Das Ende des Sozialismus auf dem Lande

Aus DER RABE RALF Dezember 2001/Januar 2002

Die Globalisierung und der Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus”

Es ist unmöglich, die aktuellen Entwicklungen in Osteuropa hin zu einer verstärkten Selbstversorgung ohne die globalen Veränderungen der letzten Jahrzehnte zu verstehen. „Experten” haben festgestellt, daß das Ende des sozialistischen Zeitalters in Osteuropa mit einer Wirtschaftskrise im Westen zusammenfiel, so daß der Verlust östlicher Märkte nicht durch westliche ersetzt werden konnte. Aber das war kein zufälliges Zusammenfallen. Der Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus ist genauso Teil der langfristigen Strukturanpassung an den Ölschock der 1970er Jahre und an den Wechsel des „technisch-ökonomischen Paradigmas”, den die Einführung des Mikrochips verursachte, wie die Unfähigkeit des Westens, die beständigen und bemerkenswerten Wachstumsraten des Nachkriegsbooms aufrechtzuerhalten.1 Der Sozialismus brach zusammen, weil seine Volkswirtschaften auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig waren, auf dem die industrielle Produktion entweder automatisiert oder in „Dritte-Welt”-Länder verlagert wurde. Da die osteuropäischen Planwirtschaften die realen Produktionskosten ignorierten, gelang es den Ländern nicht, der technologischen Herausforderung des „Post-Fordismus” und der „flexiblen Spezialisierung” zu begegnen. Gleichzeitig machte das sozialistische Bekenntnis zum „Wohlstand für alle“ sie wenig wettbewerbsfähig gegenüber Ländern, in denen die Arbeitskosten gering und die soziale Absicherung minimal waren.

Diese mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der sozialistischen Volkswirtschaften gegenüber dem späten Kapitalismus erklärt nicht nur den Zusammenbruch des „realexistierenden Sozialismus”, sie prägt auch die Entwicklung danach. Ausländische Direktinvestitionen sind geringer geblieben als erhofft, weil es kaum etwas gibt, in das es sich zu investieren lohnte (außer in industrielle Neugründungen auf der grünen Wiese am Rande der Europäischen Union, wie etwa in Westungarn). Den Regierungen gelang es nicht, ihre Haushaltsdefizite so weit zu senken wie westliche Berater es forderten, weil die Mittelschichten Einschnitte in ihre Wohlstandsniveaus nicht akzeptierten. Folge sind die hohen Arbeitslosenquoten, die den plötzlichen Systemwechsel begleiten.

Die Zerstörung der „Säulen des sozialistischen ländlichen Raumes”

In der ländlichen Ökonomie geht es nicht nur um einen Anstieg der Arbeitslosigkeit generell, sondern um einen Zusammenbruch der „drei Säulen des sozialistischen ländlichen Raumes”:

  • des Kollektivbetriebs (der LPG) als landwirtschaftlichem Arbeitgeber,
  • des Kollektivbetriebs als industriellem Arbeitgeber
  • des Berufspendlertums, das aufgrund gestiegener Fahrkosten verschwand, nachdem die Subventionen gestrichen wurden.2

Infolgedessen sanken nicht nur die Beschäftigungsmöglichkeiten in den Dörfern, es stieg auch die Zahl der Menschen, die vom Dorf abhängig wurden. Doch die Dörfer haben neben der Landwirtschaft wenig anzubieten. Großkommerzielle Agrarbetriebe können nicht die früher übliche Zahl von Arbeitskräften beschäftigen – auch wenn die Genossenschaften nicht in Privatbetriebe verwandelt worden sind. Einen Haupterwerbs-Familienbetrieb aufzubauen ist schwierig (wenn auch nicht ganz unmöglich) und zumindest keine Option für jedermann, weil der zur Verfügung stehende Boden nicht ausreicht.3 Die „Dienstleistungslücken” der ehedem sozialistischen Dörfer zu füllen und eine Kneipe oder einen Laden zu eröffnen, war eine echte Erwerbsalternative und hat auch in beschränktem Ausmaß überall stattgefunden.4 Doch das sind alles Familienunternehmen, die praktisch keine zusätzlichen Arbeitsplätze schaffen.

Was bleibt, ist Subsistenzlandwirtschaft, um die Arbeitslosenunterstützung oder eine Invaliden- oder Altersrente zu strecken. Für viele – wahrscheinlich die Mehrheit – ist der gestiegene Stellenwert der Kleinlandwirtschaft etwas, das ihnen aufgezwungen wurde. Für andere war es eine bewußte Entscheidung. Die Auflösung der Genossenschaften bot Gelegenheit zur Übernahme eines Lebensstils, von dem manche jahrelang geträumt hatten: Landwirtschaft im Eigenbetrieb! Erst spät merkten solche „Nostalgiebauern”, daß ein Bauernhof, der in den 1940ern rentabel war, in den 1990ern kaum den Eigenbedarf sichern konnte.

Verschiedene Modelle der ökonomischen Transformation auf dem Lande

Welches spezielle Kollektivierungsmodell in den sozialistischen Jahren übernommen wurde (siehe Teil 1, Oktober 01), hatte einen bedeutsamen Einfluß auf den Prozeß der nach-sozialistischen ländlichen Transformation. Staaten wie Polen, die die Kollektivierung aufgegeben hatten, erfuhren die geringste Veränderung. Der Kampf um die Kontrolle und die Aneignung von früheren sozialistischen Vermögenswerten fand im Rahmen der Privatisierung staatlicher Landwirtschaftsbetriebe statt, von denen die meisten an die Mitglieder ihrer früheren Leitung gingen. Nebenerwerbslandwirtschaft, überwiegend für den Eigenbedarf, wurde in gleichem Maße wie früher betrieben, aber die Bauernhaushalte mußten nun damit mehr Menschen unterstützen, da die Arbeitslosigkeit zunahm.

In jenen Ländern, die das stalinistische Modell beibehalten hatten, wurden die LPGen fast vollzählig zerstört (vollzählig in Albanien, fast vollzählig in Rumänien). Die Landwirtschaft ist auf eine Stufe zurückgefallen, die nicht mehr als eine magere Selbstversorgung darstellt; es sei denn, sie wird durch andere Einkommensquellen wie Renten, Löhne oder sonstige staatliche Unterstützung ergänzt.

In Ländern wie Ungarn, die vom neostalinistischen Modell der Kollektivierung geprägt waren und wo die Menschen von der sozialistischen Landwirtschaft stark profitiert hatten, gab es keine spontane Bewegung zur Auflösung der LPGen. In der Tschechischen und besonders in der Slowakischen Republik, wo sich die neue unabhängige Regierung offen mit der genossenschaftlichen Produktionsform identifizierte, blieben viele Genossenschaften bestehen. Der Großteil der Landbewohner hielt sich weiterhin kleine Parzellen, nur eine kleine Mehrheit stieg in die Haupterwerbs-Familienlandwirtschaft ein.

In Bulgarien setzten politische Kräfte die Liquidierung der meisten Genossenschaften und die Zerstörung vieler ihrer Vermögenswerte durch. Es entstanden mehr neue Genossenschaften als in Rumänien, aber nur sehr wenige große Privatbauernhöfe. Der Großteil der Parzellen ist zu klein, um ein Leben über das pure Überleben hinaus zu sichern, es sei denn, sie werden wiederum von einer Alternativ-Einkommensquelle ergänzt.

In Ungarn und der früheren DDR war es ökonomischer Druck, der eine radikalere Transformation von Genossenschaften durchsetzte als in der früheren Tschechoslowakei, obwohl Genossenschaften in beiden Ländern bestehen blieben. Der ökonomische Druck führte zum Entstehen von korporativen landwirtschaftlichen Betrieben (z.B. GmbH) – oft indem die Betriebsleiter ehemals genossenschaftliche Vermögenswerte erwarben – sowie von privaten landwirtschaftlichen Familienbetrieben. In Ungarn kamen die neuen Privatbauern hauptsächlich aus den Reihen derer, die bei der Bewirtschaftung von Haushaltsparzellen in den 1970er und 1980er Jahren erfolgreich gewesen waren. In der früheren DDR wurden Privatbauernhöfe von Menschen gegründet, die sich während der sozialistischen Jahre weiterhin als Landwirte begriffen hatten, oder von Westdeutschen, die Anspruch auf Boden hatten. 5, 6

Eine Folge dieser verschiedenen Umwandlungsmodelle ist, daß es in den Balkanländern, die die sozialistische Landwirtschaft zerstörten, heute relativ mehr Menschen gibt, die gänzlich von Subsistenzlandwirtschaft abhängig sind, als in den ostmitteleuropäischen Ländern, die ehemaligen Kollektivbesitz als Sprungbrett für die Entwicklung privater, überwiegend korporativ betriebener Landwirtschaft verwendeten. Hier gibt es landwirtschaftliche Großbetriebe und zahlreiche mittelgroße Familienbauernhöfe. Aber trotz dieser Unterschiede ist überall die bei weitem größte an der landwirtschaftlichen Produktion beteiligte Gruppe jene, die eine kleinstrukturierte, an den Familienbedürfnissen orientierte Landwirtschaft betreibt. Und überall steigt die Wichtigkeit dieser Subsistenzlandwirtschaft gerade dort, wo die Erwerbslosigkeit zunimmt.

Das Ausmaß der nach-sozialistischen Eigenbedarfslandwirtschaft

Die Rolle und Bedeutung von Kleinlandwirtschaft können mittels nationaler Statistiken erläutert werden, obwohl man sich klar machen muß, daß es keine einheitliche Definition derer gibt, die mit Landwirtschaft beschäftigt sind. Anders als in den Statistiken aus den Ländern der früheren Sowjetunion gibt es für die Länder Mittelosteuropas und des Balkans keine handhabbare Kategorie der „Kleinstlandwirtschaft”, die als annäherndes Äquivalent für eine Art Nebenerwerbs- oder Zubrotparzelle in Betracht käme.

In Rußland machen Haushaltsparzellen 97 Prozent aller „Bauernhöfe” aus, bedecken 6 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche und liefern 40 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion.7 In Albanien liegt die Durchschnittsgröße eines Hofes zwischen 1 und 1,5 Hektar – bei 400.000 „Bauern” im Land.8 In Rumänien gibt es 3,7 Mio. kleinbäuerliche Höfe mit einer Durchschnittsgröße von 2,2 Hektar, von denen 40 Prozent weniger als 1 Hektar umfassen und 73 Prozent weniger als 3 Hektar. In Bulgarien beträgt die durchschnittliche Größe von privaten Bauernhöfen 1,4 Hektar; über 86 Prozent von ihnen sind kleiner als 1 Hektar. In Ungarn, wo die Statistikbehörde den gesamten Landbesitz zählt (nicht nur den, der von registrierten landwirtschaftlichen Produzenten bewirtschaftet wird), sind 81 Prozent aller Landtitel unter 1 Hektar groß. Selbst wenn die Bauernhöfe unter einem Hektar ignoriert werden, sind 91 Prozent vom Rest unter 10 Hektar groß.9 Diese Zahlen belegen das zahlenmäßige Übergewicht von Höfen, die so klein sind, daß sie nur für das bloße Überleben sorgen können.

In der früheren Tschechoslowakei können die Angaben für die Landflächen, die von genossenschaftlicher in private Nutzung übertragen wurden, als Schätzwerte für die Größe des Haushaltsparzellensektors gelten. Da die sozialistischen Haushaltsparzellen zum Zeitpunkt der LPG-Umwandlungen verschwanden, mußten neue Parzellen als Privatland wieder beantragt werden. In der Tschechischen Republik war bis 1994 eine Fläche von (umgewandelten) LPGen in private Nutzung übertragen worden, die nur 16 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche ausmachte. Die Durchschnittsgröße lag bei 3,5 Hektar; 90 Prozent solcher Übertragungen waren kleiner als 10 Hektar. Unter tschechischen Bedingungen bedeutet ein Bauernhof von 3,5 Hektar heute nicht mehr als eine größere Haushaltsparzelle von früher. In der Slowakei machte die Fläche des von genossenschaftlicher in private Nutzung übertragenen Landes 1995 nur 8 Prozent des gesamten landwirtschaftlichen Bodens aus, was ein Übergewicht von noch kleineren Parzellen nahelegt. Diese Zahlen umfassen natürlich auch auf größere Privatbauern übertragenes Land, deren Anzahl aber sehr gering ist. Private Bauernhöfe machten 5 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche in der Slowakei aus, und 76 Prozent von ihnen waren kleiner als 10 Hektar. In der tschechischen Republik waren 80 Prozent der privaten landwirtschaftlichen Familienbetriebe unter 10 Hektar groß, aber sie machten 23 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche aus.10

Alle diese Zahlen zeigen, daß in den Ländern Mitteleuropas und des Balkans die bei weitem am häufigsten anzutreffende Form des landwirtschaftlichen Besitzes die kleinflächige Zuerwerbsparzelle ist.

Nigel Swain

1 Nigel Swain, The Visegrad Countries of Eastern Europe, in: Bernard J. Foley (Ed.), European Economies since the Second World War, Houndmills: Macmillan, 1988, S. 177-208.

2 Nigel Swain, 1996, a.a.O.

3 Iveta Námerová, Private Farmers in Slovakia, Eastern European Countryside, No. 5, Summer 1999.

4 Nigel Swain, Rural Employment and Rural Regeneration in Post-Socialist Central Europe, University of Liverpool, Centre for Central and Eastern European Studies Working Papers No. 38, January 1997.

5 Lutz Laschewski, Continuity and Changes – Development of Farm Structures in East Germany, AG 10, XVIIth Congress of the European Society for Rural Sociology, Chania/Kreta, August 1997.

6 Die vollständigste Bestandsaufnahme der Bodenreform in der früheren DDR bis heute bieten Volker Beckmann und Konrad Hagedorn, Decollectivisation and Privatisation Policies and Resulting Structural Changes of Agriculture in Eastern Germany, in: Swinnen, Buckwell and Mathijs (Ed.), Agricultural Privatisation, Land Reform and Farm Restructuring in Central and Eastern Europe, Aldershot: Ashgate, 1997, S. 105-160.

7 Stephen K. Wegren (Ed.), Land Reform in the Former Soviet Union and Eastern Europe, London/New York: Routledge, 1998, S. 39.

8 Sofern nicht anders angegeben, stammen die Zahlen in diesem Abschnitt aus: Nigel Swain, a.a.O., 1998.

9 Mihály Andor, Tibor Kuczi and Nigel Swain, Central European villages after 1990, Szociológiai Szemle (englische Ausgabe), Sommer 1998.

10 OECD, Review of Agricultural Policies: Czech Republic, S. 79; Slovak Republic, S. 65, Paris: OECD, 1995.

Text nach: Elisabeth Meyer-Renschhausen, Anne Holl (Hrsg.), Die Wiederkehr der Gärten – Kleinlandwirtschaft im Zeitalter der Globalisierung, Innsbruck 2000. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Studien Verlags Innsbruck. Übersetzung: A. Holl, P. Hill, E. Meyer-Renschhausen.


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