Mit Rechthaberei für Gerechtigkeit?

Der Umgang miteinander ist Vorbedingung für gemeinsames politisches Handeln

Aus DER RABE RALF Dezember 2002/Januar 2003

Mich hat es schon immer gestört und oft auch verletzt, mit welchem Absolutheitsanspruch und mit welcher Diffamierung alles Anderen die meisten politischen Ideen und Weltanschauungen auftreten. Da ich mich trotz meines künstlerischen Individualismus, oder gerade deshalb, einem sozialen Denken und einem authentischen menschlichen Umgang verpflichtet fühle, bin ich auch häufig genug mit den Vertretern der starren, rechthaberischen, dogmatischen Linken aneinander geraten.

Die unfaire und jeden Menschen nur irgendeiner Partei zurechnende, aber nicht ihn persönlich beachtende Sichtweise ist mir zuwider, und gleichzeitig enttäuscht mich das immer von neuem. Ich habe seit dem 11. September einige meiner politischen Freundschaften überprüfen und – wie soll ich sagen? – beenden müssen. Das wollte ich eigentlich nicht, vielmehr sah ich mich selbst ausgeschlossen und diffamiert. Vielleicht ist das zu verstehen: wie man einem Gruppenzwang ausgesetzt wird, eine Partei zu ergreifen, aber das will man nicht, und dann heißt es hämisch, ”Deine Freunde lassen dich im Stich, was bist du bloß für ein Typ? – usw.”

Solche Erlebnisse sind immerhin eine gute Voraussetzung, über das Persönliche und das Politische nachzudenken und überhaupt darüber, inwieweit der Umgang miteinander Vorbedingung für gemeinsames politisches Handeln ist. Bei dem was ich zu kritisieren habe, offenbart sich eine Methode, die kennzeichnend ist für den ganzen politischen Betrieb, eigentlich seit der Aufklärung und dem Beginn der Moderne, und für deren Überwindung durch eine “postmoderne Linke” ich mich einsetze – oder besser noch ohne “Linke”, bloß “postmoderne politische Aktivisten”.

Das Ende des Universalismus der Moderne

Was wir am 11. September 2001 erlebt haben, war das augenscheinliche Ende der Moderne. Spätestens da wurde klar, dass die Epoche ihr Ende gefunden hat, die mit der Aufklärung begann und allerdings auch nicht aus sich selbst hervorgegangen ist, sondern den Versuch des westeuropäischen säkularen Protestantismus darstellt, die Welt mit einer einzigen Idee von Recht, Wahrheit und dem Guten zu beherrschen. Dies nennt man auch den Anspruch der Moderne auf universelle Gültigkeit, den Universalismus der Moderne, das ist ihr entscheidendes Merkmal. Und die Linke spielt dabei seit 200 Jahren als aufklärerischer Motor der Moderne eine entscheidende Rolle.

Ich halte sehr dafür, diese Allgemeingültigkeit als eine weltliche Variante des Monotheismus anzusehen, jener Gottesauffassung, die die drei großen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam eigentlich vereinen, und die ja aus denselben Quellen stammen. Offenbar ist der Anspruch auf Weltherrschaft nur als expansionistischer Anspruch tauglich. Aber wenn es darum geht, mit der globalen Wirklichkeit angemessen umzugehen, bedarf es wohl einer andern Kultur als der eines die Menschen der ganzen Welt verschlingenden protestantischen Kapitalismus.

Damit sich diese Behauptung vom alleinseligmachenden Erwerb irdischer Güter ein bisschen nachvollziehen lässt, hier ein kleines Zitat des US-Präsidenten Eisenhower: “Wenn hohlköpfige Kritiker das zu unserem privatkapitalistischen System gehörige Motiv des Profits anprangern, so ignorieren sie die Tatsache, dass es die wirtschaftliche Grundlage all der Menschenrechte ist, die wir besitzen.” Exotisch? Nein, das ist säkularer Protestantismus, den wir hierzulande eigentlich bestens kennen müssten.

Individualismus, Pluralismus, Toleranz und Selbstorganisation als Merkmale der Nachmoderne

Wichtig ist es, die heutige Zeit nicht nur als einen Plural der Kulturen, sondern aller gesellschaftlichen Bereiche zu begreifen, oder wie der Begründer der Systemtheorie, Nikolaus Luhmann, es ausdrückt: der Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Recht, Kunst, Religion, Sex, Wissenschaft usw. Seit der Kulturrevolution der 60er-Jahre gab es im Westen einen tiefgreifenden sozialen Wandel. Soziale Strukturen, die uns heute nur noch wie Ammenmärchen vorkommen, haben sich aufgelöst, und die offene Gesellschaft mit dem frei herumvagabundierenden Individualismus ist nun erst wirklich eine Realität geworden. Insbesondere ist heute im Jahr 2002 eine Generation herangewachsen, die gar nichts anderes mehr kennt, die in die offene, individualistische Gesellschaft hineingeboren wurde.

Diese Veränderung seit den 60er-Jahren hat auch die außerparlamentarische Opposition beeinflusst. Zu dieser Zeit erst sind die vielen Bürgerinitiativen entstanden, die Autonomen, die damals ausdrücklich von den linken Kleinstparteien unabhängig sein wollten, und die irgendwie noch anders schattierte Neue Linke. Aber es gab auch die herumschweifenden Haschrebellen oder die Hippies.

Seit den Linken in Deutschland und weltweit 1989 das Reich ihrer allerdings schon vorher geplatzten Träume mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion abhanden gekommen ist, hat sich nicht nur das Verhältnis der sogenannten Weltmächte verschoben, sondern auch die sozialen Oppositionen haben ihren Zusammenhalt und Zusammenhang verloren, was allerdings – und darauf kommt es an – viele ehemals Linke nicht wahrhaben wollen, und je kleiner ihr Klub wird, desto eifriger halten sie ihr Fähnlein der Aufrechten hoch. Diese aufrechten Fossile demonstrieren seit den 90er-Jahren in ihrem Bestreben, sich ständig zu zerkleinern und zu verhackstücken, eine ausgesprochen postmoderne Tendenz des politischen Individualismus, den sie jedoch anders, als ich es hier tun will, mit dem historisch überholten Anspruch der Moderne auf Allgemeingültigkeit, also wieder dieses Universalismus, begründen.

Dabei gibt es extreme Widersprüche im linken Lager nicht erst seit Che Guevaras Befreiungsnationalismus oder Pol Pots mörderischem Steinzeitkommunismus in Kambodscha. Schon August Strindberg notierte vor über 100 Jahren für die europäische Linke: “Der Sozialismus, der eigentlich Christentum war, wurde von Atheisten verehrt, die Christen waren kapitalistische Egoisten, die Bauern waren Royalisten, die Royalisten spielten Liberale, der Monarch war Freidenker, die Anarchisten waren Aristokraten – es war eine babylonische Verwirrung!”

Wer sich heute noch links nennen will, muss erst mal sagen, was er alles nicht ist, kein Staatskommunist, kein Linker der Neuen Mitte, kein Linksmilitarist, kein Terrorist, kein Maoist, kein Stalinist, Leninist natürlich auch nicht , Bakunist ginge noch, weil dessen Vorbild noch nicht in geschichtliche Ungnade gefallen ist, aber auch kein Steinzeitkommunist, und in Deutschland müsste er hinzufügen, kein Restlinker, kein Altlinker, kein Wendelinker, kein Neuer Linker, weil die auch schon ziemlich alt sind – es macht keinen Spaß mehr links zu sein, wenn man mit so vielen in einen Topf geworfen wird, die man nicht ausstehen kann. Nicht unberücksichtigt bleiben soll auch die Szene der sich als Antis Bezeichnenden, die früher einmal das nihilistische Recht der Jugend, sich nur negativ zu bestimmen, beanspruchen durften, aber seit das Antideutschtum von den Herrschaften zweifellos fortgeschrittenen Alters in der Zeitschrift “Konkret” propagiert wurde, seit der Anti-Antisemitismus und der Antifaschismus sogar eine Angelegenheit von Großvätern und Urgroßvätern ist, bedienen sich nur noch Autoritäre und Dogmatiker dieses Nihilismus. Ich glaube, es fehlt der politische Esprit. Für die eigene Selbstdefinition ist es nicht gerade förderlich, einen so unpräzisen Begriff zu haben, es ist eine Identität auf sehr unsicherem Fundament, und eigentlich, welchen Grund außer unserer Bequemlichkeit gibt es, uns mit einer historisch überholten Identität zu belegen?

Wir brauchen einen anderen Umgang – gerade unter Freunden

Viele meiner Freunde sind genauso unzufrieden damit wie ich, sich als Linke zu bezeichnen. Allerdings glaube ich gar nicht wegen der Zerstrittenheit, die man ja durchaus als innovativ bezeichnen könnte, sondern weil wir das Gefühl nicht loswerden, dass diese ganzen linken Strömungen und Bewegungen irgendwie nichts mehr mit uns zu tun haben, dass jetzt eine andere Zeit ist, weil uns insbesondere der große Bereich des Individuellen und Subjektiven, der Kultur und der Kunst nicht nur nicht abgedeckt sondern dem sogar zu widersprechen scheint. Darüber kann uns auch eine Legion linker Künstler, Avantgardisten, Gorkis, Brechts und Sartres nicht hinwegtrösten, Gorki mit seinen zu klassenkämpferischen Plots und kommunistischen Predigten, die eine bloß umgepolte russische Gläubigkeit verraten, Sartre mit seinem Immer-irgendwas-beweisen-Wollen – die Kunst im Dienst einer, allerdings schon weniger als bei Gorki und Brecht, optimistischen Weltanschauung.

Wenn die politisch Aktiven von heute sich der Linken irgendwie verwandt fühlen, z.B. weil ihre Wurzeln von da herkommen, so bevorzugen sie es doch, sich anders zu bezeichnen, als Widerstand, als Antiglobalistas, als Direct-Actionist, als Kulturaktivisten, als Attacies, als Tierrechtler usw. – aber was bedeutet das anderes, als dass die alte Kategorie Links nicht mehr taugt?

Das ist für die Zusammenarbeit der politisch Aktiven von größter Wichtigkeit, dass ihr Umgang frei ist von allem Kollektiven, dass jedem zu jeder Zeit das Recht gegeben wird, für sich selbst zu entscheiden, dass kein Gruppenzwang ausgeübt wird, weder bei Aktionen noch bei inhaltlichen Fragen. Bei dem neuen Umgang mit dem Politischen, den ich mir wünsche, geht es um die persönliche Authentizität. Das Individuelle ist immer politisch, denn daran misst sich die Freiheit. Auch unter Freunden – grade da!

Das Persönliche ist politisch und umgekehrt. Darum habe ich einen hohen Anspruch an die Ehrlichkeit, dass keine Formelsprache benutzt wird, kein Blabla-Jargon, kein politischer Krampf, keine Sprachlosigkeit. Die Zeit dazu scheint mir heute endlich gekommen, vor hundert Jahren hat ein Anton Tschechow davon noch geträumt: “Ich glaube nicht an unsere (linke) Intelligenz”, und er meinte damit das linke Parteienwesen und die Bündelei, “ich sehe die Rettung in Einzelpersönlichkeiten.”

Das Problem bei allen politischen Organisationen – auch etwa bei Attac – ist die Notwendigkeit ihre Mitglieder zu vereinen, d.h. über einen Kamm zu scheren. Mit der Folge, dass die Mitglieder nicht für sich selbst, sondern für ihren politischen Verein einstehen. (Besonders schlimm ist das bei Parteien oder Religionen, die dank ihres Parteiprogramms oder ihres Katechismus auf alle Fragen eine Antwort haben.) Diese Politik läuft darauf hinaus, die Bewegungen an der Basis doch wieder für Lobby- und Vertreterpolitik zu missbrauchen.

Solche Entfremdung versuchen Organisationen wie Attac zwar zu vermeiden, indem sie nur auf einem Minimalkonsens bestehen, aber das wäre der typische Fall für eine Einpunktbewegung. Dann droht die andere Gefahr, dass jene einzige Idee als Rettungsanker für alle Probleme der Menschheit hochstilisiert wird. So ist es z.B. bei dem Zinsdogmatismus der Freiwirtschaftler seit Silvio Gesell bis Helmut Creutz – bei Attac die Tobinsteuer.

Kurz und gut, es sollte überhaupt keine formale Organisation geben, nur eine informelle:

  • wir kennen uns
  • wir machen was zusammen
  • wir sind bestens informiert, weil diese Art Organisation von ihrem Informationsgrad abhängt
  • jeder entscheidet nur für sich – autonom, um das Reizwort zu gebrauchen
  • alles muss von unten kommen, selbstorganisiert und selbstbestimmt

Das ergibt eine schlagkräftige Organisation, wie wir es zum ersten Mal in Seattle am 30. November 1999 gesehen haben

Heute, da die Menschheit auf dem Globus so nah zusammenrückt, geht es darum, dass die Unterschiede nicht länger ignoriert und mit einem universalistischen linken oder sonst wie intellektuellen Dogmatismus zugedeckt werden, dass jede ideologische Verbindlichkeit aufgegeben und endlich angefangen wird, diesen postmodernen Flickenteppich der Kulturen und ihrer individuellen Träger zu tolerieren, Toleranz und Pluralismus zum Überlebensprinzip zu machen, die Vielfarbigkeit zu lieben und sich dennoch hochgradig engagiert gegen jede Ungerechtigkeit weltweit zu verhalten.

Herrmann Cropp

Der Autor betreibt den Packpapier Verlag, einen kleinen, sehr innovativen Alternativ-Verlag (PF 1811, 49008 Osnabrück, packpapier.verlag@t-online.de). Der (gekürzte)Text folgt seinem Diskussionsbeitrag beim “OpenOhrFestival” in Mainz, Pfingsten 2002.

* Der einzige Futuruloge, der diese Bezeichnung verdient, ist meines Erachtens Stanisław Lem mit seinem phantastischen Skeptizismus – z.B. Biotechnologie, Wissenschaftstheorie, Religion –, zugleich ein großartiger Schriftsteller (Der futurologische Kongress, Sterntagebuch). Lem schrieb in “Lokaltermin”: “Ein Idiot, zumal wenn er ein Vollidiot ist, wird, wenn sie es ihm anbieten, auf der Stelle bereit sein, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Ein Mann von Bedacht wird erst einmal nachdenken, ein Weiser sich lieber aus dem Fenster stürzen.”

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