„Raus aus dem eigenen Saft!“

Aus DER RABE RALF Februar/März 2021, Seite 18

Gründungsvorsitzender Leif Miller über 30 Jahre Grüne Liga Berlin und die Zukunft des Netzwerkgedankens

Foto: Santiago Engelhardt

Erzählen Sie uns etwas über die Entstehung der Grünen Liga. Gab es eine Inspiration? Ein Ziel, das erreicht werden sollte?

Leif Miller: Im Jahr 1989 gab es in der DDR eine breite gesellschaftliche Aufbruchstimmung. Schon vor der politischen Wende, im April, trafen sich in Potsdam Vertreterinnen und Vertreter aus Stadtökologie- und anderen Gruppen der Gesellschaft für Natur und Umwelt (GNU) im damaligen Kulturbund, um eine DDR-weite Vernetzung zu Umweltthemen zu erreichen. Am 7. Oktober 1989 fand in Potsdam ein Folgetreffen statt, bei dem Vertreter von 26 Stadtökologie-Fachgruppen Pläne für eine engere Zusammenarbeit schmiedeten. Zusammen mit kirchlichen Umweltgruppen entstand daraus bis zum Februar 1990 die Grüne Liga als Netzwerk ökologischer Bewegungen.

Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen gab es diese Umbruchstimmung. Der Rest ist Geschichte. In nur wenigen Monaten bekamen wir in der DDR quasi ein komplett neues Gesellschaftssystem übergestülpt.

Man könnte jetzt darüber streiten, ob es besser gewesen wäre, andere Wege zu gehen. Wir im Grüne-Liga-Netzwerk waren uns aber immer sicher, dass wir nicht den Weg einer Partei gehen wollten. Von Parteien hatten wir 1989 erst mal genug nach zig Jahren SED. Wir verstanden und verstehen uns als parteiunabhängige Bürgerbewegung, Teil der Zivilgesellschaft und eben als überparteilich agierendes Netzwerk.

Wir waren damals sehr euphorisch, etwas verändern zu können. Natürlich stellte sich irgendwann eine gewisse Ernüchterung ein, auch weil die Probleme der gesellschaftlichen Transformation Auswirkungen auf die Weiterentwicklung unserer Netzwerkstrukturen hatten. Hinzu kam, dass sich die persönliche Situation der meisten ehemaligen DDR-Bürger einschneidend veränderte, neue Probleme entstanden und andere Prioritäten gesetzt wurden.

Doch wenn man sich den Gründungsaufruf für eine Grüne Liga vom 18. November 1989 anschaut, sind viele Punkte immer noch brandaktuell. Vor allem „die Mitverantwortung, die jede und jeder von uns für die Lösung der anstehenden schier unbewältigbaren Aufgaben des Umweltschutzes“ trägt, ist heute aktueller denn je.

Gab es Momente, Erfolge oder Misserfolge, die besonders prägend für die Entwicklung der Grünen Liga waren?

Darüber könnte ich sicher ein ganzes Buch schreiben. Wenn man mich nach dem größten Erfolg der Grünen Liga fragt, dann sind das für mich die Umweltfestivals am Brandenburger Tor mit über 100.000 Gästen. Europas größtes Umweltevent unter dem Dach der Grünen Liga! Alljährlich im Frühsommer verwandelt die Grüne Liga gemeinsam mit rund 250 Ausstellern seit 25 Jahren die Straße des 17. Juni zwischen Brandenburger Tor und Großem Stern in Europas größte ökologische Erlebnismeile. Letztes Jahr fand das Umweltfestival pandemiebedingt erstmals digital statt. Trotzdem eine Erfolgsgeschichte.

Die Grüne Liga bringt Umweltbewegte zusammen, hier beim Umweltfestival 2018.
(Foto: Sebastian Hennigs/GRÜNE LIGA Berlin)

Wer hätte das 1995 beim ersten Umweltfestival gedacht? Damals gelang es uns erstmals, die Umweltverbände auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene zu koordinieren – im „Klimaforum ’95“. Verbände, die im Klimaschutz aktiv waren, fanden sich zur ersten UN-Klimakonferenz in Berlin zusammen und organisierten ein kritisches Rahmenprogramm – ein Modell der NGO-Zusammenarbeit, das noch heute weltweit funktioniert!

Das Klimaforum wurde damals als verbandsübergreifendes Büro der umwelt- und entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen für den Berliner Klimagipfel gegründet. Das Büro, initiiert und getragen vom Dachverband DNR und der Grünen Liga, bot einen Rahmen für die optimale Vorbereitung auf die wichtige weltpolitische Veranstaltung, koordinierte die Aktivitäten auf allen Ebenen und ermöglichte so eine wirkungsvolle Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit aus der Zivilgesellschaft. Die Aktionen konnten gebündelt und weitere Projekte angestoßen werden.

Und so fand am 2. April 1995 die Fahrradsternfahrt „Berlin fährt Rad“ statt – und als Abschluss das erste Umweltfestival am Brandenburger Tor. Dort sind wir nur sechs Jahre nach dem Gründungsaufruf als Grüne Liga erstmals bundesweit in Erscheinung getreten und konnten unseren Netzwerkcharakter leben.

Niederlagen gab es selbstverständlich auch bei uns immer wieder. Als Umweltverband hatten wir in den letzten 30 Jahren nicht immer nur Grund zum Feiern. Für Berlin sei hier nur das zähe Ringen um eine zukunftsfähige Verkehrspolitik und einen attraktiven ÖPNV genannt. Und ein Dinosaurier namens BER.

Welche Veränderungen haben Sie im Laufe der Jahre bei der Arbeit in einer Nichtregierungsorganisation festgestellt? Was ist heute leichter als vor 30 Jahren, was ist schwieriger?

Eine ausführliche Antwort auf diese Frage würde sicher für eine Doktorarbeit reichen. Auf der einen Seite ist viel passiert, auf der anderen Seite gibt es immer noch sehr viel zu tun. Vieles ist komplexer geworden und muss deshalb auch so gedacht und gelöst werden.

Vielleicht kann man es an den Themen deutlich machen. Die Verknüpfung der Klima- und Energiepolitik mit dem Naturschutz wurde vor 30 Jahren zum Beispiel so gut wie überhaupt nicht gesellschaftlich diskutiert. Damals ging es eher um Umweltverschmutzung und den uneingeschränkten Zugang zu entsprechenden Umweltdaten. Inzwischen haben auch im Osten Wasseruhren und Heizkostenzähler Einzug gehalten. Umweltthemen werden im Unterricht behandelt. Und jeder, der draußen mit offenen Augen unterwegs ist, merkt, dass da etwas nicht stimmt. Die Insekten schwinden, mit ihnen viele Vögel der Agrarlandschaft – und wann hatten wir hier den letzten richtigen Winter? Alles klare Vorboten des Klimawandels, auch in unserer Region.

Da kann jeder selbst entscheiden, was leichter oder schwieriger ist. Ich würde es nicht in Kategorien einteilen. Jede Aufgabe, der man sich stellt, hat ihre Herausforderungen, manchmal löst man sie mit mehr, manchmal mit weniger Erfolg.

Fest steht: Wir haben als Grüne Liga einen wichtigen Beitrag zur Ökologisierung der Gesellschaft – einem, wenn nicht dem zentralen Anliegen unseres Netzwerks – geleistet und können inzwischen auf eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung bauen. Klimaschutz ist in aller Munde, dazu hat die Umweltbewegung maßgeblich beigetragen und es ist auch schon einiges passiert.

Aber es gibt auch die andere Seite der Medaille. Da haben wir zum einen die letzten Weckrufe durch die Berichte des Weltklimarates IPCC und des Weltbiodiversitätsrates IPBES, die eindringlich vor den unwiderruflichen Folgen des Klimawandels auf die Ökosysteme, dem massiven Verlust von Arten sowie klimatischen Katastrophen und Extremwetterereignissen warnen. Zum anderen wurde das Wort „Klimahysterie“ zum Unwort des Jahres 2019 gewählt, weil damit „Klimaschutzbemühungen und die Klimaschutzbewegung diffamiert und Debatten diskreditiert“ und „in unverantwortlicher Weise wissenschaftsfeindliche Tendenzen“ unterstützt werden.

Die Bedeutung von zivilgesellschaftlichem Engagement speziell im Umwelt- und Naturschutz und die Verantwortung jedes einzelnen Menschen sind wichtiger denn je. Wir müssen uns intensiver Gedanken machen, was wir für ein „gutes Leben“ wirklich brauchen. Da gibt es noch immer viel zu tun für uns.

Was war das erste Projekt der Grünen Liga Berlin? Was ist daraus geworden?

Im Sommer 1990 begannen wir die Idee von einem „Grünen Haus“ in einer alten Fabrik im Hinterhaus der Jessnerstraße 19 in Berlin-Friedrichshain in die Tat umzusetzen. Es ging um ein gemeinsames Dach für unsere vielen Ideen und für gleichgesinnte Initiativen. Diesen Gedanken haben wir über viele Jahre weiterverfolgt.

In der Jessnerstraße entstand 1990 auch die erste Ausgabe des Raben Ralf, und der flattert ja noch heute.

Und in unmittelbarer Nachbarschaft in der Müggelstraße 6 haben wir den ersten Eine-Welt-Laden Ostberlins eingerichtet und betrieben, damals einzigartig und irgendwie auch Geschichte schreibend. Heute findet man an jeder Straßenecke einen Laden, der auch faire oder biologisch angebaute oder nachhaltig produzierte Produkte anbietet. Das ist gut so und auch ein Erfolg unserer Arbeit!

Gab es ein Traum-Projekt, das nicht verwirklicht werden konnte oder nicht so, wie Sie es sich vorgestellt hatten?

Ja, da gab und gibt es mehrere. Dazu gehört auch unser erstes Projekt, ein „Grünes Haus“ für Berlin. Leider ist es uns nie gelungen, diese Idee dauerhaft und in voller Tragweite umzusetzen. Die Projektidee für ein Grünes Haus entstand wie erwähnt schon 1990 – nachzulesen im allerersten Raben Ralf vom Dezember jenes Jahres.

Vier Jahre später war die Grüne Liga dann Träger für das Klimaforum ’95. Die erfolgreiche Zusammenarbeit in der Behrenstraße in Berlin-Mitte, wo wir während des Klimagipfels vorübergehend etwa 20 Organisationen beherbergten, gab uns neuen Schwung für unsere Idee des Grünen Hauses.

1996 ist dann ein kleines Grünes Haus entstanden, wieder in einer kleinen Hinterhoffabrik in der Prenzlauer Allee 230, wo auf 500 Quadratmetern etliche große und kleine Verbände und Projekte gute Arbeitsmöglichkeiten hatten: die Grüne Liga Berlin, die NABU-Ostkoordination, der WWF, das DNR-Europabüro, das Reisebüro Natour, das Mobile Wasserlabor, das Umweltkontor, eine landesweite NGO-Projektstelle zur Lokalen Agenda 21, die Hofbegrünungs-Beratungsstelle mit Musterhof, um die wichtigsten zu nennen. Die Wege waren kurz, man traf sich am Kopierer und in der Pause auf dem begrünten Hof und konnte sich gut vernetzen. Es entstanden gemeinsame Projekte und Ideen, zum Beispiel mit dem NABU die AG Nordwestkaukasus oder das Projekt Artenschutz am Gebäude. Leider ist der Standort in Prenzlauer Berg vor zehn Jahren den steigenden Gewerbe-Mietkosten zum Opfer gefallen.

Fallen Ihnen Strukturen oder Ideen in der Grünen Liga ein, die mit der Zeit etwas verlorengegangen sind und die Sie gern wieder aufgreifen würden?

Da fallen mir spontan zwei ein: das Prinzip Netzwerkstruktur statt „Vereins-Ideologie“ und die „Runde Tische“-Idee als ein Verhandeln auf Augenhöhe. Hier geht es darum, die Eigenständigkeit der Beteiligten zu achten und gleichzeitig intensiv zusammenzuarbeiten, um die Ziele konsequent zu verfolgen und wirksam zu erreichen.

Gott sei Dank ist das nie ganz verlorengegangen, vielleicht manchmal nur etwas in Vergessenheit geraten. Mittlerweile gibt es ja auch viele Kommunikations- und Moderationsformen, die diese Strukturen und Methoden adaptieren und die auch bei uns Einzug gehalten haben.

Haben Sie einen Lieblingsartikel aus dem Raben Ralf oder eine Lieblingsausgabe?

Ja, die erste Ausgabe von 1990 mit dem Gedicht von Christian Morgenstern. Auch weil der Rabe nach dreißig Jahren immer noch flattert und unser Sprachrohr ist und für viele unserer Ziele steht.

Der Rabe Ralf
will will hu hu
dem niemand half
still still du du
half sich allein
am Rabenstein
will will still still
hu hu

Die Nebelfrau
will will hu hu
nimmts nicht genau
still still du du
sie sagt nimm nimm
’s ist nicht so schlimm
will will still still
hu hu

Doch als ein Jahr
will will hu hu
vergangen war
still still du du
da lag im Rot
der Rabe tot
will will still still
du du

Denken Sie, dass unabhängiger Umweltjournalismus ausstirbt? Wenn ja, was können wir dagegen tun?

Nein, wie man sieht, trägt ja die Anfangsidee des Raben Ralf, ein kritisches Sprachrohr ökologischer Bewegung und eine für alle Umweltbewegten, Vereine und Gruppen offene Umweltzeitung zu sein, auch nach 30 Jahren noch immer!

Also gibt es da einen großen Bedarf. Was sich auch in dem Trend widerspiegelt, dass gerade in den letzten Jahren die Medienlandschaft geradezu „begrünt“ wurde – begünstigt durch das wachsende öffentliche Interesse an Themen wie Ernährung, Artensterben, Klimawandel, Energiewende und an Persönlichkeiten wie Greta Thunberg.

Die Bandbreite der Medien für unabhängigen Umweltjournalismus ist viel größer geworden, was die Beschaffung von Informationen in mancher Hinsicht auch leichter macht. Bleibt dann immer noch die Frage, woher die Informationen kommen und ob sie wirklich unabhängig sind. Auch da gibt es mittlerweile Projekte, zum Beispiel an Hochschulen, die dies hinterfragen und untersuchen.

Aber auch wir, jeder und jede Einzelne, können und müssen etwas dafür tun: Informiert bleiben, nachfragen, Quellen prüfen, in den richtigen Kontext einordnen! Konsequenzen daraus ziehen. Und natürlich den Raben Ralf abonnieren!

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Grünen Liga Berlin? Was können wir aus der Geschichte des Vereins lernen?

Eine große Stärke der Grünen Liga war und ist die projektbezogene Vernetzung von verschiedenen Aktiven in der Umweltbewegung. Ich würde dafür plädieren, diese Stärke weiterzuentwickeln. In der Vergangenheit wurden wir oft mit anderen Vereinen verglichen und gefragt, ob wir uns ihnen nicht stärker anpassen oder unterordnen sollten. Aber das haben wir zum Glück nicht getan.

Also bitte immer schön weg von Vereinsmeierei hin zu neuen, offenen Strukturen und Projekten. Raus aus dem eigenen Saft und rein in projektorientiertes Arbeiten mit unterschiedlichen Akteuren. Die Grüne Liga hat sich schon 1989 für ganzheitliches Herangehen eingesetzt und fach- und ebenenübergreifend agiert – und genau das entspricht auch einem modernen Umweltverband im Jahr 2021.

Ja, und ganz aktuell: Auch wenn man in den letzten Monaten manchmal den Eindruck hatte, dass die Welt den Atem anhält, der Klimawandel und der Artenverlust sind noch lange nicht gestoppt. Wir müssen wirklich ernsthaft darüber nachdenken, wie wir die Menschen dazu bewegen, ihr eigenes Handeln zu hinterfragen und etwas zu verändern. Werden wir die Krise als Chance begreifen und innehalten, um unsere Rolle als Menschen neu zu definieren? Oder geht es so weiter, wie es vor der Pandemie aufgehört hat – schneller, höher, weiter?

Vielen Dank für das Gespräch!

Leif Miller, Jahrgang 1967, ist Ornithologe und Biologe und hat die Grüne Liga mitgegründet. Ab 1991 war er Geschäftsführer der Grünen Liga Berlin, seit 2001 ist er ehrenamtlicher Landesvorsitzender. Beruflich ist er als Bundesgeschäftsführer des NABU tätig.

Das Interview führte Michelle Goldmann, die bei der Grünen Liga Berlin ein Freiwilliges Ökologisches Jahr leistet.

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