Erst Blutspur, dann Busspur

Aus DER RABE RALF Februar/März 2023, Seite 3

Wie die Straßenverkehrsordnung die Berliner Bezirke daran hindert, Menschen vor dem Autoverkehr zu schützen

Protest mit Kunstblut auf der Straße. (Foto: Norbert Michalke/​Changing Cities)

Alle zwölf Berliner Bezirksstadträte haben im vergangenen Oktober in einem Brief an Bundesverkehrsminister Wissing (FDP) umfassende Reformen des Straßen- und Verkehrsrechts gefordert. 380 Städte und Kommunen wollen Tempo 30 flächendeckend auf ihren Straßen einrichten, dürfen es aber nicht. Doch zum sogenannten Mobilitätsgipfel im Januar haben Bundeskanzler Scholz (SPD) und Verkehrsminister Wissing fast ausschließlich die Automobilbranche eingeladen. Hier läuft etwas grundsätzlich schief.

Erst wenn es Verletzte gibt, darf gehandelt werden

Die Regierung lebt immer noch in der Welt des 70 Jahre alten Straßenverkehrsgesetzes. In Paragraf 45, Absatz 9 der Straßenverkehrsordnung (StVO) heißt es über „Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs“, diese dürfen „nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht“. Der Begriff „Gefahrenlage“ wird nochmals präzisiert: Die Gefahr muss „das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung“ von Leben, Gesundheit und Sacheigentum „erheblich übersteigen“.

Mit anderen Worten: Vorfahrt für das Auto, und zwar immer, außer es besteht „erhebliche“ Gefahr für Menschenleben. Diese Gefahr muss natürlich nachgewiesen werden. Es müssen erst Menschen verletzt werden, bevor der Leichtigkeit und Flüssigkeit des Autoverkehrs Grenzen gesetzt werden dürfen. Es braucht also eine Blutspur, bevor es eine Busspur geben kann.

Maßnahmen gegen Autoverkehr weggeklagt

In der Clayallee in Berlin-Zehlendorf wurde im September letzten Jahres eine Busspur vom Verwaltungsgericht für rechtswidrig erklärt. Zwar schreibt das Berliner Mobilitätsgesetz den Vorrang des Fuß-, Rad- und öffentlichen Nahverkehrs vor, aber Bundesrecht bricht Landesrecht. Die Klage eines Anwohners war erfolgreich: Erst ab 20 Bussen pro Stunde darf ein Sonderfahrstreifen errichtet werden – hier waren es nur neun. Außerdem war die besondere Gefahrenlage nicht dargelegt worden. Die Folge: Fahrbahnmarkierungen mussten wieder entfernt und der Ursprungszustand mit sechs Spuren für den Autoverkehr wiederhergestellt werden.

Auch die Pop-up-Radwege, die während der Corona-Pandemie errichtet wurden, wurden erst vom Verwaltungsgericht zugelassen, nachdem der Senat nachträglich konkrete, verkehrsbezogene Gefahren vorlegte. Denn ohne Gefahren seien solche Radspuren nicht „zwingend erforderlich“.

Nach dem Ende des Verkehrsversuchs mit einer autofreien Friedrichstraße und vor deren Umwidmung in eine Fußgängerzone rollen dort jetzt wieder die Autos. Auch hier hatte eine Klägerin Erfolg beim Verwaltungsgericht: Der Senat hätte mit einer erheblich gesteigerten Gefahrenlage argumentieren müssen, um die Geschäftsstraße auch nur einen einzigen Tag länger autofrei zu halten. Aufenthaltsqualität kann man begrüßen, für die Einschränkung des Autoverkehrs muss aber erst Blut fließen.

Städte ohne Verkehrstote sind möglich

In Düsseldorf wurde die Errichtung eines geschützten Radweges gestoppt, als eine Klägerin eine eingeholte Stellungnahme des Polizeipräsidiums vorlegte. Darin wurde der Straße eine „unauffällige Unfalllage“ bescheinigt. Die Stadt hatte die Einrichtung des Radwegs mit der Verkehrsbelastung und den sich daraus ergebenden Nutzungskonflikten in dem Wohn- und Gewerbegebiet begründete. Aber das Polizeipräsidium wies darauf hin, dass es auf der Straße kaum Radverkehr und deshalb auch keine Nutzungskonflikte gebe. Klar – wo nur wenige Menschen mit dem Rad unterwegs sind, weil sie neben Lkw und parkenden Autos zu Recht um ihr Leben fürchten, passieren auch wenige Unfälle. Eins zu null für das Auto: Ob es sinnvoll ist, sichere Radwege einzurichten, spielt keine Rolle.

Demonstration für einen geschützten Radweg auf der Schönhauser Allee. (Foto: Norbert Michalke/​Changing Cities)

Die 380 Kommunen, die liebend gern Tempo 30 einrichten möchten, kämpfen ebenfalls mit dem Paragrafen 45. Denn die StVO sieht auf Hauptverkehrsstraßen eine Richtgeschwindigkeit von 50 km/h vor. Nur bei nachweislicher Gefahrenlage dürfen die Kommunen Tempo 30 anordnen. So kommt es zu dem Phänomen, das in allen Städten bekannt ist: Vor Schulen, Kitas und Seniorenheimen kann für etwa 100 Meter Tempo 30 angeordnet werden. Eine Ausweitung auf die gesamte Strecke ist jedoch nicht zulässig. Dass Verkehrsberuhigung zu weniger Unfällen führt, belegen Zahlen aus dem Ausland: Weder in Oslo noch in Helsinki sterben Menschen auf der Straße, nachdem dort flächendeckend Tempo 30 eingeführt wurde.

Mit dieser StVO gibt es keine Verkehrswende

Und jetzt die bittere Erkenntnis: Paragraf 45 bedeutet im Umkehrschluss, dass überall, wo heute Radwege sind, wo Parkgebühren erhoben oder Verkehrsberuhigung eingerichtet wurde, wo es Busspuren oder Fahrradstraßen gibt, vorher wahrscheinlich ein Mensch im Straßenverkehr verletzt oder gar getötet wurde. Das ist die bittere Bilanz einer Gesetzgebung, die das Auto in den Mittelpunkt stellt. Knapp 3.000 Menschen sterben jährlich deutschlandweit im Straßenverkehr.

Es wird klar, dass wir mit dieser StVO und dem übergeordneten Straßenverkehrsgesetz keine Chance auf eine echte Verkehrswende haben. Der Begründungsaufwand für die Kommunen ist viel zu hoch, es dauert viel zu lange, und das Risiko einer Klage schreckt die Behörden ab, wirksame Maßnahmen zu ergreifen.

Das Problem ist bekannt – auch in der Ampelkoalition, die eine Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und der StVO in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben hat. Verkehrsminister Wissing scheint daran aber kein Interesse zu haben. Weder Verkehrssicherheit noch Klimaschutz scheinen ihm von Bedeutung zu sein. Sowohl der Expertenrat Klima als auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags rügten ihn, weil die Klimaziele im Verkehrssektor drastisch verfehlt werden. Und dass er ein echter Autominister ist, zeigt sein im Dezember verkündetes Anliegen, den Bau von Autobahnen und Fernstraßen voranzutreiben.

Keine Zeit zu verlieren

Ohne erheblichen Einsatz von Grünen und SPD drohen Verkehrswende und Klimapolitik in Deutschland zu scheitern. Die erforderliche Halbierung der CO₂-Emissionen bis 2030 wird nicht möglich sein, wenn erste Maßnahmen erst nach dieser Legislaturperiode, also im Jahr 2026, ergriffen werden.

Aus Kurzsichtigkeit verspielt der Verkehrsminister hier Pfunde, mit denen er wuchern könnte: die Zahl der Verkehrstoten erheblich zu senken und als erster Minister die Klimaneutralität im Verkehr einzuleiten. Er könnte sich damit profilieren, dass er der erste Mobilitätsminister war, der endlich die Freiheit der Verkehrsmittelwahl ermöglichte, indem er Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehr erheblich ausgebaut hat.

Übrigens: Ergebnisse waren von dem zweistündigen Mobilitätsgipfel keine zu hören. Nicht einmal die Tatsache, dass nur noch sieben Jahre bleiben, um die CO₂-Emissionen im Verkehrssektor zu halbieren, scheint die Verantwortlichen zum Handeln zu motivieren. Dabei ist der Verkehr nicht nur Klimakiller: Wenn keine tiefgreifenden Maßnahmen ergriffen werden, werden bis 2030 voraussichtlich weitere 20.000 Menschen im Straßenverkehr sterben. Alles kein Grund zur Aufregung?

Ragnhild Sørensen

Weitere Informationen: www.changing-cities.org

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