Aus DER RABE RALF August/September 2023, Seite 14/15
Die ukrainischen Bauern verteidigen ihren Boden, während andere ihn verkaufen
Um ein Beispiel für die später nach ihm selbst benannte Theorie des „Versprechers“ zu geben, führt der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud in seiner Schrift „Psychopathologie des Alltagslebens“ folgendes Beispiel an: 1908 forderte der deutschnationale Abgeordnete Wilhelm Lattmann im Reichstag die „rückgratlose“ Ergebenheit an Kaiser Wilhelm – er meinte natürlich „rückhaltlos“. Laut Sitzungsprotokoll setzte eine stürmische und minutenlange Heiterkeit im Publikum ein.
Hundertvierzehn Jahre später hielt der US-amerikanische Ex-Präsident George W. Bush in seiner texanischen Heimat ebenfalls eine Rede und klagte darin die „Entscheidung eines einzelnen Mannes“ an, „eine völlig ungerechtfertigte und brutale Aktion gestartet zu haben: die Invasion des Irak“ – er hatte natürlich „der Ukraine“ sagen wollen. Bush bemerkte sofort seinen Lapsus, entschuldigte sich mit einem Hinweis auf sein Alter, fügte aber erstaunlicherweise trotzdem noch ein „Irak auch“ hinzu. Wie auf dem Video der Rede zu hören ist, setzte stürmisches Lachen im Publikum ein.
Laut Freud tritt im Versprecher das eigentlich Gemeinte unwillkürlich hervor, eben jenes also, das der Sprechende verheimlichen will. Obwohl die Zuhörer in beiden Fällen mit Lachen auf die plötzliche, unbeabsichtigt ausgesprochene Wahrheit reagierten, haben beide Versprecher einen todernsten Hintergrund: diesseits des Atlantiks die verheerende – und tatsächlich „rückgratlose“ – deutsche Ergebenheit an die militaristische Obrigkeit, die die Welt zweimal in den Abgrund riss, jenseits des Atlantiks der völkerrechtswidrige und mit Lügen begonnene Angriffskrieg auf den Irak, der bis heute zu hunderttausenden Toten, einer Destabilisierung der gesamten Region und dem Erstarken des Islamismus geführt hat. Dass der arme George Dabbeljuh seinem ersten Versprecher („des Irak“), noch einen zweiten („Irak auch“) hinterherschob, könnte ein Hinweis darauf sein, dass der „wiedergeborene Christ“, wie er sich nennt, tatsächlich so etwas wie ein Restgewissen hat, während seinem Nachfolger Obama, den man nicht ohne Grund „Drohnen-Präsident“ nennt, bis heute das selbstsichere Sonnyboy-Lächeln nicht vergangen ist.
Im Nebel des Krieges
Vom anglikanischen Geistlichen Robert Burton ist folgende Weisheit überliefert: „Idioten und Wahnsinnige erzählen gewöhnlich die Wahrheit.“ Vielleicht war es deshalb Donald Trump vergönnt, vor sechs Jahren auf die Frage, warum er den „Killer Putin“ respektiere, wahrhaftig zu antworten: „Auch wir haben eine Menge Killer. Glauben Sie, unser Land ist so unschuldig?“ Wer es Donald nicht glauben will, kann diese Wahrheit in den jetzt auch auf Deutsch erschienenen Büchern „Washington Bullets“ (Vijay Prashad) und „Die Jakarta-Methode“ (Vincent Bevins) nachlesen.
Aber darf man angesichts des von Russland begonnenen Ukraine-Krieges überhaupt daran erinnern, dass die USA ebenfalls eine imperiale Macht sind, die nicht gerade zimperlich ist, wenn es darum geht, die eigenen geopolitischen Interessen durchzusetzen? Ist das nicht „Whataboutism“? Man zögert auch deshalb, weil die momentan noch letzte Weltmacht zumindest jetzt auf der richtigen Seite, der des Opfers, zu stehen scheint. Relativiert ein Hinweis auf das Blut an den „Stars and Stripes“ nicht die Schuld des russischen Aggressors? Ist man damit nicht schon ein Putin-Versteher, was ja eigentlich Putin-Vertreter zu heißen scheint? Vielleicht liegt aber der Grund dafür, dass man mit Erklärungen von historischen Komplexitäten vorsichtig geworden ist, auch darin, dass der Mensch, gerade in Kriegszeiten, am liebsten in binären Kategorien denkt. Wenn Putin der Böse ist (was er ist), muss Biden der Gute sein. Clausewitz irrt, wenn er vom „Nebel des Krieges“ spricht, im Krieg wird alles schwarz-weiß.
Stellvertreterkrieg und Befreiungskampf
Das System einer halbvirtuellen Dauergegenwart, in dem wir leben, lässt die Geschichte nicht mehr zu Wort kommen. Ständig werden wir mit aktuellen Kriegsbildern überschwemmt, die wie Videospiele aussehen. Ukrainische und russische Soldaten inszenieren sich auf Instagram als Helden und kämpfen um Likes. In Wirklichkeit gibt es im Krieg selten echte Helden, weit häufiger sind – seltsam, dass man das noch sagen muss – Leichen, Verkrüppelte und Traumatisierte. Der Autor neigt dazu, eher den Erzählungen seines kriegsversehrten Großvaters zu glauben als den medialen Inszenierungen von präzisen Drohnenangriffen und humanen Streubomben. „Krieg ist scheiße!“, hat das dabeigewesene Familienmitglied einmal resümiert. Muss man dem noch etwas hinzufügen?
Ja, leider, denn die Ukrainer haben ein Recht auf Notwehr! Krieg ist zwar immer „scheiße“, aber es gibt natürlich einen Unterschied zwischen Angriff und Verteidigung. Die Ukrainer kämpfen einen völlig legitimen Befreiungskampf, der – und das macht die Lage so kompliziert – gleichzeitig ein Stellvertreterkrieg zwischen Imperien ist. Von Werten spricht man vor allem in Deutschland, in den USA hat man, was immerhin ehrlicher ist, keine Hemmungen, auch die eigenen Interessen zu benennen. Der ehemalige Chefstratege Zbigniew Brzezinski hat schon 1997 gesagt, dass sich die USA die Vorherrschaft auf dem „großen Schachbrett Eurasien“ sichern müssten.
Dennoch gibt es Unterschiede zwischen dem russischen und dem US-Imperium. Der Politikwissenschaftler Georg Fülberth unterscheidet zwischen einem globalen und einem regionalen Imperialismus. Die USA, denen neben militärischen auch ökonomische Waffen (Weltwährung Dollar, Weltbank, IWF) zur Verfügung stehen und die deshalb weltweit agieren können, stehen für einen globalen Imperialismus. Russland kann einen „nur“ regionalen Imperialismus ausüben, der sich fast ausschließlich auf militärische Macht stützt. Beide Imperien treffen nun in der Ukraine aufeinander, die sich der Hilfe der einen Großmacht bedienen muss, um die andere zu besiegen. Beiden Imperien geht es dabei nicht nur um die Kontrolle über ein geostrategisch wichtiges Grenzland, sondern wortwörtlich auch um den Boden.
Wem gehört die schwarze Erde?
Dass die berühmte Schwarzerde der Ukraine zu den fruchtbarsten Böden der Welt gehört, sollte jedes Schuldkind wissen. 56 Prozent der Landesfläche bestehen aus diesem Boden, was etwa doppelt so viel wie die Ackerfläche ist, die in Deutschland zur Verfügung steht. Von den 60 Millionen Tonnen Getreide, die in der Ukraine jährlich geerntet werden, ist über die Hälfte für den Export bestimmt, weshalb das Land auch „Kornkammer der Welt“ genannt wird.
Zu Sowjet-Zeiten war der Boden in Staatsbesitz und wurde in zwangskollektivierten Kolchosen bearbeitet. Nach der Unabhängigkeit 1991 wurde das Land an alle Mitglieder der Kolchosen verteilt. Plötzlich gab es, zumindest auf dem Papier, etwa sieben Millionen Kleinbauern. Da nicht jeder Bauer werden wollte, kam es zu zahlreichen Verpachtungen. Die relative Kleinteiligkeit der ukrainischen Landwirtschaft ist bis heute erkennbar: Ein Fünftel der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft, 40 Prozent der Agrarflächen werden durch Subsistenzbetriebe unter einem Hektar bewirtschaftet, 50 Prozent durch große Betriebe auf Pachtbasis mit durchschnittlich 1.200 Hektar, die restlichen 10 Prozent entfallen auf Kleinbetriebe (durchschnittlich fünf Hektar) und mittelgroße Betriebe (80 bis 500 Hektar).
Dass diese Verhältnisse einigermaßen stabil blieben, verdankt sich einem seit 2002 bestehendem Moratorium, das den Verkauf von ukrainischem Boden verbietet. Das Moratorium wurde, auch auf Druck der Bevölkerung, immer wieder verlängert. 2018 verkündete der Europäische Gerichtshof, dass es gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoße, und forderte Reformen. Auch der IWF und die Weltbank machten die Vergabe von Krediten von der Liberalisierung des Bodenmarktes abhängig. Wie so oft decken sich „die Menschenrechte“ auf wundersame Weise mit den Interessen von Investoren, die in diesem Fall möglichst große Flächen Schwarzerde kaufen wollen. Laut einer Umfrage von 2020 waren 62 Prozent des ukrainischen Volkes gegen die Öffnung des Bodenmarktes. 2019 wurde der „Diener des Volkes“ Wolodymyr Selenskyj mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt. Er nutzte die Coronakrise, während der Proteste nicht erlaubt waren, um das Moratorium aufzuheben. Selenskyjs Umfragewerte rutschten in den Keller. Dann kam der Krieg.
Krieg und Diebstahl
Die oben skizzierte Darstellung der ukrainischen Agrargesellschaft klingt idyllischer, als sie ist. Die Bauern sind arm und waren schon vor dem Krieg Opfer von „Land Grabbing“. Die Konzentration von Land in den Händen einer Agrar-Oligarchie erfolgte bisher allerdings nicht durch Kauf, sondern durch Vergabe und Handel von Nutzungsrechten. Das kalifornische Oakland-Institut veröffentlichte dazu Anfang des Jahres eine überaus lesenswerte Studie mit dem Titel „War and Theft: The Takeover of Ukraine’s Agricultural Land“ (Krieg und Diebstahl: Die Übernahme der landwirtschaftlichen Flächen der Ukraine). Hier kann man lesen, dass bereits 4,3 Millionen Hektar faktisch von einem Dutzend Agrarunternehmen bewirtschaftet werden. Diese sind meist im Besitz von russischen oder ukrainischen Oligarchen, die sich die Gewinne mit ausländischen Investoren teilen. Ein Großteil dieser Investoren stammt aus Westeuropa und den USA, von Vanguard Group über Kopernik Global Investors bis Goldman Sachs. Investoren und Oligarchen können sich der Unterstützung durch die westlichen Finanzbehörden – und damit der US-amerikanischen Militärmacht – sicher sein. Gemeinsam werden sie weiterhin die Öffnung des Bodenmarktes fordern.
Durch den Krieg hat die Ukraine bisher etwa 25 Prozent ihrer Agrarflächen verloren. Dennoch zeigt sich auch hier, dass gerade die kleinen Subsistenzhöfe flexibler auf Krisen reagieren können als das Agrobusiness. Das gilt übrigens auch für Umweltkrisen. Ob es aber deshalb zu einem erneuten Überdenken der Bodenreform kommen wird? Wohl kaum, denn das würde der imperialen Vernunft widersprechen. Auf dem Schachbrett Eurasien ist der ukrainische Landwirt eben nur ein Bauer.
Der Boden unter der Fahne
Lenin, dem es immerhin zur Ehre gereicht, dass er für Putin ein Verräter ist, hat die Ukraine einmal „das russische Irland“ genannt. Vieles spricht für diesen Vergleich, etwa der Gewerkschafter James Connolly, der als Märtyrer im irischen Befreiungskampf sein Leben ließ. Dieser warnte seine Landsleute davor, sich mit der Vertreibung der englischen Besatzer zufriedenzugeben. Wenn nicht gleichzeitig eine gerechte Gesellschaft hergestellt worden sei, so Connolly, werde das britische Imperium weiter mit seinen Kapitalisten und Großgrundbesitzern über Irland herrschen, egal welche Fahne über Dublin wehe.
Falls es den Ukrainern gelingt, die russischen Besatzer zu vertreiben, werden auch sie wachsam darauf blicken müssen, was unter der eigenen Fahne geschieht. Die Gefahr ist groß, dass ihnen die USA und die EU Spar- und Modernisierungsmaßnahmen für Kriegskredite und Beitrittswünsche aufzwingen, die einen Ausverkauf des Landes zur Folge hätten. Die korrupten ukrainischen Eliten und ihre ausländischen Partner könnten im Fall eines Sieges ihre Macht weiter ausbauen und von der Landkonzentration profitieren.
Man stelle sich einen Bauern vor, der an der Front sein Land verteidigt hat, während es hinter seinem Rücken verkauft wurde. Wofür hat er gekämpft?
Johann Thun
Weitere Informationen (engl.): www.oaklandinstitute.org/war-theft…