Nicht mit Gewalt, nicht mit Geld

Die Widerstandsgemeinden in Guatemala

Aus DER RABE RALF November 2000

Was kennzeichnet eine subsistent lebende Gemeinschaft? Erika Märke1 nennt drei Punkte: Eigenständigkeit im Sinne von Autonomie, Selbstgenügsamkeit im Sinne eines Nicht-Expansionismus und Aus-sich-selbst-Bestand-Haben im Sinne kultureller Identität. Man könnte ein viertes Merkmal hinzufügen, das sich von selbst ergibt: Subsistent lebende Gemeinschaften sind subversiv, weil sie sich dem herrschenden System entziehen; sie können von den Unterdrückungsmechanismen des (kapitalistischen) Systems nur schwer erreicht werden und sind in der Reaktion auf schwierige Situationen sehr flexibel.

Ein hervorragendes Beispiel dafür finden wir in Guatemala, wo seit fünf Jahrhunderten ein hartnäckiger Kampf gegen die subsistente Lebensweise von Menschen geführt wird. Die Widerstandsgemeinden (Comunidades de Poblacion en Resistencia – CPR) widerstehen seit 16 Jahren in den Bergen und Wäldern Guatemalas Unterdrückung, Ausbeutung, Krieg und Verfolgung. Abgeschnitten von der Außenwelt, entziehen sie sich dem Zugriff des Staates und des Militärs und weigern sich, sich in das System der Lohnarbeit und in die modernen Entwicklungsprogramme zu integrieren. Ihre Waffen im Kampf gegen Militär und Staat sind ihre Organisation und ihre subsistente Lebensform; und bisher konnte sie der Staat weder mit riesigen Offensiven noch mit verlockenden Entwicklungshilfeprojekten von ihrer kompromißlosen Haltung abbringen.

Kurze Geschichte der Unterdrückung der Subsistenz in Guatemala

Um die Entstehungsgeschichte, die Organisationsform und die Perspektiven der Widerstandsgemeinden zu verstehen, muß man auf die Geschichte Guatemalas zurückblicken: eine Geschichte der Ausbeutung und des Widerstandes, die mit der Konquista durch die Spanier im Jahr 1524 beginnt.

Die Region konnte nicht wie andere durch Gold- und Silbervorkommen glänzen, und so erkannten die Spanier schon in den ersten Jahren, daß ver wahre Reichtum dieses Landes in der Arbeitskraft seiner EinwohnerInnen, der Maya, lag. Sie waren und sind die Grundlage des Agroexportmodells, das die Spanier einführten und das bis heute die Wirtschaft Guatemalas bestimmt. Unter Ausnutzung der Arbeitskraft der ansässigen Bevölkerung werden auf riesigen Plantagen tropische Nutzpflanzen in Monokulturen angebaut, die seit jeher ausnahmslos dem Export dienen und an denen sich nur die Großgrundbesitzer und ausländische Unternehmen bereichern.

Die Maya wurden durch dieses Modell auf zwei Arten lebensbedrohend bedrängt. Einerseits besetzten die kolonialen Machthaber das beste Land für die Errichtung von Plantagen und entzogen es so dem Zugriff der Bevölkerung, die sich immer weiter in die unfruchtbareren Bergregionen zurückziehen mußte. Andererseits wurden die Maya mit komplexen, einander ergänzenden Strategien dazu gezwungen, auf den Plantagen der Großgrundbesitzer zu arbeiten.

Die Voraussetzung für die Integration der indigenen Bevölkerung in das Agroexportmodell war die Zerstörung ihrer ursprünglichen Lebensweise, der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft, und ihrer Grundlagen, um sie für die Lohn- und Zwangsarbeit „frei“ zu machen und keine Alternative dazu offen zu lassen.

Dieser konsequente Krieg gegen die Subsistenz der Maya zieht sich durch die Jahrhunderte bis in unsere Tage; es gibt Atempausen, aber kein Zurück. Dabei wurden die Maya, die heute eine Bevölkerungsmehrheit von 70 Prozent stellen, immer so weit in das Agroexportmodell eingebunden, wie die Wirtschaft ihre Arbeitskraft benötigte. Mit Hilfe von juristischen Tricks oder durch einfache Gewaltanwendung nahmen ihnen die Großgrundbesitzer gerade soviel Land weg, daß sie von der Lohnarbeit auf den Plantagen abhängig gemacht wurden, aber sich und ihre Familie außerhalb der Zeit der Plantagenarbeit ernähren konnten. Die Zerstörung ihrer Subsistenzgrundlage durch den Landraub zwang sie dazu, sich in die unterste Stufe des nationalen Agroexportsystems zu integrieren. Wo das nicht ausreichte, halfen Zwangsarbeits- und Landstreichereigesetze nach.

Im 20. Jahrhundert stieg der Bedarf an Arbeitskräften so weit an, daß heute die meisten Dörfer des Hochlandes in den Monaten der Plantagenarbeit leer stehen. Die gesamte Bevölkerung, einschließlich Frauen und Kinder, wird an die Küste gekarrt, um monatelang unter unmenschlichen Bedingungen zu arbeiten. Die Familien werden durch ausgeklügelte Systeme und durch den gezielten Verkauf von Alkohol in Schulden getrieben, die sie ihr Leben lang nicht mehr abarbeiten können. Ihre Felder bleiben zu den wichtigsten Zeiten, der Saat und der Ernte, schlecht betreut, und die exorbitanten Lebenshaltungskosten auf der Plantage tun das übrige, um die Familien genauso arm oder ärmer in ihre Dörfer zurückkehren zu lassen.

Die Maya haben der Unterdrückung durch die Spanier und später durch den unabhängigen Staat immer entschiedenen Widerstand entgegengesetzt – vom militärischen Widerstand, der die vollständige Eroberung des Gebietes des heutigen Guatemala über zwei Jahrhunderte dauern ließ, über Aufstände und legale Proteste bis zum berühmten passiven Widerstand der Maya, der sie ihre Kultur und ihre Sprachen über so viele Jahre der Unterdrückung hinweg retten ließ.

Der wachsende Druck auf das Hochland führte ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer stärkeren Organisation der Maya in Bauernorganisationen und befreiungstheologisch orientierten Basisgruppen und zu Migrationsbewegungen in das noch unbesiedelte Tiefland des Ixcán nahe der mexikanischen Grenze. Diese Tendenzen zur Selbstorganisation konnten von Staat und Militär (was zu jenen Zeiten fast dasselbe war) nicht geduldet werden.

Die Verfolgung der indigenen Bewegungen führte aber nur zur Integration Tausender Maya in die Guerilla. Die Antwort des Staates war ein Vernichtungskrieg gegen die indigene Bevölkerung des Hochlandes: Zwischen 1981 und 1983 wurden über 440 Dörfer vollständig niedergebrannt, 150.000 Menschen starben, und weitere 1,2 Millionen flüchteten in andere Landesteile oder nach Mexiko.

Das Ziel dieser Politik der verbrannten Erde war die physische Auslöschung der an sich subversiven indigenen Bevölkerung und die Integration der Überlebenden in ein rigides, militarisiertes Zwangsarbeitssystem, das jede Tendenz zur Selbstorganisation in Blut ertränkte. In lagerartig gebauten Modelldörfern angesiedelt, zum regelmäßigen Patrouillieren und zu (von der internationalen Lebensmittelhilfe „bezahlter“) Zwangsarbeit gezwungen, in zweisprachigen Schulen zu untertänigen StaatsbürgerInnen erzogen und durch Entwicklungshilfeprojekte in die Marktwirtschaft integriert, sollte die indigene Bevölkerung endgültig gezähmt werden.

Entstehung und Geschichte der Widerstandsdörfer

Doch nicht alle Überlebenden der Massaker der frühen 80er Jahre wurden vom Militär in dieses „Entwicklungsmodell“ integriert. Neben vielen, die nach Mexiko oder in andere Landesteile flohen, zogen sich Tausende von Bauern und Bäuerinnen in das unmittelbare Umland ihrer Gemeinden und später tiefer in die Wälder und Berge zurück. Die meisten waren kaum mit dem Nötigsten ausgerüstet aus den Dörfern geflohen und trotzten im Wald dem Hunger, der Kälte und der Angst vor den Jagdbombern und Hubschraubern, die das Gebiet pausenlos überflogen.

Aus der Selbstverteidigung gegen das Militär entstand mit Hilfe der Guerilla die erste Organisationsstruktur der im Wald zerstreuten Gruppen: Wachmannschaften warnten die Gemeinschaft vor dem Herannahen der Soldaten, um eine rechtzeitige Flucht ins Dickicht zu ermöglichen. (Die Widerstandsdörfer schützen sich bis heute ausschließlich durch Flucht vor den Angriffen des Militärs.)

In dieser scheinbar ausweglosen Situation sammelten sich die verstreuten Gruppen nach und nach zu größeren Gemeinden und besannen sich auf die Organisationsformen ihrer Vorfahren. In basisdemokratischen Versammlungen wählten sie die ersten VertreterInnen, organisierten Gesundheitsbrigaden und Schulunterricht für die Kinder.

Es entstanden drei voneinander unabhängige Widerstandsgebiete, die erst vor einigen Jahren intensiveren Kontakt untereinander aufnehmen konnten und auch unterschiedliche Organisationsstrukturen aufweisen: Die CPR de la Sierra in den Bergen der Sierra de Chamá im Departamento del Quiché, die CPR del Ixcán im tropischen Tiefland im Norden desselben Departamentos, nahe der mexikanischen Grenze, und die CPR del Petén im riesigen Regenwald im Norden des Landes. Alle liegen zumindest einen Tagesmarsch von der nächsten Straße entfernt.

Die äußeren Umstände machen es schwer zu glauben, daß die Widerstandsgemeinden bis heute so zahlreich überleben konnten: Bis 1993 richtete die guatemaltekische Armee jährlich Großoffensiven gegen die Widerstandsdörfer. Auch der vom Militär in die Wege geleitete Übergang zur „Demokratie“ 1986 änderte an dieser Situation nur wenig; eine der blutigsten Offensiven, die ein ganzes Widerstandsgebiet der Sierra auflöste, fand 1987 statt.

Keine Familie in den Widerstandsdörfern, die nicht zumindest ein Opfer zu beklagen hat, keiner, der nicht von der unbeschreiblichen Brutalität der Soldaten zu berichten weiß. Konnten sie der Menschen nicht habhaft werden, zerstörten die Soldaten und Zivilpatrouillen mit besonderer Sorgfalt die Subsistenzgrundlagen der geflohenen Bevölkerung. Alle Feldpflanzen wurden niedergeschnitten, das in den Bergen spärliche Wasser vergiftet, die Tiere getötet und verbrannt.

Das Leben der Bevölkerung war dementsprechend karg. Sie ernährte sich hauptsächlich von Knollenpflanzen, die vom Militär nicht entdeckt werden konnten, und wilden Kräutern; die Herstellung von Kleidern etwa war in der ständigen Fluchtsituation nicht möglich.

Die offizielle Begründung für dieses Unternehmen, ein hochtechnisiertes Heer mit Jagdbombern, Hubschraubern, Nachtsichtgeräten und Entlaubungsgift gegen eine unbewaffnete Zivilbevölkerung einzusetzen, war die Behauptung, die Widerstandsdörfer seien der politische Arm der in dieser Gegend operierenden Guerilla-Armee EGP (oder mit dieser identisch). Wenn die Beziehungen zwischen der Guerilla und den Widerstandsdörfern auch sehr komplex sind, ist diese Behauptung unhaltbar, und das wußte auch das Militärkommando.

Der hartnäckige Ausrottungskrieg war wohl mehr ein Krieg gegen die Subsistenz als ein Krieg gegen die Guerilla: Die Menschen in den Widerstandsdörfern verhielten sich allein durch die Tatsache, daß sie sich nicht in das vom Militär dem Hochland aufgezwungene Modell integrieren wollten, subversiv und staatsfeindlich und mußten bekämpft werden – in einem Land, das auf Agroexport und Ausbeutung der Arbeitskraft der indigenen Bevölkerung setzt, eine systemimmanente Logik.

Seit der relativen Entspannung der militärischen Situation in den 90er Jahren ist die Bedrohung durch das Militär schrittweise zurückgegangen. Nach einer öffentlichen Erklärung der Widerstandsdörfer über ihre Existenz und ihren Status als Zivilbevölkerung 1990 besuchte zunächst eine nationale Kommission und dann ein Beobachter der Vereinten Nationen die Widerstandsdörfer und forderte das Militär zur Einstellung der Angriffe auf. Noch wenige Wochen vor dem Besuch des UNO-Beauftragten startete das Militär die letzte Großoffensive gegen die Widerstandsdörfer mit dem Ziel, sie endgültig zu vernichten und ihre langjährige Behauptung zu bestätigen, in den Bergen gebe es keine Zivilbevölkerung. Trotz einer hohen Zahl von Opfern gelang es nicht, die Widerstandsgemeinden zum Verschwinden zu bringen.

Seit diesem Jahr leben durchgehend internationale BegleiterInnen in den Widerstandsdörfern, was die Angriffe stark einschränkte (der letzte dokumentierte Angriff fand allerdings noch 1996, im Jahr der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen Guerilla, Regierung und Militär statt).

1994 machten die Widerstandsdörfer einen weiteren wichtigen Schritt: Am 2. Februar gaben die CPR del Ixcán ihr Nomadenleben auf und ließen sich in festen Dörfern nieder; im gleichen Jahr eröffneten die CPR de la Sierra und die CPR del Ixcán ein gemeinsames Büro in der Hauptstadt und begannen, sich in die politischen Prozesse im Land einzubringen. Ein Resultat dieser Arbeit ist das Mitwirken bei der Ausarbeitung von Vorschlägen der „Zivilgesellschaft“ für die Friedensabkommen, die am 29.12.1996 unterzeichnet wurden und mit denen in Guatemala eine neue Ära beginnen soll.

Die wichtigsten Verträge für die Widerstandsdörfer sind das „Abkommen über die Wiederansiedlung der durch den bewaffneten Konflikt entwurzelten Bevölkerung“ und das „Abkommen über Identität und Rechte der indigenen Bevölkerung“. Diese Abkommen greifen zwar bei weitem nicht alle Forderungen der Widerstandsdörfer auf, sie sind aber doch ein Instrument im Kampf um mehr Autonomie – auch wenn im ersten Jahr nach der Vertragsunterzeichnung noch kaum ein Punkt zur Gänze erfüllt wurde.

Subsistenz und Widerstand

Die Widerstandsgemeinden leben eigenmächtig. Alle Aspekte des Lebens – politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle – sind subsistenzorientiert. Der Alltag ist gemeinschaftlich, basisdemokratisch und partizipativ organisiert.

Die Grundlage dieser Lebensweise ist die stark verwurzelte Identität der BewohnerInnen als Maya: Die Regeln des Zusammenlebens und der Umgang mit der Natur gehen nach Aussagen der Mitglieder auf die Traditionen ihrer Vorfahren zurück, die auch nach 500 Jahren erstaunlich lebendig sind.2 Dabei zerfließen besonders in den CPR del Ixcán, in denen Angehörige aller 21 in Guatemala vertretenen Mayasprachen leben, die Grenzen zwischen den einzelnen Gruppen; die gemeinsamen Wurzeln, die gemeinsame Kultur und Lebensweise sind wesentlich stärker als die Unterschiede in den Sprachen.

Lebensgrundlage der Widerstandsdörfer ist das Land. Die BewohnerInnen der Widerstandsgemeinden sind ausnahmslos Bauern und Bäuerinnen, deren Wirtschaftsweise auf die Erhaltung der Gemeinschaft ausgerichtet ist und nicht auf die Anhäufung von Reichtum und Macht.

Diese Lebensweise beruht auf Gegenseitigkeit. In den CPR del Ixcán im Tiefland, deren BewohnerInnen schon seit den 60er Jahren in den Kooperativen Erfahrung mit gemeinsamem Wirtschaften sammelten, werden alle Arbeiten kollektiv auf Gemeinschaftsfeldern verrichtet, und die Arbeit in der Produktion ist auch die am höchsten geschätzte Tätigkeit. LehrerInnen, VertreterInnen und andere, die nicht direkt am Feld oder im Gemüsegarten mitarbeiten können, werden von der Gemeinschaft mitgetragen, ohne daß sie dadurch in eine „höhere“ Stellung aufsteigen.

In den CPR de la Sierra ist man nach den schwierigen 80er Jahren heute wieder zum traditionellen Anbau in Familien zurückgegangen. Daneben werden Gemeinschaftsfelder zur Unterstützung aller außerhalb der Landwirtschaft Beschäftigten bebaut; auch alle Arbeiten an der Infrastruktur (Wege, Schulen, Versammlungsräume o. ä.) werden kollektiv verrichtet. Sehr viele der Dinge, die man zum Leben braucht, werden in den Gemeinden selbst hergestellt.

Die Situation hat sich seit dem Rückgang der militärischen Angriffe, die immer mit der Zerstörung der lebensnotwendigen Dinge sowie der Nutzpflanzen verbunden waren, erheblich gebessert. So wachsen inzwischen die Obstbäume langsam nach, Kleinvieh wird wieder vermehrt gehalten, und die Frauen nutzen die friedliche Zeit für das Weben ihrer Trachten. Das wirtschaftliche Leben blüht auf: In vielen Gemeinden stehen Brotöfen, in denen das Festtagsgebäck hergestellt wird, Zuckerrohr wird in großen Pressen (in Gemeinschaftsbesitz) entsaftet und zu Rohzucker verarbeitet. Aus Schweinefett, Asche und Kalk wird im traditionellen Verfahren Seife hergestellt und auf dem Markt verkauft. In den CPR del Ixcán bebauen die Frauen schon seit 1992 gemeinschaftliche Gemüsegärten, die Frauen der CPR de la Sierra weben und besticken Stoffe, die sie über das Büro der Hauptstadt verkaufen. Vom ersten Erlös haben sie sich eine Kuh gekauft, die jeden Tag von einer anderen Frau (bzw. von deren Kindern) gehütet wird.

Märkte sind ein wichtiger Bestandteil der Subsistenzwirtschaft und werden seit dem Rückgang der militärischen Angriffe etwa 1993 einmal wöchentlich abgehalten: Der Austausch von Gütern auf regionaler Ebene ist lebenswichtig und muß keinesfalls zu Akkumulation führen. Auf dem Marktplatz, der als „leeres Zentrum“ nicht direkt in einer Gemeinde liegt, werden Grundnahrungsmittel wie Bohnen, Kleinvieh, Eier, Nüsse und Obst getauscht. Von den HändlerInnen, die aus den umliegenden Dörfern zum Markt kommen, kauft man unverzichtbare Güter wie Nadel und Faden, Wolle für das Weben der Trachten, Hefte und Bleistifte oder Werkzeug. Neben dem Naturalientausch wird auch Geld als Tauschmittel verwendet, das vor allem mit dem Verkauf von Kleinvieh (Schweinen oder Hühnern) auf den umliegenden Märkten in geringen Mengen erworben wird.

Der Markt dient nicht nur dem Handel, sondern ist auch ein wichtiger Begegnungsort. So nützen die „animadores“ der CPR de la Sierra den Markttag, um über ein Megaphon Lieder und die neuesten Nachrichten zu verbreiten, die über die Woche im Radio gehört (und uminterpretiert) oder aus den Gemeinden erfahren werden konnten. Selbstverständlich werden die Nachrichten in den jeweiligen Mayasprachen verlesen.

Häufig wird eingewendet, daß den Maya der Widerstandsdörfer gar nichts anderes übrigbleibe, als Subsistenzwirtschaft zu betreiben. Es gibt ja keinen Reichtum, den man akkumulieren könnte, die Familien haben gerade genug für das tägliche Überleben. Den Gegenbeweis liefern die regelmäßig zu gewissen heiligen Tagen des Mayakalenders abgehaltenen „costumbres“. Das sind etwa zu Ernte, Aussaat oder auch an Gedenktagen stattfindende Feste, bei denen die im Laufe der Zeit entstandenen Überschüsse kollektiv „verfeiert“ werden. Es ist angesichts der tatsächlichen Knappheit an Lebensmitteln in den Widerstandsdörfern erstaunlich, wieviel Essen und Schnaps aufgegessen und getrunken wird und wieviel Harz und Kerzen für die stundenlangen religiösen Zeremonien zur Verfügung stehen. Jede/r bringt zu dem Fest, was er oder sie entbehren kann, die Überschüsse gehören nicht der einzelnen Familie, sondern dienen dem Gemeinwohl. Nach dem Fest haben alle wieder gleich viel, und die GastgeberInnen und Spenderlnnen sind sich der Hochachtung der Gemeinschaft sicher.

Subsistenzwirtschaft taucht in keiner Statistik, in keinem Bruttonationalprodukt auf; aus Subsistenzwirtschaft können keine Steuern kassiert und keine Auslandsschulden getilgt werden. Subsistenz ist auch die Verweigerung der Maya gegenüber einem System, das sie nur als unterste Stufe der Produktionskette mißbraucht, und zugleich die Aufrechterhaltung der Wirtschaftsweise der Vorfahren, die die starke Bindung der Maya an das Land zur Grundlage hat: Die Kosmovision der Maya, die alle Elemente des Universums (natürlich einschließlich des Menschen) korrelierend darstellt, würde gar keine andere Wirtschaftsweise zulassen.

Wie mir einmal ein Mayapriester nach der Heilung der mysteriösen Krankheit einer Bewohnerin der Widerstandsdörfer erklärte: Jede/r darf nur soviel nehmen, wie er/sie zum Überleben braucht, sonst zerstört er/sie das Gleichgewicht und stürzt sich selbst ins Unglück. Wer mehr Wald rodet, als zur Erhaltung seiner oder ihrer Familie nötig ist, wird krank; wer den Fluß mit unnötig viel Seife verschmutzt, weil er oder sie gegen Geld fremde Wäsche wäscht, wird krank. Nur die subsistente Lebensweise, die keine Akkumulation von Gütern in wenigen Händen zuläßt, garantiert das universelle Gleichgewicht und somit das Überleben der Menschen.

Ein zentraler Faktor für das Selbstbewußtsein der Widerstandsdörfer liegt in ihrer subsistenten Wirtschaft. Die Mitglieder der Widerstandsgemeinden weigern sich strikt, als SaisonarbeiterInnen an die Küste auf die Plantagen arbeiten zu gehen.

Diese Loslösung aus dem nationalen, auf Agroexport ausgerichteten Wirtschaftsmodell sehen sie als einen ihrer größten Erfolge an: Die Widerstandsgemeinden wissen, daß sie ohne Hilfe von außen überleben können und daß die den Bauern und Bäuerinnen des guatemaltekischen Hochlandes vorgespiegelte Notwendigkeit von Lohnarbeit nur ein Schachzug der Plantagenbesitzer ist. Sie haben bewiesen, daß ein Leben jenseits der Lohnarbeit und der Abhängigkeit auch unter widrigsten Umständen möglich ist, und diese Autarkie verleiht ihnen eine beeindruckende Stärke.

Die Widerstandsdörfer sind außerdem die einzige mir bekannte Organisation, die sehr vorsichtig mit Entwicklungshilfe umgeht und Projekte unter fremder Leitung, wie dies allgemein üblich ist, nicht annimrnt. In den Gemeinden aus Mexiko zurückgekehrter guatemaltekischer Flüchtlinge konnte ich beobachten, wie Entwicklungshilfeprojekte die Wirtschaft und den Zusammenhalt der Gemeinden in wenigen Monaten zerstören können. Die Widerstandsdörfer hingegen haben schon im Krieg gelernt, daß Entwicklung zu Abhängigkeit führt, als das Militär versuchte, sie mit Geld und Entwicklung in die Umerziehungslager und Modelldörfer zu locken.

Die alltäglichen Herausforderungen des Lebens in den Widerstandsdörfern werden von den sogenannten „Strukturen“ gemeistert. Das sind Organisationsstrukturen, die sich mit den verschiedensten Bereichen beschäftigten: Die Schulbildung etwa wird von der „Bildungsstruktur“ übernommen. Alle Kinder gehen sechs Jahre in die Schule. Auch Erwachsenen, besonders Frauen, werden Alphabetisierungs- und Fortbildungskurse angeboten. Wissen ist Allgemeingut, und jede/r, der oder die etwas kann, gibt sein/ihr Wissen als LehrerIn weiter und erhält eine kleine Unterstützung in Form von Mais und Bohnen.

Der Lehrplan ist auf der Kultur der Maya aufgebaut, Spanisch wird als Fremdsprache ab der 2. Klasse unterrichtet. Schulmaterialien von außen werden auch geschenkt nicht angenommen, da sie den Vorstellungen der Maya nicht gerecht werden. Schulferien sind in der Ernte- und in der Saatzeit, wenn Lehrerlnnen und Kinder auf den Feldern arbeiten. Die Analphabetenrate, die am guatemaltekischen Land bei 90 Prozent liegt, konnte in den CPR del Ixcán so ohne Hilfe von außen auf 20 Prozent gesenkt werden.

Auch das Gesundheitssystem greift stark auf die Tradition der Maya zurück. Schon in den ersten Jahren des Widerstandes, als nicht einmal Seife zum Waschen der Wunden vorhanden war, wurde das alte Wissen um die Heilpflanzen wiederentdeckt; neu dazugekommen sind auch Methoden wie Akupunktur. Die Brigadistlnnen sind vor allem für die Heilung von Wunden, leichten Krankheiten und Zähnen zuständig. Daneben nehmen die Hebammen und die MayapriesterInnen einen sehr wichtigen Stellenwert in der Erhaltung der Gesundheit ein.

Die „Animationsstruktur“ kümmert sich um die Verbreitung von lokalen und nationalen Nachrichten und ist für Musik, Theater und Unterhaltung zuständig. Daneben gibt es unter anderem noch Frauenorganisationen, Jugendorganisation sowie katholische, evangelische und Maya-Religionsgruppen mit ihren jeweiligen PriesterInnen.

Das politische System

Wer trifft nun die Entscheidungen, die alle Mitglieder der Widerstandsdörfer betreffen? Nehmen wir als Beispiel die CPR de la Sierra: Jede der über 40 Gemeinden wählt ein Lokalkomitee, das regelmäßige Versammlungen organisiert und die Angelegenheiten des jeweiligen Dorfes verwaltet. Die Dörfer sind in drei geographisch gut zu überblickende Gebiete zusammengefaßt, die von einem von allen gewählten Regionalkomitee verwaltet werden.

Die höchste Autorität der Widerstandsgemeinden ist die Generalversammlung. Sie wird einmal pro Jahr oder bei besonderen Problemen, die eine sofortige gemeinschaftliche Entscheidung erfordern, abgehalten. Zur Generalversammlung erscheinen gewählte VertreterInnen jedes Dorfes: Ein alter Mann und eine alte Frau, eine Frau und ein Mann mittleren Alters und ein junger Mann und eine junge Frau, dazu VertreterInnen der verschiedenen „Strukturen“ wie Schule, Gesundheitsbrigaden oder Frauenorganisationen. Insgesamt nehmen etwa 400 bis 500 stimmberechtigte Personen teil, Besucherlnnen von außen haben nur Anhörungsrecht. Die Versammlung wird über die Lokalkomitees durch eine Volksbefragung vorbereitet, in der jede/r einzelne seine Meinung zu den anstehenden Problemen äußert. Die ausgewertete Meinung der Bevölkerung ist die Grundlage für alle Entscheidungen.

Entscheidungen werden, wenn möglich, im Konsens gefällt. Das bedeutet, daß alle Fragen im Plenum und in verschiedensprachigen, kleineren Arbeitsgruppen so lange diskutiert werden, bis eine Lösung gefunden ist und alle damit einverstanden sind; die Versammlungen dauern daher oft mehrere Tage lang. Anders als in einer repräsentativen Demokratie, die nach Mehrheitsprinzipien arbeitet, hat jede/r einzelne Gewicht. Trotzdem ist es möglich, gemeinsame Entscheidungen zu fällen, weil die TeilnehmerInnen nicht den eigenen Vorteil, sondern den der Gemeinschaft suchen: Das Ziel ist allen gemeinsam, über den Weg kann man sich einigen.

Im Falle von Vergehen gegen die Gemeinschaft gibt es keine Strafen, manchmal aber muß eine spezielle Arbeit am Gemeingut verrichtet werden. Kann ein Konflikt nicht durch Gespräche gelöst werden, entscheidet der Ältestenrat.

Die Generalversammlung wählt ein sieben- (Ixcán) bzw. fünfzehnköpfiges (Sierra) Gremium, das die Angelegenheiten der Widerstandsgemeinden während des Jahres vertritt und an die Entscheidungen der Versammlung gebunden ist. Diese VertreterInnen werden aus der Gemeinschaftsarbeit mit Nahrungsmitteln unterstützt und arbeiten in verschiedenen Gebieten (an der Landproblematik, in der Projektkommission, in der politischen Arbeit in der Hauptstadt oder auch als VertreterInnen der vertriebenen Bevölkerung in Kommissionen zur Umsetzung der Friedensverträge). Sie bilden keineswegs die Spitze einer Hierarchie und betonen immer wieder, daß jeder und jede andere diese Aufgaben genausogut übernehmen könnte wie sie; sie dienen einer Gesellschaft, in der die bäuerliche Feldarbeit den höchsten Stellenwert hat.

Von ihrem Büro in der Hauptstadt aus pflegen die Widerstandsgemeinden rege Beziehungen zu anderen Organisationen der Volksbewegung, mit denen sie 1995 auch eine gemeinsame Partei der Volksbewegung gegründet haben: Die Demokratische Front Neues Guatemala konnte sechs Abgeordnete, darunter zwei Maya-Frauen, in den Kongreß entsenden.

Die Widerstandsgemeinden sind ein nicht expansionistisches System, das mit keinen Mitteln versucht, die eigenen Methoden anderen aufzuzwingen oder gar die Macht im Staat anzustreben, wie es der ihnen nahestehende Teil der Guerilla in den 80er Jahren noch tat. Sie kämpfen nicht um Macht über andere, sondern um einen Freiraum, der ihnen Organisationsfreiheit, freie Wahl des politischen und wirtschaftlichen Systems und Respekt vor ihrer Lebensweise garantiert. Die Integration in eine Partei ist wie die internationale Anklage von Menschenrechtsverletzungen oder die Verhandlungen um eigenes Land nur ein Mittel unter vielen in diesem Kampf um Autonomie.

Die Widerstandsgemeinden in Guatemala gehören zu den subsistenten Gemeinschaften, die Hoffnung geben und andere zum Widerstand gegen Globalisierung und neoliberale Wirtschaftspolitik anregen. Wer dank seiner kollektiven Organisationsstruktur und subsistenter Lebensweise 15 Jahre lang einem gezielten Vemichtungskrieg widerstanden hat, der kann sich auch dem Druck der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds entziehen und am Rande einer globalen Entwicklung ein eigenes, fruchtbares und reiches Gemeinschaftsleben führen.

Corinna Milborn

1 Erika Märke: Ein Weg aus der Abhängigkeit? Die ungewisse Zukunft des informellen Sektors in Entwicklungsländern, Stuttgart 1986.

2 Vgl. den Beitrag von Carlos Lenkersdorf in diesem Band.

Corinna Milborn (28) ist Historikerin und Politologin und arbeitet für den WWF Österreich. 1995/96 verbrachte sie vier Monate als „internationale Begleiterin“ in den Widerstandsdörfern Guatemalas.

Text leicht gekürzt aus: C. Milborn, Subsistenz gegen Ausbeutung – Widerstandsgemeinden in Guatemala. In: Veronika Bennholdt-Thomsen u.a. (Hrsg.), Das Subsistenzhandbuch – Widerstandskulturen in Europa, Asien und Lateinamerika, Promedia Verlag, Wien 1999. Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung.


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