Von Saurüsseln und Handwebern

Über die Wiederbelebung einer Region und die „Rocken-Philosophie“ eines Gemüsegärtners

Aus DER RABE RALF Dezember 2001/Januar 2002

Als ich Sigmar Groeneveld, den Hochschullehrer für Agrarkultur im hessischen Witzenhausen, mal fragte, wo er Bernhard Heindl kennengelernt habe, meinte er: Ja, er sei einmal auf einem Treffen von Regionalismus-Aktivisten in Nordösterreich gewesen, da sei – unerreichbar in einer allzu großen Menschenmenge – ein zurückhaltender Mensch gewesen, der die ganze riesige Tagung mit dem merkwürdigen Titel „Erdsegen“ maßgeblich mitorganisiert haben sollte. Später gelang es ihm dann, Bernhard Heindl als Referenten für sein Seminar zu gewinnen. Von Bernhards Referat zum Begriff des „Bodens“ waren wir alle zutiefst beeindruckt.

Der Heindl Bernhard – wie die Leute in seiner Gegend sagen – wurde 1947 als Sohn eines Müllers geboren und wuchs im österreichischen Mühlviertel an der Grenze zum Böhmerwald auf. Seine Eltern bewirtschafteten neben ihrer Mühle einen Bauernhof, bauten Getreide an und hatten Kühe und noch ziemlich selbständig sich ernährende Schweine, die sich von den halbwüchsigen Buben prima ärgern ließen.

Während seines Philosophie-Studiums in Wien lernte Bernhard Susanne aus Linz kennen. Susanne hatte in Wien studiert und kam eben aus New York zurück, wo sie ein paar Jahre gelebt hatte, um dort die Kunstweberei auszuüben und bei einem alten Inder weitere Kunstgriffe zu lernen. 1973 beschlossen die beiden, zusammen aufs Land zu gehen. Sie kauften im Mühlviertel ein altes, einsam gelegenes Bauerngehöft und machten sich an die Arbeit. Alles mußten sie selbst instandsetzen, es lag alles im argen. Sie kachelten sich kunstvoll eine Badewanne, die noch heute jeden ihrer Besucher beeindruckt, und setzten jede Menge Öfen. Sie brachten den Gemüsegarten auf Vordermann, aus dem sie sich seither im Sommer weitgehend ernähren.

In der Umgegend, einer Landschaft, wo das Weben über 100 Jahre lang ein ganz üblicher Nebenerwerb der Bauern war, fanden sie alte, nicht mehr benutze Webstühle, die Bernhard später auch nachzubauen lernte. Seither verdienen die beiden ihren Lebensunterhalt wesentlich durch die Kunstweberei. Der Anbau von Gartengemüse und die ständige geduldige Eigenarbeit an Haus und Hof bedeuten, daß sie nicht so sehr viel verdienen müssen, denn in Zeiten der Krise kaufen die Leute weniger Handgewebtes. Susanne Heindl lebt hauptsächlich von direkten Aufträgen von Firmen und Geschäftsleuten, die bei ihr Vorhänge, Wandteppiche oder Tischdecken bestellen und sich untereinander von ihr erzählen. Sie hatte zahlreiche Ausstellungen und bekam mehrfach Preise für ihre schönen Webstücke, unter anderem 1994 auf dem Kunsthandwebermarkt in Radstadt. 1991 wirkte sie an der Ausstellung zum österreichischen Staatspreis für gestaltendes Handwerk mit.

„Du mußt uns einen Vortrag machen“

Auch als die Heindls schon zehn Jahre auf dem Land wohnten, waren sie immer noch Fremde, denn man wußte, daß sie aus der Kirche ausgetreten waren. Eines Tages sagte ein Bauer, ein Nachbar, der die beiden Heindls öfter zum Mosttrinken besuchte und Bernhards Wissen schätzen gelernt hatte, zu diesem: „Du mußt uns einen Vortrag machen“. Der Landwirt mietete einen Saal und ging zum Pfarrer: der sollte das Vorhaben von der Kanzel herunter ankündigen. Es war im Frühling 1982. Tatsächlich kamen auf Anhieb 150 Menschen in die „Hammerschmiede“, ein abgelegenes Landwirtshaus der Gegend – die meisten wahrscheinlich aus Neugier. Die vielen Leute enggedrängt brachten eine entsprechende Stimmung auf. Bernhard Heindl sprach über „Die Gefahren unserer Zukunft“, nämlich 1. über die „ökologische“ Gefahr, worauf die Landwirte mit Murren reagierten, 2. über die Gefährdung des Friedens (damals war die Mittelstreckenraketen-Stationierung in der BRD Ziel von Protestaktionen) und 3. über den Nord-Süd-Konflikt.

Zum Schluß der Veranstaltung kam ein Bauer zu Bernhard Heindl, sagte „Dich brauchen wir!“ und forderte ihn auf, bei dem in Gründung befindlichen Regionalverein mitzutun. Nach zwei, drei Vorbereitungstreffen wurde Bernhard Heindl zum Obmann des „Vereins zur eigenständige Regionentwicklung im Oberen Mühlviertel“ gewählt. Zum Verein gehörten „Alternativbauern“, andere kritische Bauern, Katholiken, die sich um Kirchen-Fragen nicht kümmerten, Hausfrauen, Lehrerinnen sowie einige Handwerker und Kleinstunternehmer. Man traf sich reihum in den Gasthäusern der Region, um die Wirtshäuser zu unterstützen und sich nicht unnötig unsichtbar zu machen.

Die erste Aktion war eine große Milchveranstaltung. Damals durften die österreichischen Bauern wegen der Monopoleinzugsrechte der Molkereien nach dem „Milchordnungsgesetz“ von 1955 ihre Milch nicht selbst verkaufen. Als eine Bäuerin in Linz wegen unerlaubten Milchverkaufs auf dem Markt bestraft wurde, organisierte der Mühlviertelverein eine Podiumsdiskussion, wo die Bauern sich gegenseitig ihre Empörung über diese Regelungen berichten konnten. Das brachte dem Verein den wilden Haß der gesamten Oligarchie des österreichischen Bauernbundes und der konservativen Regierungspartei ÖVP ein. Die Unterschriftenaktion dazu war die erste in ihrer Gegend überhaupt. Von Hof zu Hof gesammelt, brachte sie dem Mühlviertler Regionalverein eine unglaubliche Zustimmung. Alle fanden das Anliegen des Vereins völlig richtig. Aber viele wollten dennoch nicht unterschreiben und meinten: „Wenn ich dann mal was von der Gemeinde brauche…“ Aber die Presse wurde auf den Regionalverein aufmerksam. Um 1990 wurde die Monopolisierung der Einzugsgebiete der Molkereien fallengelassen – wahrscheinlich vor allem als „Strukturanpassung“ im Hinblick auf den geplanten EU-Beitritt.

Dinkelgemeinschaft und Bergkräutergenossenschaft

Der Regionalverein vermittelte diverse wirtschaftliche Aktivitäten. Zum Beispiel unterstützte er mit dem Kauf einer Dinkelmaschine die Gründung einer Nudelfabrikation durch eine Genossenschaft mehrerer Bauern, die „Dinkelgemeinschaft“. Er rief eine „Bergkräutergenossenschaft“ ins Leben, die heute europaweit vermarktet. Der Verein kaufte alte Textilmaschinen und unterstützte eine Gruppe, die eine leerstehende Textilfabrik in Haslach mietete, um dort eine alternative Textilwerkstatt zu gründen. Es entstand ein Wollverarbeitungsbetrieb mit Spinnerei und Weberei, erweitert durch eine „Filzpatschenproduktion“, die wunderschöne Filzhausschuhe machen. Der Betrieb wurde im letzten Jahr von der 1991 gegründeten Arbeitsloseninitiative übernommen, es sind heute fünfzehn bis zwanzig Menschen, die dort arbeiten. Das ganze ist eine Mischung aus Sozial- und Wirtschaftsprojekt, heute gesichert durch Sozialgelder für die dort mitarbeitenden „Schwervermittelbaren“.

Gleichzeitig wollte man auch etwas auf kulturellem Gebiet schaffen und begründete 1991 die „Textile Kultur Haslach“, ein vierzehntägiges Textilsymposium, das seither – von Susanne Heindl und anderen organisiert – alljährlich in der zweiten Julihälfte Künstler und Fachleute in Haslach an der Mühl zusammenbringt. In Workshops werden den meist über 100 Interessierten, LehrerInnen und Urlaubern alle möglichen Arten vermittelt, Stoffe zu wirken und zu weben.1 Die Veranstaltung ist „nebenbei“ eine nicht zu unterschätzende Werbung für das Mühlviertel als Tourismusgebiet. Im Sommer 2000 lockte eine besondere „Polster“-Ausstellung mit Hunderten von verschieden verrückten oder auch nur schönen und bunten Kissen die Leute von nah und fern.

Mit all diesen Engagements ging es den Aktivisten des Vereins darum, zwischen Berufsgruppen, Altersgruppen und Geschlechtern die Kommunikation zu fördern und der Tendenz vieler Menschen, sich einzumauern, aktiv entgegenzuarbeiten. Es ging darum, gezielt Brücken zu bauen und dabei „die da oben“ mit „denen da unten“ ins Gespräch zu bringen: nämlich die Politiker in die Dörfer einzuladen und sie so zu zwingen, in die Provinz hinauszukommen.

„Unsere Meinung muß euch interessieren“

Im Zusammenhang mit ihren ausführlichen Diskussionsabenden zur Frage des österreichischen EU-Beitritts (sie waren dagegen) organisierten die Vereinsaktivisten eine gemeinschaftliche Busfahrt nach Wien ins Institut für Raumplanung: „Unsere Meinung muß euch interessieren, wir kommen jetzt einmal!“ Die dortigen Professoren ließen sich zu den Bauern, die überraschend in ihr Institut vordrangen, gnädig-amüsiert herab. So kamen dreißig Bauern zum erstenmal in ihrem Leben in eine Universität. Der ganze Ausflug war riesig lustig und vergnüglich und eigentlich vor allem ein Fest – wie die Vereinsleute überhaupt viele Feste gemacht haben, wobei herkömmliche Volksmusik mit Jazz-Darbietungen kombiniert wurde, um Bauern und „Alternativszene“ gleichermaßen gerecht zu werden.

Dazu gab der Verein viele Jahre eine eigene Zeitschrift heraus, den „Saurüssel“, der vierteljährlich erschien. Zum Jahresfest gab es das berühmte Saurüssel-Fest, eine große Gaudi, zu der die Donauschiffer gar in guter karnevalesker Tradition ihre Boote übers Land zogen. Alle Bäcker und Metzger boten ihre Sterze und Trommeln, ihr Gebäck und die Würsteln in Form von Saurüsseln an. Später wurde ein „Mühlviertelkalender“ herausgebracht, bei dem zeitweilig die Fachschaft der Studenten der „Universität für Bodenkultur“ Wien half. Er erscheint bis heute.

Höhepunkt der Vereinsaktivitäten war die „Pro Regio“-Tagung im Februar 1986. Bernhard Heindl hatte zufällig das Rosseger-Buch „Erdsegen“ gelesen und schlug das merkwürdige Wort wegen seiner irritierenden Wirkung als Tagungs-Titel vor. Bernhard lud Al Imfeld ein, den Autor des Buches „Zucker“, der sich mit der Situation von Bauern in Afrika und in der Dritten Welt befaßt hat. Der empfahl Sigmar Groeneveld als Referenten zum Thema „Agrarkultur“; hinzu kam der Kochkünstler Peter Kubelka aus Wien. Andere Vereinsmitglieder luden Alternativ-Bauern ein, so wurden es insgesamt fünfzehn bis zwanzig Referenten. Statt der erwarteten hundert Leute kamen über tausend Menschen, sie haben nie ganz herausgekriegt, wo die Menschen alle herkamen. Aber es war die Zeit der allgemeinen Begeisterung für „die Provinz“ und die Arbeit „in der Region“. Die Mühlviertler waren mit der Organisation völlig überlastet und mußten gewaltig improvisieren. Ein Radio-Journalist, der die Tagung als Machenschaft der Reaktion entlarven wollte, mußte zu seiner Empörung sein Gasthauszimmer mit einem Fremden teilen. Im Ort Neufelden waren alle Zimmer ausgebucht, auch bei den Bauern, die Freunde mußten in Schlafsäcken in den Wohnstuben der Organisatoren übernachten. Der heutige grüne Europaabgeordnete Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf hielt das Einleitungsreferat. Er war damals schon Landwirtschaftsspezialist und brachte eine schwungvoll vorgetragene kritische Einschätzung der europäischen Agrarpolitik. Die Arbeitsgruppen wurden von Bauern geleitet, nur morgens und abends trafen sich alle zu den zentralen Vorträgen im großen Saal…

Bernhard Heindl zog sich aus 1992 aus der Vereinsarbeit zurück, unter anderem, weil – typisches Schicksal „sozialer Bewegungen“ – ein Diffusionsprozeß die Vereinsmitglieder mit verschiedenen Aktivitäten in alle Richtungen driften ließ und sich nach dem österreichischen EU-Beitritt Ende 1992 immer weniger machen ließ. Neben Weberei sowie „Haus und Hof“ (Garten) widmete er sich erneut seiner Philosophie. 1989 erschien seine Analyse „Wir Österreicher sind ein braves Volk“ über Kurt Waldheim und darüber, wie die Österreicher sich plötzlich einer unangenehmen Vergangenheit zu stellen hatten, 1992 ein Büchlein „Textillandschaft Mühlviertel“ zur Erinnerung an die Erwerbstradition der Landschaft und im Jahr 2000 der Katalog zu der „Polster“-Ausstellung.

„Wozu lassen sich Bauern noch gebrauchen?“

Die verschiedenen Vorträge, die der Heindl Bernhard vor Bauernverbänden, Professorinnen der Hauswirtschaft, in Dritte-Welt-Laden-Kollektiven oder in Volkshochschulen hielt, fanden Eingang in einem Sammelband, der eine scharfe Kritik an der heutigen Agrarpolitik und unserem unbedacht unmäßigen Umgang mit dem Natürlichen, vor allem den Nahrungsmitteln, darstellt. „Einwärts – Auswärts. Vom Hegen der Erde“2 heißt der Band irritierenderweise und erinnert damit an ein älteres Bauernwort für den Jahresablauf. Im Herbst wird die Ernte eingefahren und im Frühjahr die Saat wieder ausgebracht. Der Autor diagnostiziert: „Die Bauern gehen nicht nur infolge der Schulden und der Preis-Kosten-Schere und unter dem Druck des sogenannten Weltmarktes zugrunde. Sondern auch und vor allem am Selbstverständnis einer Industriegesellschaft, in der bäuerliche Arbeit um so weniger Anerkennung findet, je weiter sich diese Gesellschaft von der Natur entfernt und je schleierhafter ihr daher die zentrale Position der Landwirtschaft am exponierten Knotenpunkt unseres Lebens wird.“

Zynisch fragt er: „Wozu lassen sich Bauern noch gebrauchen?“ Wir, das Menschengeschlecht, meint Bernhard Heindl, hätten vergessen, woran schon der griechische Philosoph Hesiod vor 2600 Jahren erinnerte – nämlich daß uns im Gegensatz zu den Würmern die Nahrung nicht von allein vor das Maul kommt, sondern wir uns vielmehr um die „Früchte der Erde“ tätig bemühen müßten. Ohne den Landbau können wir nicht essen, das aber scheinen wir verdrängt zu haben.

Das weiß vor allem die Wissenschaft von der Landwirtschaft nicht mehr so richtig. Die Universitäten bilden vor allem Agrarberater aus, kaum noch Landwirte oder gar Bauern. Die Fakultäten für Landwirtschaft an den Universitäten verstehen offenbar nicht, daß sie sich mit der Hofierung der Ökonomisierung des Landbaus auch selbst zum Untergang verurteilen: Die Verachtung der Landwirtschaft führt zum Studentenschwund im Agrarbereich und verhindert die Reform veralteter Ingenieursstudiengänge. Eine merkwürdige Entwicklung, deren Ziel uns mehr als schleierhaft sein muß, wenn wir bedenken, daß am Anfang der menschlichen Geschichte die Entstehung der Agrarkultur stand. Sind wir also wirklich am Ende der Geschichte angelangt? Wenn es heute darum geht, eine bauernbereinigte Landwirtschaft zu schaffen, die keine „Farmen“ geschweige denn „Bauernhöfe“ braucht, wie die Agrarfakultät der Universität von Pennsylvania öffentlich verkündet, dann dürfen wir an unserem kollektiven Verstand und damit unserer Zukunft tatsächlich zweifeln.

Bloß damit irgendwelche Firmen geschmacklose Riesenerdbeeren ein, zwei Wochen eher auf die Weltmärkte der Reichen bringen können als bisher, wurde mit EU-Hilfe die seit dem Zeitalter des Kalifats vielfältige Agrarlandschaft Almeria in Andalusien, mit Feigen-, Oliven- und Mandelbäumen nebst Wein und Apfelsinenanbau, zerstört und in eine einheitliche Öde unter Plastikplanen verwandelt.3 So werden die letzten Bauern eigentlich nur noch gebraucht, um das real existierende Abziehbild für Werbe-Anzeigen abzugeben, mit der die internationalen Lebensmittelkonzerne, die mittlerweile mehr Macht haben als die Auto- und die Elektroindustrie zusammen, ihre in Laboratorien nach Anweisungen aus der Retortenchemie zusammengebrauten Kunstlebensmittel zu verkaufen suchen.4

Tatsächlich aber ist es gerade die Bauernwirtschaft, meint der Autor, die uns daran erinnern kann, daß das Leben des Menschen von der ihn umgebenden Natur eben nicht unabhängig ist, sondern in die Kreisläufe der Jahreszeiten und vom Leben zum Tod noch immer eingebunden ist und bleibt.

„Gaia, die alles gibt und alles nimmt“

Die Mythen der „Primitiven“ zeigen, daß der Menschheit in den vorwissenschaftlichen Zeitaltern diese Tatsache klar war. Die primitiven Völker kannten sozusagen kein „unökologisches“ Denken. Sie wußten, daß ohne den Tod das Leben nicht denkbar ist und es daher auch unmöglich beliebig sein kann, welche Art von Essen, welche Sorte übermäßig konservierter und verfälschter Lebensmittel die Menschen zu sich nehmen. „Im Zentrum der Mythen, mit denen sich die verschiedensten Völker in den voneinander entferntesten Erdteilen mit ihren jeweiligen Geschichten dasselbe über den Ursprung der Landwirtschaft erzählen, steht immer der Tod. Und zwar der Tod als jenes Opfer, welches das Leben bringen muß, um selber leben zu können. Das Ungeheure dieser Tatsache kommt in jenen Erzählungen zumeist in der Geschichte des gewaltsamen Todes zum Ausdruck, in dem ein göttliches Wesen hingeschlachtet wird. Aus den Stücken des verwesenden Leichnams sprießen die Nutzpflanzen…“5

Bei manchen Formulierungen wie der „daß zur Frucht des Lebens die Saat des Todes aufgehen muß“, hat man das Gefühl, daß der Philosoph und gebildete Altphilologe Heindl vielleicht ein bißchen zu tief in Heideggers Kochbuch geguckt haben mag. Schließlich ist das Saatgut, das man für das nächste Jahr aufhebt, nicht tot, es „überwintert“ – wie der Titel eines anderen gut zu lesenden Aufsatzes in dem Band lautet. Sicher aber erinnert der Winter an den Tod und damit an unsere Sterblichkeit. Der Winter ist in der griechischen Vier-Elemente-Lehre der Nacht, der Erde und den Qualitäten trocken und kalt zugeordnet. Häufig wählen die Alten gerade die dunkle Jahreszeit zum „Heimgang“, wie die Griechen es formulierten, in „die breitbrüstige Gaia, die alles gibt und alles nimmt“.

Eine Erde, die im späteren olympischen Götterhimmel merkwürdigerweise durch Hades verkörpert wird, den Gott der Unterwelt, und zu der Persephone, die Göttin der Unterwelt, gehört. Der Sage nach hatte Hades Persephone, die Tochter der Getreidegottheit Demeter, geraubt. Voller Trauer ließ Demeter alles auf der Erde verdorren. Zeus verdonnerte Hades, Persephone wieder herauszugeben. Listig schenkte Hades Persephone zum Abschied einen Granatapfel, den sie unüberlegt annahm. Er hatte der Demeter-Tochter damit ein Fruchtbarkeitssymbol geschenkt, das sie zwang, sich beim Verlassen der Höhlenwelten umzudrehen. Damit war sie der Unterwelt erneut verfallen. Fortan galt: die Göttin der Unterwelt, die ein Drittel des Jahres alles verdorren und einfrieren läßt, ist ebenjene, die im Frühjahr die Samen emporkeimen und im Sommer die Vegetation Frucht tragen läßt. Dieser Mythos erinnert uns daran, daß die Griechen meinten, wer essen muß, müsse auch sterben.

Fruchtbarkeit, Liebe und Tod gehören zusammen. Der große Granatapfel mit seinem wohlschmeckenden roten Fleisch und den vielen kräftigen, hellen Samen fungiert im asiatischen Raum noch heute als anzügliches Liebes-Geschenk. Allein die Götter brauchen nicht zu essen. Als Unsterbliche haben sie das nicht nötig. Die Menschen, denen der Genuß der Speisen zuteil war, waren eben deshalb auch sterblich.

Das gemeinsame Opfern und Speisen machte überhaupt den Menschen aus. Daran erinnert das Hera-Opfer in Argos auf der Peloponnes. Alle fünf Jahre wurden der Hera, der „großen Ernährerin“, 300 Rinder geopfert. Das gemeinsame Opferfest, das Ritual und das gerechte Verteilen der Bratenanteile machte die Menschen zu „Genossen“. Zum gemeinsam Genießen gehört die bezähmte Gier. Der gerechte Teil am Opferfleisch (mores, portio) bedeutete, daß einer auch den gerechten Teil am Schicksal (moira) erhalten würde. Das gemeinsame Opfer alle fünf Jahre garantierte also mit der Gerechtigkeit (dike) das Gemeinwesen überhaupt, die Gesellschaft wie den Staat.6

Das heute bei uns in Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur verlorene „richtige Maß“ bedroht mit der Gesellschaft die Menschheit überhaupt. Das richtige Maß war für die griechischen Philosophen die Frage nach der „Kunst der richtigen Lebensführung“ (Diätetik). Die verrückte Expansion unserer heutigen Wirtschaft, die sich alles und jeden unterjocht, uns geschmacklos(e) schlechte Lebensmittel aufzwingt, treibt uns in den maßlosen Konsum. Unbefriedigt werden wir zu Nimmersatts, zu einer Gesellschaft der Süchtigen, der Abhängigen eben, die nicht mehr Herr ihrer selbst ist, da sie den (Koch-)Löffel unbedacht aus der Hand gegeben haben…

Elisabeth Meyer-Renschhausen

Dr. Elisabeth Meyer-Renschhausen ist in der AG Agrarkultur und Sozialökologie an der Landwirtschaftsfakultät der Berliner Humboldt-Universität tätig (Tel./Fax 2092-6268, elmeyerr@zedat.fu-berlin.de).

(1) Kontakt: Susanne Heindl, Peherstorf 5, A-4150 Rohrbach.

(2) Bernhard Heindl, „Einwärts – Auswärts. Vom Hegen der Erde“, Löwenzahn Verlag, Innsbruck 1997, 238 S., 38 DM (Buchhandel oder order@studienverlag.at)

(3) ebd., S. 15 (siehe auch RABE RALF Februar 2001, S. 4)

(4) ebd., S. 17

(5) ebd., S. 114

(6) ebd., S. 159ff

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