Die Ermächtigung der Vernunft

Aus DER RABE RALF Dezember 2023 / Januar 2024, Seite 14

Klimaschutz und Frieden statt Aufrüstung und Krieg

Grafik: Belgotay/​Wikimedia Commons

Das Pariser Klimaabkommen wirkt nicht. Die Klimakatastrophe eskaliert, die Treibhausgas-Emissionen steigen immer weiter – und auch die Rüstungsausgaben. Fossile Energien und zerstörerisches Wirtschaftswachstum werden weiter mit Milliarden subventioniert. Von einer Begrenzung oder wenigstens Verlangsamung der Katastrophe sind wir weit entfernt.

Das Jahr 2023 mit seinen Wetterextremen und einer beschleunigten Aufheizung der Erde hat gezeigt, dass eine Wendemarke der Klimakrise erreicht ist. Das 1,5-Grad-Ziel sei nicht mehr zu erreichen, das Zwei-Grad-Ziel nur noch mit allergrößten Anstrengungen, so äußerten sich Klimaexperten auf dem diesjährigen Extremwetterkongress im September in Hamburg. Politik und Gesellschaft hätten immer noch kein Bewusstsein für die Dimensionen des Klimawandels, warnte Tobias Fuchs, Klimachef des Deutschen Wetterdienstes (DWD).

Spirale von Rivalität und Klimakrise

Dazu kommt nun noch ein schrecklicher Krieg. Doch wer Deutschland „kriegsfähig“ machen will, wie Verteidigungsminister Pistorius, und einen großen Krieg in Europa für möglich hält, der spielt mit dem Feuer und hat aus der Geschichte offenbar nichts gelernt. Und er ignoriert den Brandherd Nummer eins, die Klimakatastrophe. Die Spirale von Aufrüstung, verschärfter weltweiter Konkurrenz und zunehmenden Auswirkungen der Klimakrise ist brandgefährlich und kann nur durch Vernunft aufgehalten werden.

Die Zeit des atomaren Wettrüstens zwischen Ost und West, mit Deutschland und Europa als möglichem Schauplatz eines Vernichtungskrieges, ist nur wenige Jahrzehnte her. Erst das Neue Denken eines Michail Gorbatschow in Kooperation mit westlichen Politikern sowie große Friedensdemonstrationen in West und Ost führten zu einer Politik der Abrüstung und Entspannung. Auch heute geht es angesichts von Klimakatastrophe und Weltkriegsgefahr darum, eine Politik der Verständigung und Kooperation durchzusetzen.

Es droht eine eskalierende Destabilisierung des Klimasystems und der globalen Biosphäre und damit eine irreversible Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschheit. Das zu verhindern müsste doch eigentlich absoluten Vorrang haben. Die Auswirkungen der Klimakrise werden immer verheerender, wie die vergangenen Monate zeigten. Die sintflutartigen Regenfälle in Griechenland, bei denen 15 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Landes zerstört wurden, sind nur ein Beispiel. Wir leben seit Jahrzehnten von der Substanz des Planeten und zerstören mittlerweile die Reproduktionsfähigkeit seiner lebenserhaltenden Systeme. Sechs von neun entscheidenden planetaren Belastungsgrenzen sind bereits überschritten und das System Erde verliert zusehends an Widerstandsfähigkeit gegen die permanenten vielfachen Überforderungen, ergab im September eine Studie unter Beteiligung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung.

Plötzliche Erleuchtung unwahrscheinlich

Wir wissen inzwischen sehr wohl, dass wir mit dem weiteren ungebremsten Ausstoß von Treibhausgasen ein wahnwitziges Risiko eingehen. Werden die politisch Verantwortlichen bei der Klimakonferenz im Dezember in Dubai den extremen Ernst der Lage zur Kenntnis nehmen und entsprechend handeln? Wohl kaum. Im Gegenteil wird Klimaschutz zunehmend als lächerliches Wunschdenken denunziert. In Dubai werden die Lobbyisten der Fossil-Industrie und des Wirtschaftswachstums wohl wieder den Ton angeben.

Der neue Klimakommissar der EU war Manager bei Shell und der gastgebende Verhandlungsleiter in Dubai war Manager beim größten Öl- und Gaskonzern des Landes. Man könnte verzweifeln. Klimapolitik ist inzwischen zu einer hohlen Alibiveranstaltung geworden. Die Vernunft gerät gegenüber aggressiver Machtpolitik zunehmend ins Hintertreffen. Es müsste ein Wunder geschehen, eine Erleuchtung in der Wüste, die all die verblendeten Machtmenschen sehend macht und die „Ehrfurcht vor dem Leben“ und die Liebe zum Leben in die „kalten Herzen“ der Technokraten der Macht und des Geldes pflanzt und zum Wachsen bringt.

Vermeintlicher Fortschritt der Menschheit

Die selbsternannte „Krone der Schöpfung“ ist bisher nicht fähig und willens, das Leben auf der Erde und den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Die „irrational gewordene, verrückt gewordene und selbstmörderische Ratio“, wie Noam Chomsky sagt, die instrumentelle Vernunft der Wachstums- und Profitsteigerung, die Barbarei der Effizienz und der Konkurrenz haben unsere Spezies auf den Gipfel der Macht geführt, wo in dünner werdender Luft weiter um den Sieg gekämpft wird, obwohl wir längst abzustürzen drohen. Es gilt endlich den geordneten Rückzug in lebensfreundliche Bereiche anzutreten und zu erkennen, dass dies der einzig mögliche Ausweg aus der Vielfachkrise ist.

Eine breite Bewegung für die Vernunft und das Leben ist dringend notwendig, eine Bewegung für Frieden, für entschlossenen Klimaschutz, für eine schnelle sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Nicht nur der UN-Generalsekretär und die Wissenschaft mahnen immer dringlicher zum Innehalten und Umsteuern, auch der Papst mit seiner neuen Klimaenzyklika „Laudate Deum“ und der Dalai Lama haben sich zur Klimakrise zu Wort gemeldet und für den Weg der Vernunft und des Lebens geworben. Ein Zeichen der Hoffnung – immerhin.

Symbolischer Klimaschutz scheitert

Wir dürfen die Erde nicht der Willkür politischer und ökonomischer Einzelinteressen überlassen. Die gemeinsamen Interessen der menschlichen Gemeinschaft gehören angesichts der globalen Bedrohungen in den Vordergrund. Nach dem Scheitern des kapitalismuskompatiblen symbolischen Klimaschutzes ist ein Klimaschutz notwendig, der sich allein an den Erfordernissen der Stabilisierung des Klima- und Erdsystems und der Biosphäre orientiert. Dazu braucht es eine sofortige entschlossene Weiterentwicklung des Pariser Klimaabkommens, dessen Ziele verbindlich werden müssen. Die Nichteinhaltung von Verpflichtungen muss zu wirksamen Sanktionen und Strafen führen. Aufrüstung statt Klimaschutz geht dann nicht mehr.

Es gilt, militärisch, aber auch energetisch und ökonomisch abzurüsten und eine gerechte, global wirksame Sicherheits- und Kooperationsstruktur zu schaffen. Dann können die frei werdenden Mittel in die Sicherung der Lebensgrundlagen und die Verhinderung der Klimakatastrophe umgelenkt werden. Wir brauchen diese Friedensdividende für die globale Klimawende. Insofern ist Friedenspolitik die beste Klimapolitik und der Schlüssel zur Bewältigung der sich zuspitzenden Existenzkrise der Menschheit.

Jürgen Tallig 

Weitere Informationen:
www.earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com

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