von denen des Globalen Nordens und aufstrebender Mächte wie China unterscheiden. Das Machtungleichgewicht zwischen diesen beiden Sphären besteht nicht nur aufgrund des kolonialen Erbes fort, sondern hat sich durch die neokoloniale Weltwirtschaft noch vertieft. Vor dem Hintergrund des Klimawandels, des steigenden Energiebedarfs und des Verlusts der biologischen Vielfalt haben die kapitalistischen Zentren den Druck erhöht, sich natürliche Reichtümer zu verschaffen und sich dabei auf billige Arbeitskräfte aus peripheren Ländern zu stützen. Nicht nur, dass das bekannte Paradigma der Rohstoffgewinnung immer noch gilt, auch die ökologischen Schulden des Nordens gegenüber dem Süden steigen.

Das gegenwärtige Neue ist die „Energiewende“ des Nordens hin zu sauberen Energien, die den Globalen Süden noch mehr unter Druck setzt, um Kobalt und Lithium für die Hightech-Batterieproduktion, Balsaholz für Windturbinen sowie Land für große Solaranlagen und neue Infrastrukturen für Wasserstoff-Megaprojekte bereitzustellen. Diese Dekarbonisierung für die Reichen, die exportorientiert ist und von Großkonzernen vorangetrieben wird, gründet sich auf eine neue Phase der ökologischen Enteignung des Globalen Südens, die das Leben von Millionen von Frauen, Männern und Kindern betrifft und inhumane Lebensbedingungen schafft. Frauen, vor allem in agrarischen Gesellschaften, sind davon mit am stärksten betroffen. Auf diese Weise hat sich der Globale Süden einmal mehr in eine „Opferzone“ verwandelt, in ein Lagerhaus mit vermeintlich unerschöpflichen Ressourcen für die Länder des Nordens.

Eine Priorität des Globalen Nordens war es, die globalen Lieferketten zu sichern, insbesondere für wichtige Rohstoffe, und zu verhindern, dass bestimmte Länder wie China den Zugang monopolisieren. Die Handelsminister der G7-Staaten forderten beispielsweise kürzlich eine „verantwortungsvolle, nachhaltige und transparente“ Lieferkette für kritische Mineralien durch internationale Zusammenarbeit und Finanzpolitik, einschließlich des Handels mit Umweltgütern und -dienstleistungen im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO. Der Globale Norden hat auf weitere Handels- und Investitionsabkommen mit dem Globalen Süden gedrängt, um seinen Bedarf an Ressourcen zu decken, besonders an solchen, die wichtig für die „Energiewende“ sind. Diese Abkommen, mit denen Handels- und Investitionshemmnisse abgebaut werden sollen, schützen und stärken die Macht und die Rechte von Unternehmen, indem sie Staaten potenziellen Klagen im Rahmen der „Investor-Staat-Streitbeilegung“ (ISDS) aussetzen. Der Globale Norden nutzt diese Abkommen, um die Energiewende zu kontrollieren und einen neuen grünen Kolonialismus zu schaffen.

Technische Lösungen reichen nicht aus

Mittlerweile sind die Regierungen des Südens in die Schuldenfalle geraten, durch die Aufnahme von Krediten für große Industrie- und Agrarvorhaben zur Versorgung des Nordens. Um diese Schulden zurückzuzahlen, sahen sich die Regierungen gezwungen, noch mehr Ressourcen aus dem Boden zu holen, wodurch ein Teufelskreis aus Ungleichheit und Zerstörung entstand. Heute hat der Zwang, sich von fossilen Brennstoffen zu verabschieden, ohne dass die Produktion oder der Konsum im Norden bisher nennenswert zurückgegangen wären, den Druck zur Ausbeutung dieser natürlichen Ressourcen nur noch verstärkt. Darüber hinaus hat der Norden, der seine eigene Energiewende vorantreibt, kaum mehr als unverbindliche Worte zu seiner Verantwortung für die Bewältigung seiner historischen und wachsenden ökologischen Schuld gegenüber dem Süden geäußert.

Kleine Veränderungen an der vorhandenen Energiestruktur sind nicht ausreichend. Das gesamte Energiesystem muss umgestaltet werden, von der Erzeugung und Verteilung bis hin zum Verbrauch und zur Abfallentsorgung. Es reicht nicht aus, Autos mit Verbrennungsmotor durch Elektrofahrzeuge zu ersetzen, sondern das gesamte individualistische Verkehrsmodell muss geändert werden, um den Energieverbrauch zu senken und nachhaltige kollektive und öffentliche Mobilitätsoptionen zu fördern.

In diesem Sinne müssen nicht nur die Beziehungen zwischen den Ländern des Zentrums und der Peripherie gerechter werden, sondern auch innerhalb der Länder, zwischen den Eliten und der Bevölkerung. Korrupte Eliten im Globalen Süden haben ebenfalls an diesem ungerechten System mitgewirkt, indem sie von der Ausbeutung profitierten, diejenigen unterdrückten, die die Rechte von Mensch und Natur verteidigten, und die wirtschaftliche Ungleichheit aufrechterhielten. Die Lösungen für diese miteinander verknüpften Krisen sind nicht nur technischer, sondern vor allem politischer Natur.

Wir brauchen mehr politische Phantasie

Als Aktivistinnen und Aktivisten, Intellektuelle und Organisationen aus verschiedenen Ländern des Südens rufen wir die Akteure des Wandels in verschiedenen Teilen der Welt dazu auf, sich für einen radikalen, demokratischen, globalen, geschlechtergerechten, interkulturellen, regenerativen und menschenfreundlichen ökosozialen Wandel einzusetzen, der sowohl den Energiesektor als auch die Industrie und die Landwirtschaft, die von großen Energiemengen abhängen, umgestaltet. Gemäß verschiedenen Bewegungen der Klimagerechtigkeit ist „die Transformation unvermeidbar, die Gerechtigkeit aber nicht“.

Noch ist Zeit, einen gerechten und demokratischen Übergang einzuleiten, der die neokolonialen globalen Beziehungen zwischen Norden und Süden abbaut. Wir können die Transformation vom neoliberalen Wirtschaftssystem in eine Richtung schaffen, die das Leben erhält, soziale Gerechtigkeit mit Umweltgerechtigkeit verbindet, egalitäre und demokratische Werte mit einer widerstandsfähigen, ganzheitlichen Sozialpolitik verbindet und das ökologische Gleichgewicht wiederherstellt, das für einen gesunden Planeten notwendig ist. Aber dafür brauchen wir mehr politische Phantasie und mehr utopische Visionen einer anderen Gesellschaft, die sozial gerecht ist und sowohl die Vielfalt als auch unser gemeinsames Haus auf dem Planeten respektiert.

Die Energiewende muss Teil einer umfassenden Vision sein, die die massive Ungleichheit bei der Verteilung der Energieressourcen angeht und die Energiedemokratie vorantreibt. Sie sollte die großen Unternehmen – die konzerngebundene Landwirtschaft, die großen Energiekonzerne – und die marktwirtschaftlichen Lösungen zurückdrängen. Stattdessen sollte sie die Widerstandsfähigkeit der Zivilgesellschaft und der sozialen Organisationen stärken.

„Sagt Nein zu falschen Lösungen!“ Protest beim letzten Klimagipfel. (Foto: Mike Muzurakis/​IISD/​ENB)

Acht Punkte für eine ökosoziale Energiewende

Deshalb stellen wir in diesem Manifest die folgenden acht Punkte vor:

1. Wir weisen darauf hin, dass eine Energiewende, angeführt durch Megaprojekte von Unternehmen aus dem Globalen Norden und akzeptiert von zahlreichen Regierungen im Süden, die Ausdehnung der Zonen des Leidens im gesamten Globalen Süden, das Fortbestehen kolonialer Hinterlassenschaften, des Patriarchats und der Schuldenfalle bedeutet. Energie ist ein elementares und unveräußerliches Menschenrecht, und Energiedemokratie muss unser Ziel sein.

2. Wir rufen die Völker des Südens auf, die falschen Lösungen abzulehnen, die mit neuen Formen des Energiekolonialismus einhergehen, jetzt im Namen eines „grünen Übergangs“. Wir rufen ausdrücklich dazu auf, die politische Koordinierung zwischen den Völkern des Südens fortzusetzen und gleichzeitig strategische Allianzen mit kritischen Kreisen im Norden zu suchen.

3. Um die verheerenden Folgen der Klimakrise abzumildern und einen gerechten und menschenfreundlichen ökosozialen Übergang voranzutreiben, fordern wir die Begleichung der ökologischen Schuld. Dies bedeutet angesichts der übergroßen Verantwortung des Globalen Nordens für die Klimakrise und den ökologischen Kollaps die reale Umsetzung eines Systems der Entschädigung für den Globalen Süden. Dieses System muss einen umfangreichen Transfer von Finanzmitteln und geeigneter Technologie beinhalten und den Ländern des Südens die Staatsschulden erlassen. Wir unterstützen eine Politik der Entschädigung für Verluste und Schäden, die indigene Völker, gefährdete Gruppen und lokale Gemeinschaften durch Bergbau, Großstaudämme und schmutzige Energieprojekte erlitten haben. Wir unterstützen auch die Kämpfe um die Legalisierung und Rückgabe der kollektiven Territorien indigener Völker in aller Welt.

4. Wir lehnen die Ausweitung der Förderung fossiler Rohstoffe in unseren Ländern – durch Fracking und Offshore-Projekte – ab und weisen den heuchlerischen Diskurs der Europäischen Union zurück, die kürzlich Erdgas und Kernenergie zu „sauberer Energie“ erklärt hat. Wie bereits in der Yasuní-Initiative in Ecuador im Jahr 2007 dargelegt, die inzwischen von vielen gesellschaftlichen Sektoren und Organisationen unterstützt wird, setzen wir uns dafür ein, die fossilen Brennstoffe im Boden zu lassen und die sozialen und arbeitsrechtlichen Bedingungen zu schaffen, die notwendig sind, um den Extraktivismus, den Raubbau, aufzugeben und eine Zukunft nach den fossilen Brennstoffen anzustreben.

5. Ebenso lehnen wir grünen Kolonialismus in Form von Landraub für Solar- und Windparks, den wahllosen Abbau seltener und kritischer Mineralien und die Förderung technologischer „Lösungen“, wie blauer, grüner und grauer Wasserstoff, ab. Abschottung, Ausgrenzung, Gewalt, Invasion und Verschanzung haben in Vergangenheit und Gegenwart die Nord-Süd-Energiebeziehungen geprägt, sie sind in einer Zeit des ökosozialen Wandels nicht akzeptabel.

6. Wir fordern den wirksamen Schutz von Naturschützer:innen und Verteidiger:innen der Menschenrechte, insbesondere von indigenen Völkern und Frauen, die an vorderster Front des Widerstands gegen den Extraktivismus stehen.

7. Die Beseitigung der Energiearmut in den Ländern des Südens muss eines unserer grundlegenden Ziele sein, ebenso wie die Beseitigung der Energiearmut in Teilen des Globalen Nordens durch alternative, dezentralisierte und gerecht verteilte Projekte für erneuerbare Energien, die sich im Besitz der jeweiligen Gemeinschaften befinden und von diesen selbst betrieben werden.

8. Wir prangern internationale Handelsabkommen an, die Länder bestrafen, die die Förderung fossiler Brennstoffe einschränken wollen. Wir müssen den von multinationalen Konzernen kontrollierten Handels- und Investitionsabkommen Einhalt gebieten, die letztlich die weitere Ausbeutung fördern und einen neuen Kolonialismus verstärken.

Gemeinsam für den Wandel kämpfen

Unsere ökosoziale Alternative stützt sich auf unzählige Kämpfe, Strategien, Vorschläge und Gemeinschaftsinitiativen. Unser Manifest knüpft an die gelebten Erfahrungen und kritischen Perspektiven von Bauern, indigenen Völkern und anderen lokalen Gemeinschaften, Frauen und Jugendlichen im gesamten Globalen Süden an. Es stützt sich auf Arbeiten zu den Rechten der Natur, zu buen vivir, vivir sabroso, sumak kawsay, ubuntu, swaraj, zu den Gemeingütern, der Care-Ökonomie, der Agrarökologie, der Ernährungssouveränität, dem Post-Extraktivismus, dem Pluriversum, zu Autonomie und Energiesouveränität. Wir fordern vor allem einen radikalen, demokratischen, volksnahen, geschlechtergerechten, regenerativen und integralen ökosozialen Übergang.

Dieses Manifest bietet eine dynamische Plattform, die Sie einlädt, sich unserem gemeinsamen Kampf für den Wandel anzuschließen, indem Sie dazu beitragen, gemeinsame Visionen und Lösungen zu entwickeln.

Weitere Informationen: www.pactoecosocialdelsur.com

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