Rezensionen

Aus DER RABE RALF Februar/März 2023, Seiten 22/23

Die Hälfte aller Gehirne

Wie Physikerinnen und Philosophinnen die Welt voranbrachten – und dabei behindert und bekämpft wurden

„Weltweit besitzen Frauen die Hälfte aller Gehirne.“ Dieses Zitat der US-Astronomin Vera Rubin fasst zusammen, was Betti Hartmann und Carla Schriever in ihrem Buch „Vordenkerinnen“ demonstrieren. Die Autorinnen stellen ausgewählte Wissenschaftlerinnen von der Antike bis heute prägnant vor und weisen auf gesellschaftliche Missstände und Hürden hin, die einige von ihnen überwinden konnten, während viele andere an größeren Errungenschaften oder bloßer Anerkennung ihrer Leistungen gehindert wurden.

Eine Epoche, eine Physikerin, eine Philosophin

Betti Hartmann, Physikerin, und Carla Schriever, Philosophin, geben in ihrem Buch einen kurzen Einblick in das Leben und Wirken von 23 Physikerinnen und Philosophinnen, überwiegend paarweise und nach Epochen gegliedert. Dabei gehen sie auf die wichtigsten Inhalte ihrer Arbeiten ein, aber auch auf Restriktionen, die dazu führten, dass sie – je nach Person – nicht lernen, lehren, forschen, anerkannt werden oder mit ihrer Arbeit Geld verdienen konnten. Zu jedem Paar aus Physikerin und Philosophin folgen am Ende Annahmen zu möglichen Korrespondenzen und Diskussionen. Ob diese tatsächlich stattfanden und ob die beschriebenen Frauen überhaupt voneinander wussten, ist aufgrund fehlender Dokumentation unbekannt.

Den Autorinnen gelingt es, komplexe Zusammenhänge auf ein Niveau herunterzubrechen, das mit Restwissen aus der Schulzeit überwiegend nachvollziehbar ist. Und auch, wenn man einmal nicht jedem Aspekt ihrer Ausführungen vollständig folgen kann, schaffen sie es, die Bedeutung der erlangten Erkenntnisse für den Fortschritt der jeweiligen Wissensfelder bis in unsere heutige Zeit zu verdeutlichen. An manchen Stellen hätte ein besseres Lektorat dem schnellen Verständnis helfen können.

Durch die Begrenzung auf wenige Seiten pro Person lässt sich das Wissen leicht verdauen. Da Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Forschungsbereiche, Herkünfte und Zeitabschnitte vorgestellt werden, kommt es nicht zu inhaltlichen Wiederholungen. Parallelen bei der Benachteiligung und Unterdrückung sind hingegen durchweg sichtbar. Die Lektüre führt vor Augen, wie lange schon Hürden für Frauen existieren und wie weit es noch bis zur kompletten Gleichberechtigung ist.

Lohnenswerte Leseanstrengung 

Von besonderer Bedeutung ist hier der Blick auf die Intersektionalität, die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Formen von Diskriminierung, die nicht nur in der Frauen-, sondern auch in der Klimabewegung eine wichtige Rolle spielt. Das Buch regt zum Nachdenken an, denn viele Themen sind nach wie vor relevant, einige sind sogar noch aktueller geworden. Von der Behandlung flüchtender Menschen über den Zweifel am binären Gendersystem bis zu unserer Beziehung zu Tieren und Maschinen stoßen die vorgestellten Wissenschaftlerinnen viele Gedankengänge an. Allein dafür ist eine gewisse Konzentration lohnenswert.

Deborah Roye

Betti Hartmann, Carla Schriever:
Vordenkerinnen
Physikerinnen und Philosophinnen durch die Jahrhunderte
Unrast Verlag, Münster 2021
176 Seiten, 14,80 Euro
ISBN 978-3-89771-343-7


Wie man Menschen überzeugt

Ein Buch möchte „durch Bürgerräte und Zufallsauswahl echte Vielfalt in die Demokratie bringen“

Die Politikverdrossenheit in der Gesellschaft ist groß. Viele gehen gar nicht mehr zur Wahl – sie repräsentieren heute die mit Abstand größte „Partei“ in Deutschland. Wie kann man dem entgegenwirken und politische Teilhabe wieder stärken? Katharina Liesenberg und Linus Strothmann stellen in ihrem Buch „Wir holen euch ab!“, ein Werkzeug vor, das Beteiligung wieder stärken kann, indem es Menschen Selbstwirksamkeit erfahren lässt: Bürger*innenräte. Damit könne auch das Vertrauen in die Politik wieder wachsen.

Möglichkeiten und Grenzen

Das Buch holt einen hierbei im wahrsten Sinne des Wortes ab, indem es zunächst einige Bespiele für politikverdrossene Menschen gibt, die erfolgreich „zurückgeholt“ werden konnten. Dann wird erklärt, wie man mit Bürger*innenräten mehr Menschen einbeziehen kann und wie sich politische Herausforderungen unserer Zeit – etwa die veränderte Rolle von Parteien und der steigende politische Einfluss von zivilgesellschaftlichen Bewegungen wie Fridays for Future oder Nichtregierungsorganisationen – positiv nutzen lassen.

Die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten von Bürger*innenräten (Rabe Ralf Oktober 2019, S. 3) werden vor allem anhand der beiden Verfahren deutlich, die Katharina Liesenberg und Linus Strothmann unabhängig voneinander entwickelt haben, um unterschiedliche Problemstellungen zu bewältigen. Alles wird detailliert anhand von Praxisbeispielen erläutert. Doch auch die Schwierigkeiten und Grenzen des Verfahrens, mit denen sich die Autor*innen konfrontiert sahen, finden neben den Lösungsansätzen Erwähnung, sodass ein umfassendes Bild entsteht. Wie die Politik die Rahmenbedingungen für Bürger*innenräte verbessern kann, wird sogar in einem eigenen Kapitel behandelt.

An Lösungen orientiert

Das Buch ist definitiv eine klare Leseempfehlung für jede*n, der sich für lösungsorientierte Ansätze im Umgang mit politischen Problemen interessiert, und lässt sich auch gut lesen, wenn das Thema noch neu ist. Wer sich nur für Teilaspekte interessiert, kann sich auch auf die Lektüre einzelner Kapitel beschränken, denn das Buch ist so aufgebaut, dass jedes Kapitel für sich stehen kann und sich Informationen gezielt herausfiltern lassen.

Justin Penzel

Katharina Liesenberg, Linus Strothmann:
Wir holen euch ab!
Wie wir durch Bürgerräte und Zufallsauswahl echte Vielfalt in die Demokratie bringen
Oekom Verlag, München 2022
256 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-96238-367-1


Von der Zwangs- zur gewaltfreien Psychiatrie

Bücher über die Ausgrenzung des Unnormalen und mögliche Auswege

Normalität ist der zentrale Begriff, an dem Menschen gemessen werden. Wer abweicht, ist ver-rückt – oder, ein Blick in die deutsche Geschichte zeigt das ebenso wie der heutige Umgang mit abweichendem Verhalten in vielen Teilen der Welt, schnell eingesperrt, zwangsbehandelt oder sogar tot. Dabei ist die Kategorie alles andere als klar und voller interessengeleiteter Interpretation. Das stellt Asmus Finzen in „Normalität: Die ungezähmte Kategorie in Psychiatrie und Gesellschaft“ (2018) für den medizinischen Bereich übersichtlich und verständlich dar.

Welche Folgen die Ausgrenzung des Unnormalen haben kann, zeigen Heiner Fangerau, Anke Dreier-Horning und andere in „Leid und Unrecht“ (2021) am Umgang mit Kindern und Jugendlichen in der „Behindertenhilfe und Psychiatrie der BRD und DDR von 1949 bis 1990“, so der Untertitel. Nach allgemeinen Kapiteln zu Recht, pädagogischer Gewalt und Arzneimitteln folgen konkrete Beschreibungen von Unterbringungen in Anstalten und Kliniken.

Noch deutlicher zeigt Judith Hahn in „Der Anfang war eine feine Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte“ (Schwabe Verlag, Berlin 2020) am Beispiel der Verbrechen in der Charité während des Nationalsozialismus, wie aus Ärzten Mörder und Folterknechte wurden und wie weit sie dabei gingen. Der Band erschien begleitend zu einer Ausstellung und zeigt viele Dokumente, die die Verbrechen belegen.

Erfolgreiche Alternativen

Was wären die Alternativen zu Einweisung, geschlossenen Kliniken und Heimen, Fixierung und unfreiwilliger Medikamenteneinnahme? Längst gibt es eine Debatte und Experimente für eine Psychiatrie ohne Zwang. In ganzen Regionen Italiens wird seit den 1970er Jahren auf große, geschlossene Anstalten verzichtet – und auch Deutschland hat einige Häuser, die weitgehend auf das Abschließen von Türen und den Einsatz von Zwang verzichten. Ihre Erfahrungen sind sehr positiv – und solche gibt es auch in anderen Bereichen der psychiatrischen Praxis.

Statt Druck und Bevormundung fordern Klinikleiter Martin Zinkler, Psychologin Candelaria Mahlke und der Anwalt Rolf Marschner „unterstützende Entscheidungsfindung“ und haben einen Kreis von Menschen, die in beteiligten Institutionen, an Universitäten, in politischen Gremien und in Arztpraxen arbeiten oder selbst betroffen sind, eingeladen, aus ihren Tätigkeiten zu berichten. Aus den Texten entstand das Buch „Selbstbestimmung und Solidarität“ (2019). Es vermittelt eindrucksvoll, dass Zwang nicht alternativlos ist – auch wenn diejenigen, die ihn anwenden, das immer wieder behaupten und viele Gerichte ihnen dabei folgen.

Ohne Fremdbestimmung

Eine Hilfe für eine gewaltfreie Psychiatrie kann die „Ex-In-Genesungsbegleitung“ sein. Im gleichnamigen Buch, herausgegeben von Susanne Ackers und Klaus Nuißl (2021), sind Erfahrungsberichte aus der Praxis verschiedener Autor*innen zusammengestellt. Es geht um Psychiatrie-Erfahrene, die nun andere Betroffene unterstützen – in den Kliniken, in mobilen Diensten oder in der Forschung.

Am meisten helfen dürfte, sich aus der formalisierten Behandlung ganz herauszuhalten. „Recht für Selbsthilfegruppen“ von Renate Mitleger-Lehner (AG Spak Bücher, Neu-Ulm 2019) vermittelt das Handwerkszeug, sich außerhalb der Fremdbestimmung gegenseitig zu unterstützen – und so eine Psychiatrisierung oft ganz zu vermeiden. In dem übersichtlich gegliederten Buch geht es um gruppendynamische Fragen, rechtliche Tipps, Fördermöglichkeiten, Datenschutz, Öffentlichkeitsarbeit und Haftungsfragen.

Jörg Bergstedt 

Die Bücher erschienen, wenn nicht anders angegeben, im Psychiatrie-Verlag, Köln, www.psychiatrie-verlag.de

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