Indigener Widerstand im Norden Europas

Aus DER RABE RALF Dezember 2022/Januar 2023, Seite 16/17

Die Sámi fordern die ihnen zustehenden Rechte ein und kämpfen gegen Landraub im Namen des Klimas

Protest gegen das Bergbauprojekt in Gállok im Februar mit Greta Thunberg. (Foto: Screenshot/​Greta Thunberg/​Twitter)

Die Sámi sind die indigene Bevölkerung des europäischen Nordens. Aus dem Ural kommend, siedelten sie sich vor etwa 3.000 Jahren entlang der Nordküste Skandinaviens an. Die gegenwärtige samische Bevölkerung wird auf ungefähr 100.000 geschätzt. Etwa 70.000 Sámi leben in Norwegen, 20.000 in Schweden und 10.000 in Finnland. Auf der russischen Kola-Halbinsel gibt es eine samische Gemeinde von 2.000 Menschen, die aus historischen Gründen in relativer Isolation von der restlichen samischen Bevölkerung lebt. Die Sámi bezeichnen ihr traditionelles Siedlungsgebiet als „Sápmi“. „Sámi“ ist eine davon abgeleitete Eigenbezeichnung. Die Fremdbezeichnungen „Lappland“ und „Lappe“ gelten als veraltend und beleidigend.

Ursprünglich lebten die Sámi als Jäger:innen und Sammler:innen. Die Notwendigkeit, alle Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens selbst anzufertigen, führte zu duodji, was meist als „Kunsthandwerk“ übersetzt wird. Für die Sámi ist es mehr als das, ein integraler Bestandteil ihrer Kultur. Ein ebenso integraler Bestandteil der samischen Kultur ist die Rentierhaltung, die im 16. Jahrhundert entstand. Rentierhalter:innen unter den Sámi waren jedoch stets in der Minderheit, gegenwärtig machen sie rund 10 Prozent der samischen Bevölkerung aus.

Sprachverbot im Internat

Die Kolonisierung Sápmis begann im 17. Jahrhundert. Reich an Mineralien, Holz und Wasserwegen, war das Gebiet für die nordischen Nationalstaaten von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Eine staatliche Siedlungspolitik – Siedler:innen erhielten Steuererleichterungen und staatliche Subventionen – bedeutete für die Sámi Landverlust und Vertreibung. In Bergbaustädten wurden sie zur Zwangsarbeit verpflichtet. Ihre religiösen Praktiken wurden verboten, 40 samische Schamanen (noaidi) wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

In den für samische Kinder eingerichteten Internatsschulen war es nicht erlaubt, Samisch zu sprechen. Die Kinder trafen ihre Familien zu Weihnachten und während der Sommerferien. In Schweden ließ das Staatliche Institut für Rassenbiologie in den 1920er und 30er Jahren anatomische Zwangsuntersuchungen an Sámi durchführen. Knochen und Schädel verstorbener Sámi werden bis heute in Forschungsinstituten und Museen der nordischen Nationalstaaten aufbewahrt.

Die Sámi sind als friedliebendes Volk bekannt. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass es in der samischen Sprache kein Wort für „Krieg“ gibt. Nur einmal kam es in Zusammenhang mit samischen Protesten zu gewalttätigen Übergriffen: 1852 in Kautokeino, auf der „norwegischen Seite“ Sápmis, wie man in Sápmi zu sagen pflegt. Eine aufgebrachte samische Menge, beeinflusst von der christlichen Erweckungsbewegung des Laestadianismus, tötete einen norwegischen Staatsbeamten und einen Alkoholhändler. Die angeblichen Rädelsführer wurden hingerichtet, in der samischen Gesellschaft hinterließen die Ereignisse tiefe Spuren.

„Dass wir existieren, war kaum bekannt“

Elsa Laula (1877-1931), samische Aktivistin und Politikerin. (Foto: unbekannt/​Wikimedia Commons)

Die politische Organisierung der Samí begann mit der ersten „Samischen Nationalversammlung“ in Trondheim am 6. Februar 1917. Organisatorin war Elsa Laula, eine Ikone des samischen Widerstandskampfes. Der 6. Februar ist heute offizieller samischer Nationalfeiertag. Im Jahr 1956 wurde der „Samische Rat“ gegründet, eine der ersten transnationalen indigenen Organisationen.

Von besonderer Bedeutung für den politischen Widerstand der Sámi war die Protestbewegung gegen den Bau eines Wasserkraftwerks entlang des Alta-Flusses in Norwegen Ende der 1970er Jahre. Als samische Aktivist:innen in Oslo vor dem norwegischen Parlament ein Protestcamp errichteten, das Büro der Ministerpräsidentin besetzten und in den Hungerstreik traten, konnten sie nicht länger ignoriert werden. Die Malerin Synnøve Persen war beim Hungerstreik dabei. Sie erzählte mir im Sommer 2019: „Die Woche des Hungerstreiks war eine jener Wochen, in denen sich alles ändert. Die Menschen in Norwegen begannen zu verstehen, was in Sápmi vor sich ging. Sie hatten keine Ahnung. Die norwegischen Behörden wollten nicht, dass sie eine Ahnung haben. Viele Menschen wussten kaum, dass wir außerhalb von Museen existieren.“

Obwohl das Kraftwerk letzten Endes gebaut wurde, gilt die Protestbewegung als Startschuss für eine samische Bürgerrechtsbewegung, die viele Verbesserungen brachte, vor allem im kulturellen Bereich: Förderungen für samische Sprache, Bildung und Kunst, samische Medien, mehr Repräsentation in staatlichen Medien sowie samische Parlamente in Norwegen, Schweden, Finnland und Russland.

Regierungen erkennen Rechte nicht an

Auf materieller Ebene hinken die Verbesserungen jedoch hinterher. Die Regierungen Schwedens, Finnlands und Russlands weigern sich bis heute, das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zu ratifizieren, das die Rechte indigener Gesellschaften sichern soll, darunter die Kontrolle über ihre traditionellen Siedlungsgebiete. Genau das wollen die nationalstaatlichen Regierungen verhindern. Eine Ratifizierung von ILO 169 würde die Rechtslage völlig neu definieren, Landrückgaben und Reparationszahlungen stünden im Raum. Die norwegische Regierung ratifizierte ILO 169 im Jahr 1990. Im Jahr 2005 wurde die Verwaltung des Landes der nördlichsten Provinz, Finnmark, in der eine samische Mehrheit lebt, der dortigen Bevölkerung übertragen. Seither prüft eine Kommission samische Eigentumsansprüche in der Provinz. Bisher wurden jedoch so gut wie alle Anträge abgelehnt.

Zu einem bahnbrechenden Urteil in Sachen Landrechte kam es im Januar 2020 in Schweden, als der Oberste Gerichtshof des Landes bestätigte, dass dem Sameby Girjas das alleinige Recht auf die Ausstellung von Jagd- und Fischereilizenzen auf seinem Gebiet zukommt. (Ein Sameby ist eine Vereinigung samischer Rentierhalter:innen.) Doch der Gegenschlag ließ nicht lange auf sich warten. Das Urteil führte zu einem rasanten Anstieg anti-samischer Übergriffe. Mitglieder des Samebys erhielten Morddrohungen, Rentiere wurden getötet und die Ohren mit den Marken ihrer Eigentümer abgeschnitten – das macht es unmöglich, staatliche Entschädigung einzufordern. Zu solchen Vorfällen kommt es auch in ruhigeren Zeiten immer wieder, doch nach dem Girjas-Urteil geschah das täglich.

Kampf um Fisch und Wald

Der Fischfang ist ein vieldiskutiertes Thema, nicht zuletzt entlang des Flusses Deatnu, der über eine Strecke von 250 Kilometern die Grenze zwischen Finnland und Norwegen bildet. Seit Jahrhunderten fangen Sámi dort Lachse mit Netzen. Genau diese Fangmethode wurde jedoch vor drei Jahren von den Regierungen Finnlands und Norwegens verboten, während die moderneren Fangmethoden der Tourist:innen unbehelligt blieben.

Auch um den Wald wird gekämpft. In Schweden wehrt sich seit 2020 die Initiative Skogsupproret („Aufstand des Waldes“) gegen die Abholzung der Wälder Sápmis durch das schwedische Staatsunternehmen Sveaskog. Auch in anderen Formen setzt sich die Landaneignung fort: Die Armeen der nordischen Staaten halten militärische Übungen ab, Automobilunternehmen – auch viele deutsche – betreiben Winterteststrecken, und das Raumfahrtzentrum „Swedish Space Corporation“ führt Geoengineering-Experimente durch. Besonders umstritten sind Bergbauprojekte und Windparks.

Widerstand gegen den Bergbau gibt es seit 1635, als die erste Silbermine in Sámi eröffnet wurde. Der Bergbau in Sápmi bringt enorme Probleme für die Rentierhaltung und verunreinigt Land und Wasser. Beinahe 400 Jahre später hat sich nicht viel geändert. Im Jahr 2013 wurden in Gállok in der Nähe von Jokkmokk, der „samischen Hauptstadt Schwedens“, Probebohrungen für eine Kupfermine aufgrund anhaltender Blockaden von Sámi und Unterstützer:innen abgebrochen. Nach einem langen Prüfungsverfahren erklärte die schwedische Regierung Anfang 2022, an den Plänen für die Errichtung der Mine festzuhalten.

Rentiere meiden Windkraftanlagen

Same mit Rentier in Nordnorwegen. Kolt und Mütze sind aus schwerem Wollstoff. (Foto: Christoph Silvanus/​Wikimedia Commons)

Auch was die zahlreichen Windparks betrifft, die in Sápmi gebaut werden, sind die Auswirkungen auf die Rentierhaltung enorm. „Die Forschung zeigt, dass Rentiere Windkraftanlagen meiden“, sagt Kerstin Andersson von Amnesty Sápmi. Das Problem seien nicht nur die Turbinen. „Jede Anlage verlangt Straßen und Stromnetze. Je mehr von ihnen gebaut werden, desto mehr Weideland verschwindet.” Auch Wanderungsrouten werden abgeschnitten.

Mittlerweile sieht das sogar die Justiz so. Im Oktober 2021 entschied der Oberste Gerichtshof Norwegens, dass zwei auf der Halbinsel Fosen errichtete Windparks gegen die in UN-Resolutionen verbürgten Rechte der Sámi als indigener Bevölkerung des Gebiets verstießen. Die Direktorin des Norwegischen Instituts für Menschenrechte bewertete das Urteil als „historisch“. Gegenwärtig kommt dem Konflikt um den Windpark Øyfjellet viel Aufmerksamkeit zu. Øyfjellet liegt rund 300 Kilometer nördlich von Trondheim. Einer der Investoren, das norwegische Finanzunternehmen Storebrand, erklärte im Herbst 2022, dass man den Betreiber, die schwedische Firma Eolus Vind, wegen möglicher Menschenrechtsverletzungen unter Beobachtung stellen würde, sollte die Firma nicht zu einer Einigung mit den lokalen Rentierhalter:innen gelangen. Storebrand verwies explizit auf das Urteil im Fall Fosen.

„Grüner Kolonialismus“

Auch andere Unternehmen machen sich mittlerweile um ihren Ruf Sorgen, wenn sie in Sápmi aktiv sind. Aufsehen erregte das Hamburger Unternehmen Aurubis, Europas größter Kupferproduzent, als es sich im August 2021 aus einem millionenschweren Deal am Repparfjord in Norwegen zurückzog. Auch dort soll gegen den Widerstand der samischen Lokalbevölkerung eine Kupfermine errichtet werden. Aurubis sah durch den norwegischen Betreiber die „soziale Nachhaltigkeit“ gefährdet, sprich: die Rechte der Sámi. Eine deutsche Beteiligung an dem Projekt war besonders pikant, weil die Wehrmacht die Region um den Repparfjord am Ende des Zweiten Weltkriegs in Schutt und Asche legte.

Windparks werden gerne als Teil der „grünen Wende“ gepriesen, und auch Bergbauprojekte geben mittlerweile vor, „klimaneutral“ zu sein. Manche beanspruchen, Metalle zu gewinnen, die zur Fertigung von Sonnenkollektoren oder Elektroauto-Batterien notwendig seien. Auch die „Arktische Eisenbahn“, die das finnische Bahnnetz mit der nordnorwegischen Hafenstadt Kirkenes verbinden soll, gilt als „grünes Projekt“.

In Sápmi spricht man in diesem Zusammenhang jedoch eher von „grünem Kolonialismus“, also dem Versuch, der Kolonisierung Sápmis einen grünen Anstrich zu verleihen. Eva Maria Fjellheim, die für den Samischen Rat arbeitet und seit Jahren zu dem Thema forscht, definiert grünen Kolonialismus als „Fortsetzung kolonialen Landraubs im Namen des Klimas und des grünen Wandels“. Der Kampf gegen den grünen Kolonialismus ist heute ein wesentlicher Teil aller samischen Protestbewegungen. Unterstützt werden diese Bewegungen von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis, das von Friends of the Earth über Fridays for Future bis zu Extinction Rebellion reicht.

Samische Kunst wird politisch

Auf die samischen Parlamente können sich die Aktivist:innen dabei nicht verlassen. Deren politische Macht ist begrenzt. Niillas Somby ist in Sápmi eine lebende Legende. 1982 wurde er schwer verletzt, als er mit zwei Gefährten eine Bombe an einer Brücke anbringen wollte, die zur Baustelle des Wasserkraftwerks am Alta-Fluss führte. Um einer Gefängnisstrafe in Norwegen zu entgehen, floh er mithilfe eines internationalen Netzwerks indigener Aktivist:innen nach Kanada. Dort adoptierte ihn die Nuxalk Nation und gewährte ihm Unterschlupf. Heute lebt Somby wieder in Sápmi. Als ich ihn dort im Jahr 2019 besuchte, sagte er über die Rolle der samischen Parlamente: „Es heißt, die samischen Parlamente müssen bei Regierungsentscheidungen, die die Sámi betreffen, konsultiert werden. Aber was bedeutet das in der Praxis? Regierungsvertreter kommen und hören sich an, was die Sámi zu sagen haben. Dann gehen sie und tun, was sie wollen.“

Niillas Somby verlor 1982 einen Arm bei einer Sabotageaktion. (Foto: Carl-Magnus Helgegren/​Wikimedia Commons)

Hoffnung macht Somby eine neue Generation samischer Künstler:innen mit starken politischen Botschaften. Etwa der Maler Anders Sunna, der samische Motive mit Ausdrucksformen antikolonialen Widerstands verbindet, oder die bildende Künstlerin Máret Ánne Sara, die eine Kampagne zur Unterstützung ihres Bruders Jovsset Ánte ins Leben rief, von dem die norwegische Regierung die Zwangsschlachtung der meisten seiner Rentiere fordert. Auch die Sängerin Maxida Märak, die mit Bands wie Halluci Nation aus Kanada zusammenarbeitet, und das Künstlerkollektiv Suohpanterror, das mit einer Mischung aus Adbusting und Agitprop für Aufsehen sorgt, gehören dazu.

Eva Maria Fjellheim vom Samischen Rat betont, dass der samische Umgang mit der Natur nicht als Hindernis für den Kampf um Klimaschutz angesehen werden darf, sondern als Beitrag dazu verstanden werden muss. Tatsächlich ist Nachhaltigkeit in der samischen Kultur angelegt. Fjellheim verweist darauf, dass die Sámi selbst zu den Opfern des Klimawandels zählen. Tatsächlich waren sie die Ersten im europäischen Norden, die vor den verheerenden Folgen der Erderwärmung warnten. Wer den Großteil des Jahres im Freien in der Arktis verbringt, erlebt die Konsequenzen des Klimawandels hautnah. Es wäre hilfreich, würde auch die Mehrheitsgesellschaft das zur Kenntnis nehmen.

Gabriel Kuhn

Der Autor ist in Österreich aufgewachsen und lebt seit 2007 in Schweden. Sein Buch „Liberating Sápmi: Indigenous Resistance in Europe‘s Far North“ (Sápmis Befreiung: Indigener Widerstand im hohen Norden Europas) erschien bisher nur auf Englisch.  

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