Aus DER RABE RALF September 1995
In den letzten 10.000 Jahren der Evolutionsgeschichte ist der Mensch mehrfach an die Grenzen der Tragekapazität der Erde gestoßen, und es ist ihm immer wieder gelungen, durch technologische Erfindungen diese Grenzen zu erweitern. Prähistorische Forschungen haben wiederholt belegt, daß der Mensch als Sammler und Jäger je nach der Region und den spezifischen Bedingungen nur bei einer Bevölkerungsdichte von 0,01 bis maximal einige Einwohner pro km2 leben kann. Auf dieser Kulturstufe hatte die gesamte Erde lediglich eine Tragekapazität von 1 bis 10 Millionen Menschen. Der Mensch der Altsteinzeit hat über einen Zeitraum von mehreren Hunderttausend Jahren hinweg stets unter einem ökologischen Begrenzungsdruck gelebt, da die verfügbare Fläche der Erde eben nicht mehr als 10 Millionen Menschen durch eine auf Sammeln und Jagen basierende Lebensweise ernähren kann. Es ist eine interessante und bisher noch nicht ausreichend beantwortete Frage, ob die Menschen in dieser Zeit gelernt haben, jeder merklichen Bevölkerungszunahme mit geeignetem Einschränkungsverhalten entgegenzusteuern. Mittel hierzu gab es durchaus vielfältige, wie z.B. Kindestötung und Abtreibung. Es ist durchaus vorstellbar, daß unsere „primitiven“ Vorfahren der Steinzeit im Rahmen der von ihnen noch nicht beeinflußbaren Ressourcengrenze sich vernunftgeleitet und selbstverantwortlich verhielten, indem sie die Bevölkerungsgröße im sicheren Abstand von der ihnen vorgegebenen Tragekapazität stabilisierten. Möglicherweise ist dieses bewußte Gegensteuern gegen eine Bevölkerungszunahme ein entscheidender Ausdruck für eine Menschwerdung. Die bis heute andauernde Bevölkerungsexplosion setzte erst dann ein, als durch die neolithische Revolution der Mensch zum Ackerbau und Viehzucht überging.
Emporschaukeln der Tragekapazität
Der Übergang von der Lebensweise der Jäger und Sammler hin zu den Ackerbauern und Viehzüchtern war jedoch problematisch durch die witterungsbedingten Ernteunsicherheiten, die auch heute noch in der Landwirtschaft große Probleme hervorrufen. Während man als Jäger und Sammler mit relativ stabilen Erträgen rechnen konnte, war dies bei den Ackerbauern und Viehzüchtern bei weiten nicht der Fall. Es gab ebenso häufig katastrophale Mißernten wie katastrophale Überschüsse. Um sich gegen die witterungsbedingten übermäßigen Produktivitätsschwankungen abzusichern, gab es nur eine wirksame Strategie: immer größere Flächen zu bewirtschaften. Hierzu benötigt man aber immer mehr Arbeitskräfte. Mehr Arbeitskräfte benötigen wiederum mehr bewirtschaftbare Landflächen. So gibt es seit über
10.000 Jahren ein bis heute anhaltenes Emporschaukeln von Tragekapazität und Bevölkerungsgröße durch die gegenseitigen positiven Rückwirkungen. Durch technologische Innovationen konnte die Tragekapazität der Erde immer weiter gesteigert werden. Während der Übergang zum Ackerbau die Tragekapazitäten der Erde verzehnfachte, hat die Erfindung des von Tieren gezogenen Pfluges diese bereits verhundertfacht. Der Einsatz von Düngemitteln, verbunden mit neuen technischen Innovationen in der Industrieagrikultur, hat die Tragekapazität der Erde für den Menschen sogar vertausendfacht. Auf diese Weise sind aus 10 Millionen Menschen der Altsteinzeit heute fast 10 Milliarden Zeitgenossen geworden. Der entscheidende Antrieb für das sich ständige Emporschaukeln von Tragekapazität der Bevölkerungsgröße war letzlich die Furcht vor dem Mangel.
Das Überschreiten der Grenzen
Bisher kannte der Erfindungsreichtum der Menschen scheinbar keine Grenzen. Die Frage steht aber heute angesichts der sich bereits vollziehenden und zu erwartenden Umweltkatastophen, ob die Tragekapazität der Erde durch weitere technische Innovationen immer weiter vergrößert werden kann. So könnte sich die Menschheit rein theoretisch in den nächsten 100 Jahren nochmals verzehnfachen, doch das wäre ohne jeden Zweifel kein menschliches Leben mehr, sondern die Realisierung einer Horrorvision. So schwierig auch die Frage zu beantworten ist, wo die Grenzen der Belastbarkeit des irdischen Ökosystems liegen, so ist sicher die Aufgabe unserer und die nächsten Generationen, das Schwungrad der Geschichte in ein Gleichgewichtzustand zu bringen.
Bevölkerungslawine = Umweltzerstörung?
Wer wollte angesichts der Endlichkeit der Erde und einer realen Zuwachsrate von täglich 100.000 Menschen noch bezweifeln, daß sich das rasante Wachstum der Weltbevölkerung zu einem immer bedrohlicheren Problem entwickelt. Mit nur wenigen Zahlen läßt sich der Trend veranschaulichen:
vor 10.000 Jahren 10 Millionen
vor 5.000 Jahren 50 Millionen
zur Zeitenwende 250 Millionen
1650 500 Millionen
1850 1 Milliarde
1930 2 Milliarden
1980 4 Milliarden
1990 5,3 Milliarden
Die Erdbevölkerung wächst z.Z. sogar stärker als exponentiell, da sie sich in immer kürzeren Zeitspannen verdoppelt. Seit Beginn unserer Zeitrechnung hat es 1600 Jahre gedauert, ehe sich die Weltbevölkerung verdoppelte. Für die nächste Verdopplung wurden nur noch 200 Jahre, für die darauffolgende weniger als hundert Jahre benötigt. 2 Milliarden wurden 1930 ereicht, 50 Jahre später bereits 4 Milliarden (s.o.).
Unumstritten sind die zerstörerischen Folgen für die Umwelt. Daß die Bevölkerungsexplosion der Hauptfaktor für die weltweite Umweltzerstörung ist, erscheint jedoch nur vordergründig einsichtig und ist eine allzu naive Interpretation, da quantitativ die Umweltbelastung durch den reichen Norden weitaus größer ist als die durch den armen Süden, wie in der nächsten Folge gezeigt werden soll.
Reinhard Piechocki