Aus DER RABE RALF April/Mai 2021, Seite 21
100 Jahre nach dem Tod des russischen Naturforschers und Ökoanarchisten sind seine Ideen aktueller denn je
Am 8. Februar 2021 jährte sich der Todestag des russischen Anarchisten Pjotr Kropotkin zum 100. Mal. Der 1842 in Moskau geborene Adelsspross war zu Lebzeiten sowohl ein geachteter Wissenschaftler, der auch für die renommierte „Encyclopedia Britannica“ und die Zeitschrift „Nature“ Beiträge verfasste und gegen den zu seiner Zeit eine Hochphase erlebenden Sozialdarwinismus anschrieb, als auch einer der Begründer der Strömung des kommunistischen Anarchismus.
Kropotkins Bedeutung als Geograf wird in Russland zwar immer noch hochgehalten, ist aber sonst fast nur noch von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse. Seine Beerdigung gilt als die letzte große anarchistische Demonstration in der Sowjetunion, für die sogar inhaftierte Anarchist:innen Freigang erhielten. Dagegen ist er für seinen wissenschaftlich begründeten Anarchismus, der für viele moderne Strömungen vom Anarchosyndikalismus über den Anarchafeminismus bis zum Ökoanarchismus wichtige Impulse lieferte, bis heute noch breiteren gesellschaftlichen Kreisen bekannt. Die Grundlagen legte er in einer Reihe von Aufsätzen in den Sammelbänden „Worte eines Rebellen“ (1885) und „Die Eroberung des Brotes“ (1892). Zu den bekanntesten Textauszügen gehört der Beitrag über die „freie Vereinbarung“. Dieses Organisationsprinzip beschreibt, wie sich Individuen zu einer freien Assoziation zusammenschließen, die keine hierarchischen Strukturen besitzt und auch jederzeit wieder verlassen werden kann.
Gegenseitige Hilfe
Kurz vor seinem 100. Todestag hat ihm die Corona-Pandemie ein erneutes Interesse beschert. Sein Konzept der gegenseitigen Hilfe, das er als Gegenstück zum (sozial-)darwinistischen Kampf ums Überleben in seiner Schrift „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ (1902) naturwissenschaftlich herleitete, wurde in linken Kreisen wieder hervorgekramt und rezipiert. Darin lehnt Kropotkin nicht die Evolutionstheorie ab, sondern zeigt, dass jene Lebewesen besser überleben, die sich gegenseitig unterstützen – von Termiten über Schimpansen bis zu Menschen.
Kropotkin hat seine Spuren im (europäischen) Anarchismus deutlich hinterlassen, und einzelne seiner Projekte wie die von ihm mitbegründete Buchhandlung Freedom Bookshop in London existieren bis heute. Noch wichtiger war seine schriftstellerische Tätigkeit – zum Beispiel seine Überlegungen zur Ökologie. 1989 schrieb sein Biograf Heinz Hug: „Von höchster Aktualität sind Kropotkins ökologische Überlegungen, die sowohl im kapitalistischen als auch im staatssozialistischem System bisher ignoriert wurden.“ In einem Beitrag im „Lexikon der Anarchie“ drückte Hug noch prägnanter aus, was Kropotkin für ein ökologisches Weltbild zu bieten hat: „Das Verhältnis von Mensch und Natur bildet keinen Antagonismus, der lediglich durch die Herrschaft des Menschen über eine karge und bedrohliche Natur aufgelöst werden kann. Weder die äußere Natur noch die menschliche Natürlichkeit müssen dominiert bzw. unterdrückt werden, damit menschliches Leben, damit Gesellschaft und Kultur möglich sind.“
Natur – komplex und dezentral
Ähnlich sieht es auch der Autor und Journalist Rolf Cantzen, der sich in seiner Studie „Weniger Staat – mehr Gesellschaft“ den ökologischen Ideen Kropotkins widmet, aber anders als Hug zu dem Schluss kommt: „Kropotkin geht es mit der Illustration seines Gesellschaftsideals mithilfe von Naturzusammenhängen nicht um den Nachweis, dass eine anarchistische Gesellschaft auch eine ökologische ist, sondern lediglich darum, zu zeigen, dass auch komplexe Strukturen dezentral und ohne Hierarchien funktionieren können“. Nichtsdestotrotz wurde Kropotkin zu einer wichtigen Inspirationsquelle für den modernen Ökoanarchismus – namentlich für Murray Bookchin (Rabe Ralf Februar 2021, S. 16) oder die amerikanische Science-Fiction-Autorin Ursula K. LeGuin, die sein Werk als Inspiration für ihren bekannten Roman „Planet der Habenichtse“ (1974) bezeichnete.
Zur Einordnung Kropotkins in den ökoanarchistischen Diskurs empfiehlt sich neben dem bereits erwähnten Werk „Gegenseitige Hilfe“ ein Blick in „Landwirtschaft, Industrie und Handwerk, oder Die Vereinigung von Industrie und Landwirtschaft, von geistiger und körperlicher Arbeit“ (1890). Diese Schrift hatte auch einen bedeutenden Einfluss auf die frühe Kibbuzim-Bewegung und wurde bereits frühzeitig ins Hebräische übersetzt.
Der britische Schriftsteller Colin Ward schrieb im Vorwort zur englischen Neuauflage des Werkes: „‚Die Eroberung des Brotes‘ ist das Handbuch für eine revolutionäre Gesellschaft und ‚Gegenseitige Hilfe‘ eine Abhandlung über die gesellschaftliche Organisation. ‚Landwirtschaft, Industrie und Handwerk‘ … wendet sich gegen die Auffassung, dass es technische Gründe dafür gäbe, dass die industrielle und landwirtschaftliche Organisation in der modernen Gesellschaft ständig an Umfang zunimmt.“
Vordenker des Föderalismus
Kropotkins Beiträge zum frühen ökologischen Diskurs im Sozialismus und Anarchismus lassen sich noch mit den Namen des britischen Sozialisten William Morris („Kunde vom Nirgendwo“, 1900) und dem französischen Geografen und Vegetarier Élisée Reclus („Geschichte eines Berges“, 1876) verbinden. Letzterer, mit dem Kropotkin eine enge Freundschaft verband, gilt als ein bedeutender Vorläufer der Ökologiebewegung in Frankreich.
Viele Anregungen Kropotkins lassen sich noch heute für die Organisation einer auf ökologischen Prinzipien beruhenden Gesellschaft gewinnbringend nutzen. Es handelt sich vor allem um die Prinzipien des Föderalismus und der Dezentralisierung, die sich zum Teil in seiner Auseinandersetzung mit dem Staat und der Pariser Commune finden (unter anderem in „Worte eines Rebellen“). Anlässlich des Todestages von Kropotkin lohnt sich ein erneuter Blick in sein umfangreiches Werk, das uns auch heute noch interessante Perspektiven eröffnet. Für den Einstieg in die Lektüre bietet sich vorrangig der Sammelband „Die Eroberung des Brotes“ oder der Aufsatz „Der Anarchismus“ (1896) an.
Maurice Schuhmann
Kostenloser Reader „Ökologie und Anarchie“: www.gustav-landauer.org