Aus DER RABE RALF Februar 1996
Als die Exxon Valdez 1989 Alaskas Küste mit einem tödlichen Ölschlick überzog, führten die enormen Aufwendungen zur Beseitigung der Schäden letztlich zu einer Steigerung des amerikanischen Bruttosozialproduktes (BSP) um 2 Milliarden Dollar.
Genauso wird es sich mit dem verheerenden Erdbeben 1995 in Kobe verhalten, bei dem 5500 Menschen getötet und 33.000 verletzt wurden sowie ein Gesamtschaden von 130 Milliarden DM entstand. Wirtschaftsfachleute errechneten, daß das japanische Bruttosozialprodukt dank der riesigen Hilfs- und Aufbauprogramme zur Beseitigung der Schäden beträchtlich steigen wird. Bei einer zynischen Betrachtungsweise könnte man meinen, mit jeder Erdbebenkatatrophe, jeder neuen Überschwemmung und jedem verheerenden Wirbelsturm steigt das Bruttosozialprodukt dank der zu beseitigenden Schäden. Obwohl Umweltkatastrophen eine massive Einbuße nationaler Ressourcen bedeuten, werden Umweltverluste nicht als Kosten abgezogen, sondern es gelten – nach den herkömmlichen Wirtschaftsmaßstäben – die Aufwendungen zur Behebung der Schäden als Einkommen.
Ein simpler Buchungsfehler
„Der Konflikt zwischen wachsendem Bruttoinlandprodukt und schrumpfender Natur basiert im Grunde auf einem simplen Buchhaltungsfehler“. Mit dieser Aussage umschrieb die Berner Zeitung im vorigen Jahr das Thema einer Konferenz, die der WWF zusammen mit den „Club of Rome“ sowie dem Europaparlament in Brüssel durchführte. Mit dem bisher praktizierten Modell des Bruttosozialproduktes (BSP) bzw. der Variante des Bruttoinlandproduktes (BIP) werden die gegenwärtigen Gewinne überschätzt und die künftigen Folgekosten wirtschaftlicher Aktivitäten unterschätzt. Die heutige Berechnungsmethde begünstigt nach wie vor ein Wirtschaften, das der Umwelt schadet, die Lebensqualität zunehmend beeinträchtigt und langfristig zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlage führen kann, denn bis heute werden nicht nur die Beseitigung von Umweltschäden, sondern auch der Rohstoffverschleiß in allen nationalen Buchhaltungen zum Wirtschaftswachstum gezählt.
Wachstum und Umweltzerstörung
Die Schädigung der natürlichen Lebensgrundlagen ist eine Folge der Produktion und ihres unbegrenzten Wachstums. Die Belastung der Umwelt wird durch drei Faktoren bestimmt:
- von der Zahl der Menschen
- von der Menge der Aktivität pro Person
- von der Art dieser Aktivität.
Zu- bzw. Abnahme der ersten beiden belasteten Faktoren – Bevölkerung und Pro-Kopf-Aktivität – verlaufen parallel zur Erhöhung und Senkung des Produktionsniveaus. Für den dritten Faktor (die Art unserer Aktivitäten) gilt nach wie vor das Prinzip, je stärker unsere Aktivitäten die Umwelt belasten, umso größer ist der Beitrag zum Bruttosozialprodukt und umgekehrt. So leistet ein Autokilometer mehr für das Bruttosozialprodukt als ein Fahrradkilometer, ein geheizter Raum mehr als ein Pullover, der Konsum eines Kilo Fleisches mehr als der Verzehr eines Kilo Gemüses, und eine Urlaubsreise per Flugzeug wesentlich mehr als Ferien mit der Eisenbahn. Die Ursache für die Paradoxie liegt vor allen Dingen in dem Fakt, daß die Erschöpfung der Umwelt und der Ressourcen dem Nationaleinkommen nicht als Kosten aufgebürdet werden.
Folgen des dauerhaften Wirtschaftswachstums
Das ständige Anwachsen an Wirtschaftsleistungen ist bisher mit der Ausweitung des Ressourcenverbrauchs, der Zunahme der Abfallberge und einer verstärkten Gesundheitsbelastung verbunden. Je länger die Forcierung des Wirtschaftswachstums anhielt, umso deutlicher wurden auch die negativen Folgen unseres Produzierens und umso größer waren die notwendigen Investitionen, um im nachhinein die Umweltschäden zu reduzieren. Wenn man die lineare Entwicklung unserer inflationsbereinigten Wirtschaftsleistungen aufteilt nach ihrem Nettonutzen und den Kosten für die negativen Folgen, so wird sichtbar, daß anfangs die negativen Folgen unseres Produzierens kaum den Nettonutzen beeinträchtigten, doch im Laufe der Zeit diese Folgekosten rascher zunehmen als der Nettonutzen. Sobald die Folgekosten schneller als die Wirtschaftsleistungen wachsen, kommt es zum Umkippen der Nutzenentwicklung, d.h. trotz eines weiteren linearen Nutzungsanstiegs geht der Nettonutzen, d.h. die Lebensqualität, zurück. Wenn man nur die gröbsten Schäden unserer Umwelt heute zusammenaddiert, dann liegt der Schluß nahe, daß der Punkt des Umkippens schon überschritten ist.
Ökosozialprodukt statt Bruttosozialprodukt
Die Diskussionen, das Nationaleinkommen um die Umweltverluste zu korrigieren, begann in den frühen 70er Jahren. Seit Anfang der 90er Jahre hat das Statistische Büro der Vereinten Nationen besonders intensiv versucht, den Ungereimtheiten zu Leibe zu rücken und ein korrigiertes System nationaler Wirtschaftsbilanzen zu entwickeln. Dieses System will zusätzliche Statistiken zur Bewertung von Umweltschäden erstellen und sie mit den traditionellen BSP-Zahlen kombinieren. Staaten wie Norwegen, Frankreich und Deutschland arbeiten daran, Bilanzen über den Schwund nationaler Ressourcen zu erstellen. Allerdings ist es wesentlicher einfacher, herkömmlich exakt ein Bruttosozialprodukt zu errechen, als ein einigermaßen verläßliches Ökosozialprodukt abzuschätzen. Dennoch scheint ein ungenauer, aber tendenziell richtiger Maßstab wesentlich besser zu sein als ein präziser, aber generell falscher Maßstab. Fazit: Das Bruttoinlandprodukt ist ein irreführender Wohlfahrtskompaß.
Vierjährige Studien des Österreichischen Statistischen Zentralamtes haben zu dem Schluß geführt, eine Berechnung des Bruttosozialprodukts unter Berücksichtigung der Umweltlasten sei noch nicht möglich. Die Umwelt reagiere auf eine zu komplexe Weise auf wirtschaftsbedingte Belastungen, so daß viele ihre Veränderungen nicht in strikt monetären (in Geld meßbaren) Kategorien bewertet werden könnten. Als Ausweg wurde vorgeschlagen, Umweltschäden nach Branchen getrennt – Landwirtschaft, Industrie und Verkehr – zu berechnen.
Einen erfolgversprechenderen Ansatz hat der Wirtschaftsexperte Herrmann Daly von der Weltbank entwickelt. Unter Einbeziehung vieler Indikatoren, von der Bewertung der Frauenarbeit bis hin zu den Kosten der Zerstörung nicht erneuerbarer Ressourcen, hat er einen Index der nachhaltigen wirtschaftlichen Wohlfahrt (ISEW) aufgestellt.
Aktionsplan bis zum Jahr 2000
Gemeinsam haben der WWF und der „Club of Rome“ einen konkreten Aktionsplan vorgelegt, der auf der Brüsseler Konferenz eine große Resonanz hervorrief. Danach sollen bis 1997 mindestens 10 EU-Staaten ein Ökosozialprodukt einführen. Darüberhinaus werden zehn Entwicklungsländer mit Hilfe der Statistischen Kommission der UNO und der Weltbank, ebenfalls ein Ökosozialprodukt ausrechnen. Bis zum 31.12.99 soll dieses neue „grüne“ System weltweit formell angenommen und in Kraft gesetzt werden.
Reinhard Piechocki