Aus DER RABE RALF Dezember 2023 / Januar 2024, Seite 19
In der Berufungsverhandlung gegen den Ex-Bürgermeister von Riace wurden fast alle Anklagepunkte zurückgewiesen
Wenige Tage nach dem Erscheinen des Beitrags „Solidarität und Repression – Wie die Aufnahme von Geflüchteten in Riace kriminalisiert wird“ (Rabe Ralf Oktober 2023, S. 20) fällte das Berufungsgericht in Reggio Calabria am 11. Oktober sein Urteil im „Xenia-Prozess“.
Der ehemalige Bürgermeister des kalabrischen Bergdorfs Riace, Domenico „Mimmo“ Lucano, und 17 seiner Mitstreiter*innen waren in erster Instanz vor einem Gericht in Locri zu hohen Haft- und Geldstrafen verurteilt worden. Domenico Lucano sei der Kopf einer kriminellen Vereinigung gewesen, die zum eigenen Vorteil Geflüchtete aufgenommen habe.
Es gab zwar keine Beweise – im Gegenteil wurden die Vorwürfe durch die Protokolle umfangreicher (und unzulässiger) Abhörmaßnahmen eher widerlegt. Aber was nicht passte, wurde passend gemacht. So wurden fehlerhafte Abschriften der Abhörbänder der Verurteilung zugrunde gelegt. Selbst seine nachweisliche Mittellosigkeit wurde Lucano vorgeworfen – der damalige Bürgermeister habe sie gezielt eingesetzt und sich mit den Projekten der Aufnahme von Schutzsuchenden politische Vorteile verschaffen wollen. Ein absurder Vorwurf, da er gar keine politische Karriere anstrebte. So wurde Domenico Lucano am 30. September 2021 zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt – deutlich mehr als die Staatsanwaltschaft mit sieben Jahren und elf Monaten gefordert hatte.
Skandalurteil aufgehoben
Im jetzigen Berufungsverfahren, in dem die Staatsanwaltschaft zehn Jahre und fünf Monate forderte, wurden nahezu sämtliche Anklagepunkte zurückgewiesen und das Urteil aus der ersten Instanz aufgehoben. Lediglich wegen einer falschen Beurkundung aus dem Jahr 2017 wurde Lucano zu eineinhalb Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. 16 seiner Mitstreiter*innen wurden freigesprochen, eine erhielt eine Bewährungsstrafe von einem Jahr.
Auch wenn ein vollständiger Freispruch erfreulicher gewesen wäre, kann dieses Urteil doch als ein Sieg der Solidarität und Menschlichkeit angesehen werden. Entsprechend groß war die Freude bei den Unterstützer*innen, die zahlreich zum Prozess gekommen waren.
Domenico Lucano macht weiter
Seit Ende der 1990er Jahre hatten Tausende Geflüchtete in Riace Aufnahme gefunden – meist nur vorübergehend, aber anders als in den menschenunwürdigen Lagern konnten sie sich hier von den Strapazen der Flucht erholen. Domenico Lucano bekam weltweit Aufmerksamkeit und Anerkennung, Riace gilt seit vielen Jahren als vorbildliches Willkommensdorf.
Die Unterstützung Schutzsuchender half auch dem Ort, der durch Abwanderung vom Aussterben bedroht war. Der Zuzug vieler junger Menschen, auch mit Kindern, belebte Riace, es gab wieder eine Kindertagesstätte und eine Schule und es gelang Domenico Lucano und anderen, mit solidarökonomischen Projekten einige Arbeitsplätze für Zugereiste und für Einheimische zu schaffen.
Diese jahrelang auch öffentlich geförderten Projekte wurden durch Repression und juristische Verfolgung zerstört. Aber mittlerweile macht Lucano weiter, nun befreit vom Bürgermeisteramt, mit finanzieller Unterstützung durch Spenden. So leben auch heute wieder etwa 40 Familien von Geflüchteten in Riace.
Die Aufhebung des offensichtlich politisch begründeten Skandalurteils der ersten Instanz im Berufungsverfahren ist eine Ermutigung, auch für andere, nicht aufzugeben. Die jahrelange politische Verfolgung hat ihre Spuren hinterlassen, aber letztlich haben trotz Repression in diesem Fall Menschlichkeit und Solidarität gewonnen.
Elisabeth Voß
Weitere Informationen: www.riace.solioeko.de
Eine erste, längere Fassung dieses Artikels veröffentlichte die Autorin am 12.10.2023 in ihrem Blog in der Freitag Community.