Standardwerk über Rojava

Aus DER RABE RALF Dezember 2018/Januar 2019, Seite 22

Die Selbstverwaltungs-Revolution in Nordsyrien von innen betrachtet

Der Hamburger VSA Verlag hat die nunmehr vierte Auflage des Buches „Revolution in Rojava“ herausgebracht. Die drei AutorInnen beschreiben aus erster Hand die Entwicklungen der letzten Jahre in der mehrheitlich kurdisch besiedelten Region Nordsyriens, die von ihren Bewohnern „Rojava“ („Westen“, gemeint ist der Westen Kurdistans) genannt wird und durch den erfolgreichen Widerstand in Kobanî gegen die Angriffe der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) weltbekannt geworden ist.

2014 reisten Anja Flach, Ercan Ayboğa und Michael Knapp nach Cizîrê, dem größten der damals drei selbstverwalteten Kantone von Rojava. Dort hielten sie sich vier Wochen lang in allen Bezirken auf und besuchten Einrichtungen der demokratischen Selbstverwaltung, der Frauenbewegung, der Verteidigungseinheiten YPG und der Sicherheitskräfte, außerdem Gefängnisse, Kulturzentren, Akademien, Kommunalverwaltungen, Kooperativen sowie verschiedene Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen. 2015 und 2017 besuchte jeweils einer von ihnen nochmals für mehrere Wochen Rojava und weitere vom IS befreite Gebiete Nordsyriens. Damit konnten sie zu verschiedenen Zeiten Beobachtungen und Forschungen durchführen, was ihnen Vergleiche ermöglichte.

Engagiert, solidarisch, kritisch

Autorin und Autoren sind seit vielen Jahren in der bundesdeutschen Kurdistan-Solidaritätsarbeit tätig und hielten sich auch zuvor schon zeitweise in verschiedenen kurdischen Gebieten auf, was ihnen die Arbeit erleichterte. Sie unternahmen die Reise als Delegation der Kampagne „Tatort Kurdistan“, die sich in Deutschland für eine politische Lösung der kurdischen Frage und gegen die Kriminalisierung von Kurdinnen und Kurden einsetzt. So betonen sie auch, dass ihr Ansatz kein neutraler im Sinne der herrschenden Wissenschaft, sondern ein solidarischer sei.

Dies wiederum öffnete ihnen viele Türen für Gespräche, in denen dann auch überraschend viel Platz für selbstkritische Töne darüber war, wo es bisher an Umsetzung mangelt, vor allem auf den Feldern der Ökonomie und der Ökologie.

Das Buch beginnt mit einer spannenden historischen Einführung über die Region bis zu den Ereignissen mit dem Aufstand und Krieg in Syrien ab 2011, die auch zur Vertreibung des Baath-Regimes unter Präsident Assad aus Rojava führten. Dieser Prozess wird offensiv als die „wichtigste soziale Revolution des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet, was durch viele Gespräche mit Zeitzeugen untermauert wird.

Experiment Selbstverwaltung

Betont wird auch die seit den 1990er Jahren im Untergrund laufende Selbstorganisierung der Bevölkerung und der Bezug zum politischen Konzept des „Demokratischen Konföderalismus“ des in der Türkei inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan, der knapp 20 Jahre in Rojava und Syrien lebte. Nur so ist zu verstehen, warum Öcalan visuell und theoretisch überall im befreiten Nordsyrien präsent ist.

Auch wenn die Schilderung der aktuellen Situation in Berichten und Interviews den Schwerpunkt des Buches bildet, wird der politischen Theorie im Hintergrund und der außen- und geopolitischen Einbettung ausreichend Platz eingeräumt. Das für Außenstehende schwer verständliche Zusammenspiel von Basis-, Räte- und übergeordneten (jedoch bewusst nicht „staatlich“ genannten) Strukturen wie auch der vielen Organisationen der verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren wird in dem Buch verständlich erläutert.

Besondere Aufmerksamkeit bekommen die rund 4000 Kommunen, die als basisdemokratische Einheiten systematisch in allen Dörfern und Straßenzügen – auch unter der arabischen und assyrischen Bevölkerung – aufgebaut werden. Sie führen zur praktischen Einbindung von hunderttausenden Menschen in tägliche politische Aktivitäten; hier zeigt sich eine Parallele zu den Zapatisten in Mexiko.

Die neuen Strukturen der demokratischen Selbstverwaltung in diesem politischen Experiment entziehen sich teilweise der Logik der westlichen Denkweise und Erfahrung. Gerade die Beschreibungen hierzu machen das Buch zu einem Standardwerk über den revolutionären politischen Prozess in Nordsyrien.

Eine Frauenrevolution?

Das Buch zeigt, dass es nicht Kritiklosigkeit bedeutet, sich auf die in Rojava ausgebildeten Strukturen von innen heraus einzulassen, sondern eine Notwendigkeit, um ungerechtfertigte eurozentrische Einschätzungen zu vermeiden. Die gibt es sowohl in bürgerlichen und liberalen als auch linken Kreisen im sogenannten Westen.

Zum einen reißen Vorwürfe von Diktatur und Folter gegen die wichtigste politische Partei PYD, die YPG und die Sicherheitskräfte nicht ab. Menschenrechtsverletzungen gab es von Anfang an, aber durch einen selbstkritischen Prozess im Laufe der Zeit immer weniger, und mit Abstand ist diese Region die demokratischste in Syrien.

Zum anderen machen sich hunderte, vielleicht tausende westliche Menschen auf den Weg nach Rojava, um sich selbst ein Bild von Ort zu machen, indem sie auch selbst direkt mitmachen beim Aufbau einer direktdemokratischen, geschlechtergerechten und ökologischen Gesellschaft. Das wird in dieser aktualisierten Auflage stärker behandelt.

Die Revolution von Rojava wird oft auch als eine Frauenrevolution betrachtet. Die Bilder von kurdischen Kämpferinnen in internationalen Medien waren sehr beliebt, wurden aber auch kritisiert. Doch auch in zivilen Strukturen sind Frauen unübersehbar, wie das Buch es in vielen Schilderungen dem Leser nahebringt.

Noch fehlt eine ökologische Bewegung

Beschrieben werden auch die ökologischen Diskussionen und die Praxis in Rojava, die in den ersten Jahren der Revolution aber kaum eine Rolle spielten. Erst nach dem Sieg über den IS in Kobanî und einer Stärkung der Selbstverwaltungsstrukturen begann die Mehrheit der Gesellschaft die Frage nach einer ökologischen Umgestaltung umfangreich zu diskutieren. Krieg, Embargo, Dürre, Repression und jahrzehntelange zentralistische Wirtschaftsordnung mit vollständig industrieller Landwirtschaft sind die schlechtesten Ausgangsbedingungen dafür.

Ein Autor zeichnet in akribischer Arbeit nach, wie trotz allem schon eine Reihe von Projekten mit ökologischen Inhalt realisiert werden, wie das Frauendorf Jinwar, die internationalistische Kampagne „Make Rojava Green Again“ und die Produktion von eigenem biologischen Dünger und Saatgut. Letzteres trägt zur angestrebten Selbstversorgung bei.

Autorin und Autoren heben hervor, dass ökologische Fragen in den verschiedenen Bereichen der Selbstverwaltung immer intensiver diskutiert werden – ebenso wie die Geschlechterfrage. Doch nach wie vor fehlt in Rojava eine ökologische Bewegung, die die Prozesse beschleunigen könnte.

Elmar Millich

Anja Flach, Ercan Ayboğa, Michel Knapp:
Revolution in Rojava
Frauenbewegung und Kommunalismus
zwischen Krieg und Embargo
4., aktualisierte Auflage
VSA Verlag, Hamburg 2018
360 Seiten, 19,80 Euro
ISBN 978-3-89965-889-7

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Die neue Landflucht

Aus DER RABE RALF Dezember 2018/Januar 2019, Seite 26

Atlas der Umweltmigration

Jeder siebte ist unterwegs. Auf der Flucht vor Krieg oder Dürren, die die Landwirtschaft zerstört haben. Oder weil Überschwemmungen Ernten und Höfe wegspülten. Wir erleben gerade noch nie da gewesene Massenfluchten. Im Durchschnitt setzen sich jährlich 26 Millionen allein infolge von Klimawandel und Naturkatastrophen in Bewegung. Extremwetter und Umweltschäden vertreiben sie aus ihrer Heimat und damit oft in jahrelanges Elend. Die Eskimos, Inuit, die von Kanada bis Sibirien durch das Abschmelzen der Gletscher zum Abwandern gezwungen werden, sind in den Städten meist erwerbslos.

Zum Verlust der Heimat kommen für die meisten Flüchtlinge im Aufnahmegebiet Diskriminierungs-Erfahrungen. So wurden die Fukushima-Evakuierten von anderen Japanern häufig wie Aussätzige gemieden. Vor allem wenn die Gastgesellschaften selbst arm sind, was oft der Fall ist, kann die Einwanderung großer Gruppen zu großen Belastungen führen.

Wiederkehrende Muster

Südlich der Sahara ist Afrika vom Austrocknen der Sahelzone bedroht. Hirten kommen immer öfter und länger in die Regionen der Bauern, was dann zum Beispiel in Ghana wie in vielen anderen Teilen Afrikas zu einer Übernutzung der Böden führt. Gewaltsame Konflikte sind die Folge. Die Darfur-Region im Sudan erlebte Jahrzehnte andauernde Streitigkeiten um Land und Wasser.

So kommt es, dass Klimawandel und Umweltkonflikte die traditionellen Wanderbewegungen der Hirten in Afrika zunehmend infrage stellen. Ähnliches geschieht auch in Innerasien. Immerhin haben einige westafrikanische Staaten nun ein Abkommen geschlossen, dass ihren Hirten erlaubt, dem Regen hinterherzuziehen und dabei auch ungehindert die Grenzen zu überschreiten.

In Syrien trieb eine mehrjährige extreme Dürre zahllose Bauern in die Städte, wo viele keine Arbeit fanden und sich an den Protesten gegen das Regime beteiligten. Die rasante Urbanisierung in vielen Entwicklungsländern führt zu immer größeren Slums mit wachsenden Hygieneproblemen bis hin zu Seuchen.

Nur wenige Länder wie Bangladesch, Guinea-Bissau und Mali haben ihre Landwirtschafts- und Fischereimethoden verändert, um die Urbanisierung zu verlangsamen. In Afrika wurde mit der Kampala-Konvention vor einigen Jahren ein rechtlicher Rahmen zum Schutz von Binnenflüchtlingen geschaffen, die durch Naturkatastrophen zur Flucht gezwungen wurden.

Migration hat natürlich oft auch gute Seiten. Die Mittel, die Wanderarbeiter aus der Ferne schicken, helfen den Daheimgeblieben beim Überleben – unter Umständen sogar dabei, Böden wiederherzustellen.

Der „Atlas der Umweltmigration“ stellt die Zusammenhänge an wichtigen Beispielen übersichtlich dar, mit Karten, Grafiken und Texten. Was fehlt, ist ein Register. Dieser neue Umweltatlas des weltweiten Wanderns gehört in jede Schul- und Unibibliothek.

Elisabeth Meyer-Renschhausen

Dina Ionesco, Daria Mokhnacheva,
François Gemenne:
Atlas der Umweltmigration
Oekom Verlag, München 2017
176 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-86581-837-9


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