Widerstehen ohne zu hassen

Von Gandhis Satyagraha-Konzept zur gewaltfreien Aktion gegen Umweltzerstörung und Militarisierung

Natürlich sind unsere Angst und unsere Sorgen um die Welt berechtigt. Da ist zum einen die fortschreitende Zerstörung der Natur und damit unserer lebenserhaltenden Systeme. Zum anderen das ständig wachsende Elend bei mehr als der Hälfte der Erdbevölkerung, das uns als “Überbevölkerung” verkauft wird und in Wirklichkeit ein Verteilungsproblem ist. Und dann die fast unvorstellbare Bedrohung, die von den Waffenarsenalen auf der ganzen Welt herrührt, insbesondere den atomaren. Diese Gefahren sind Realität, und unsere Gefühle – Zorn und Angst – sind berechtigt. Wie die Schmerzsignale bei jedem kränkelnden Organismus dienen auch sie einen positiven Zweck: sie warnen uns und sie lösen eine Reaktion, eine Handlung aus. Sie sind der Leidensdruck, der stark genug sein muß, um eine Veränderung hervorzurufen.

Verzweiflung annehmen

Viele Menschen – auch wir selber – haben umfangreiche Verhaltensweisen gelernt, um diesem Leiden zu entgehen. Unsere Kultur hat uns gelehrt, daß es eine Trennung gibt zwischen unserem Verstand und unseren Gefühlen. Die Realität kann demnach nur durch unseren Verstand und Intellekt erfaßt werden. Unsere Gefühle seien irrational und subjektiv und deshalb nicht vertrauenswürdig. Inzwischen ist bekannt, das unser Realitätsverständnis von unserer allgemeinen Wahrnehmungsfähigkeit abhängt. Je mehr wir mit einbeziehen, desto vollständiger wird das Gesamtbild. Wenn wir unser Leiden über den Zustand der Welt unterdrücken, geht uns ein Teil der Realität verloren. Wir glauben Beispielsweise neuen Horrormeldungen nicht oder wir führen eine Art Doppelleben. Einerseits leben wir unsre Tage, als sei alles in Ordnung, andererseits herrscht in uns die ganze Zeit dieses vage Wissen vor, daß unsere Welt jederzeit untergehen könnte. Bis wir die Möglichkeit finden, dieses gequälte Bewußtsein zu erkennen und zu integrieren, unterdrücken wir es, und dieser Unterdrückungsmechanismus beraubt uns der Energie, die wir zum Handeln und klaren Denken brauchen.

Der Umgang mit diesen Gefühlen ist vergleichbar mit der Trauerarbeit, bei dem der Verlust einer geliebten Person angenommen wird, um erstarrte Energien wieder freizusetzen. Es hat mit der Bereitschaft zu tun, Schmerz anzunehmen und zu erleiden. In Gandhis gewaltfreiem Widerstand spielt die Leidens- oder Mitleidensfähigkeit eine wichtige Rolle. Sie wurde von ihm als Mittel eingesetzt, um die Gegner von ihrem Unrecht zu überzeugen. Auf der anderen Seite hilft uns diese Fähigkeit, uns als Teil der Natur oder Teil der Menschheit zu fühlen, was uns Hoffnung, Sinn und innere Stärke geben kann.

Als Gruppe ist es wichtig, über die eigenen Gefühle zu sprechen, über Ängste, Zweifel und Hoffnungen. Sinnvoll sind auch gemeinsame nichtintellektuelle Erfahrungen, wie Singen, Tanzen oder Körperarbeit wie Yoga oder Tai Chi. Die Auseinandersetzung mit Gefühlen gibt einer Gruppe den emotionalen Halt, den sie braucht, um zu überleben.

Wir müssen durch das Feuer

Sieh dich an. Bist du ein guter Mensch? Vielleicht hältst du dich für einen guten Menschen. Der andere, der Feind, ist schlecht. Du bekämpfst ihn.

Das ist das Grundmuster aller Kriege. Und alle haben dieselbe persönlich Ursache: Du fühlst dich mit dir selbst nicht wohl. Und dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder du erleidest dieses Unwohlsein, oder du projizierst es auf jemand anders. Wenn du innerlich angespannt bist, bist du bereit zu kämpfen. Jeder Vorwand genügt.

Es ist wichtig zu verstehen, daß wir bei all unser Empörung gegen den Krieg dessen Ursache mit in uns tragen. Wir sind nicht besser als andere.

Das bedeutet nicht, das wir den Kopf in den Sand stecken sollen. Gandhi hat mit seinem gewaltfreien Widerstand die Kolonialherrschaft in Indien beendet, aber die Gewalt konnte er nicht besiegen. Nach der Unabhängigkeit Indiens entlud sie sich in einem blutigen Konflikt zwischen Hindus und Moslems, der bis in die heutige Zeit andauert. Trotzdem war Gandhis Kampf ein Meilenstein für den menschlichen Fortschritt.

Was wir heute tun müssen ist zweierlei. Wir müssen den Krieg in uns selber beginnen, um die Voraussetzungen zu schaffen, daß er irgendwann außerhalb von uns aufhören kann. Und wir müssen die politischen Auseinandersetzungen auf eine Art und Weise führen, daß weder wir noch andere in unsere Muster zurückfallen. Wir kämpfen mit anderen, weil wir ständig Müll in uns anhäufen, den wir hinauswerfen müssen. Diesem Müll müssen wir uns stellen, wir müssen ihn in uns verbrennen und dadurch Schritt für Schritt die Müllproduktion beenden. Aber das ist ein langer Prozeß, man braucht Mut, zu warten, man darf sich nicht von der Abkürzung verlocken lassen. Und im Leben gibt es keine Abkürzungen – nur Illusionen sind Abkürzungen. Das Leben ist hart, weil dir Wachstum nur durch harten Kampf zuteil wird – es kommt nie konfliktlos. Denn nur Leiden hilft – die Anstrengung selbst, der Kampf selbst, der lange Weg, sie geben dir scharfe Konturen, Wachstum, Erfahrung, Reife. Wir müssen durch das Feuer.

Vom Zeugen zum Handelnden

Durch deinen inneren Konflikt integrierst du dich allmählich. Das ist eine Technik. Wenn ein innerer Konflikt da ist, bildet sich jenseits der entzweiten Parteien ein neuer Schwerpunkt des Zeuge-Seins heraus. Wenn ein innerer Konflikt da ist, dann beansprucht er alle Energien, dein ganzes Wesen ist in Aufruhr. Ein Chaos entsteht, und aus diesem Chaos wird ein neues Wesen geboren. Das ist der innere Krieg, der geführt werden muß, um den äußeren Krieg zu beenden.

Die äußeren politischen Auseinandersetzungen werden dadurch in ein anderes Licht gerückt. Wir identifizieren uns dann nicht mehr mit den Konflikten, und wir projizieren auch keine Aggressionen mehr auf andere. Unsere Handlungen sind nicht mehr triebhaft, sondern wohlüberlegt und liegen freien Entscheidungen zugrunde. Wir sind zu Zeugen der Zerstörung geworden, und nur aus dieser Positionen haben wir auch die Kapazität, die Ursachen und Wirkungen der Zerstörung zu durchschauen. Wenn wir jetzt in Aktion treten, dann wissen wir, was wir wirklich bewirken. Wir reagieren nicht mehr, sondern handeln bereits im Vorfeld und an den Wurzeln der Probleme.

Gandhis “Satyagraha”

Für seinen gewaltfreien Widerstand, Satyagraha (wörtlich: “Gütekraft”), hat Gandhi einige Regeln aufgestellt, von denen wir eine Auswahl dokumentieren:

  • Tue keinem lebenden Wesen Gewalt an.
  • Lerne, keinen Haß zu empfinden, sondern Liebe.
  • Identifiziere dich mit denen, für die du kämpfst, hebe nicht ab.
  • Behandle deinen Gegner so, wie du auch von ihm behandelt werden willst.
  • Begegne deinem Gegner persönlich und offen.
  • Beurteile deinen Gegner mit Rücksicht auf die Umstände, und stelle dich selber nicht über ihn.
  • Provoziere keine Panikreaktion, sondern versuche behutsam seinen Sinn zu wandeln.
  • Versuche deinen Kampf so auszurichten, daß der Gegner ihn als ein Kampf gegen die Sache und nicht gegen seine Person auffassen kann.
  • Nutze eine schwierige Lage des Gegners nicht aus, wenn diese nichts mit eurem Konflikt zu tun hat. Lasse ihn spüren, daß der Druck, der von euch ausgeht, nur eine Folge des Unrechts ist, das er ausübt.
  • Weite den Konflikt nicht aus, sondern versuche ihn so konkret wie möglich zu belassen.
  • Wähle Mittel, die dem Ziel und der konkreten Situation entsprechen.
  • Feilsche nicht um verschiedene Ziele und Dinge, sondern konzentriere dich auf ein Ziel der Aktion.
  • Sei nicht abhängig von Hilfe von außen.
  • Sei bereit, all deine Kräfte und falls nötig auch dein Leben in die Sache, an die du glaubst, einzubringen – allerdings um der Sache und deiner Mitmenschen willen, nicht um des Opfers willen.
  • Sage und schreibe immer nur die Wahrheit. Versuche nicht, Menschen durch Unwahrheit zu manipulieren.
  • Der Gegner soll deine Worte und Taten als Ausdruck eines Wunsches nach Zusammenarbeit empfinden und nicht als Kampf auf längere Sicht.
  • Versuche deinen Gegner zu verstehen.
  • Verberge deine Pläne vor dem Gegner nicht.
  • Gestehe deine Fehler ein.
  • Entziehe dem Übeltäter das Handlungsobjekt, indem du ihm die Zusammenarbeit verweigerst (soziale Verteidigung).
  • Mache keine Sabotage, sondern verweigere die Zusammenarbeit.
  • Falls du zu feige bist, um gewaltfrei Widerstand zu leisten, wähle lieber gewaltsames Verhalten, als daß du gar nichts tust.

Direkte Aktionen

Als “direkte Aktionen” werden Besetzungen und Störaktionen bezeichnet, die sich gegen die Verfahrensweisen und Regeln der verantwortlichen Autoritäten richten. Direkte Aktion heißt, die Initiative zu haben, für dich selbst zu entscheiden, was richtig ist und wogegen du dich widersetzen mußt, anstatt Anordnungen und Gesetzen einfach zu gehorchen. Es bedeutet, für die Kontrolle eures eigenen Lebens zu kämpfen und zu versuchen, direkt auf die Welt einzuwirken, die euch umgibt und die Verantwortung für eure Handlungen zu übernehmen. Zum Thema “direkte Aktion” gibt es auch eine umfangreiche Broschüre mit vielen Aktionstips.

Anfangs kann es sinnvoll sein, sich großen Aktionen, wie z.B. gegen einen Castor-Transport, anzuschließen, weil die Infrastruktur (z.B. der Ermittlungsausschuß, der sich um Verhaftete kümmert) einen relativ geschützten Rahmen bietet. Hier kann also Widerstand “erprobt” werden. Wer je in Demonstrationen oder politische Aktionen verwickelt war, kennt den Moment, wo sich die allgemeine Aktion aus deiner persönlichen Verantwortung löst und dich “mitreißt”: du läßt dich von dem emotionalen Zug mitziehen, eine Woge schwappt über dir zusammen. Genau das Gegenteil passiert, wenn im Vorfeld großer Aktionen gewaltfreie Aktionstrainings angeboten werden, auf denen der Umgang mit der Polizei und gegnerischen Provokateuren eingeübt werden kann. Informationen zu gewaltfreien Aktionstrainings gibt es z.B. bei der “Kurve” Wustrow.

Es ist auch sinnvoll, sich vor Aktionen über die Rechtssituation zu informieren, um sich gegen Schikanen der Gegenseite effektiv schützen zu können. Meist können wir nicht davon ausgehen, Recht zu bekommen. Langfristige Konflikte mit der Staatsmacht sind rein rechtlich nicht zu lösen, wenn diese das Recht definiert – und auch ändert, falls es nötig sein sollte. Trotzdem kann es sinnvoll sein, den Gegner auf den Boden des von ihm geschaffenen Rechtsstaats zurückzuholen. Aber dazu müssen die Gesetze bekannt sein. Einen guten Überblick bietet die Rechtshilfebroschüre des Ermittlungsausschusses Gorleben. Ausführlich informiert das Buch “Erste Rechts-Hilfe” von Rolf Gössner.

Mika Latuschek

Aus: “Mikas und Credos Informationen”, c/o A-Laden, Rathenower Str. 22, 10559 Berlin, Tel. 3946167


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