Aus DER RABE RALF Dezember 2023 / Januar 2024, Seite 1
Für den Schutz der Biodiversität ist genaues Wissen nötig, sagt Biologin Elke Zippel vom Botanischen Garten Berlin
Der Rabe Ralf: Frau Zippel, wie steht es um die Artenvielfalt in unserer Region?
Elke Zippel: Das Artensterben vor unserer Haustür ist enorm. Während das „Insektensterben“ öffentlich wahrgenommen wurde, geht das Artensterben der Pflanzen völlig unbemerkt vor sich. Die Artenvielfalt ist unsere Lebensgrundlage, doch sie befindet sich im freien Fall. Die Situation ist wirklich dramatisch.
Als ich meine Diplomarbeit angefertigt habe, vor etwa 30 Jahren, gab es noch viele artenreiche und bunt blühende Ruderalflächen im öffentlichen Raum. Die meisten sind heute weg. Auf dem Land, wo immer mehr intensiviert, gedüngt und gespritzt wird, haben immer weniger Wildpflanzen eine Überlebenschance. Feuchtwiesen und Moore wurden und werden entwässert, umgebrochen und mit artenarmen Mischungen neu eingesät. Durch die Überdüngung der Landschaft gehen immer mehr Arten zurück, die an nährstoffarme Habitate gebunden sind – darunter sind viele unserer bunt blühenden Arten. Werden die Flächen gedüngt, wandern konkurrenzstarke Arten ein und überwuchern die bestehende Vegetation. Am Ende bleiben Agrarwüsten und abgesackte Wiesen, die von Löwenzahn übersät sind.
Was haben Sie gegen den Löwenzahn?
An sich nichts! Aber eine Löwenzahn-Wiese ist meistens nicht artenreich, denn sie ist das Ergebnis der Eutrophierung der Landschaft: Der Löwenzahn verträgt nährstoffreiche Böden. Eine bunt blühende Wiese mit Schmetterlingen gibt es dagegen bei uns im nordostdeutschen Tiefland nur noch selten.
Liegt das auch an Fehlverhalten im Alltag?
Ja. In erster Linie betrifft das natürlich unseren Lebenswandel, also unser Einkaufs- und Konsumverhalten, wo der niedrige Preis den meisten wichtiger ist als die Herkunft und eine nachhaltige Herstellung des Produkts. Aber auch gut gemeinte Aktionen, von denen viele annehmen, dass sie der Artenvielfalt helfen – etwa Blumensamen ausstreuen oder Bäume pflanzen – können der Artenvielfalt schaden.
Fördert das Pflanzen von Bäumen denn nicht die Artenvielfalt? Und warum kann das Ausstreuen von Blumensamen schädlich sein?
Wenn die richtige Baumart an die richtige Stelle gepflanzt wird, natürlich ja! Aber wenn fremde Baumarten sich unkontrolliert ausbreiten, also invasiv werden – und das kann sehr schnell gehen –, können sie heimische Arten verdrängen. Das Gleiche kann auch passieren, wenn man irgendwelche Blumensamen irgendwo hinstreut.
Um das zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, wie sich die Vegetation in einer Region im Laufe der Zeit entwickelt hat. Bei uns in Mitteleuropa haben sich die Arten am Ende der Kaltzeiten seit dem Rückzug der Gletscher ausbreiten können. Einige Arten, wie zum Beispiel die Arnika, konnten sich so ein großes Areal erobern – von küstennahen Gebieten an Nord- und Ostsee über die Mittelgebirge bis in die Alpen – und sich gleichzeitig an die verschiedenen regionalen Boden- und Klimabedingungen anpassen. Das hat zur Folge, dass wir Botaniker zwar immer noch von ein und derselben Art sprechen, eben der Arnika, sich aber die verschiedenen Populationen durchaus erheblich unterscheiden: Wir haben es mit einer großen genetischen Vielfalt innerhalb der Art zu tun, die sich im Laufe der Evolution in den verschiedenen Regionen herausgebildet hat. Das lässt sich mit molekulargenetischen Methoden heute problemlos aufschlüsseln.
Wenn ich nun Arnika-Samen aus dem Hochgebirge ins Tiefland bringe, kann es sein, dass die Arnika aus dem Hochgebirge dort nicht wächst, weil sie mit den Bedingungen dort nicht klarkommt. Es kann aber auch sein, dass sie sich mit den schon vorhandenen Arnika-Pflanzen kreuzt, was schlimmstenfalls zu einem Erlöschen der heimischen Population und damit zum Verlust genetischer Vielfalt führen kann.
Was hat das nun mit dem Samentütchen zu tun? Wir wissen in der Regel nicht, woher die Samen ursprünglich stammen, und kaum einer kennt die Arten, die er ausstreut. Vielfach sind in den Samentütchen auch Arten, die nicht heimisch sind, sich mit Wildarten kreuzen und sie dadurch vernichten können. Oder es sind Arten dabei wie die in den Mischungen beliebte Luzerne, die den Boden mit Stickstoff anreichern und die Fläche rasch in Einheits-Luzerne-Bestände umwandeln können. Wichtig ist stattdessen, die genetische Eigenständigkeit der regionalen Vielfalt zu erhalten, die die Pflanzen über Jahrtausende entwickelt haben.
Wie sieht es mit dem Bepflanzen von Baumscheiben aus, hilft das der Biodiversität?
Wenn Baumscheiben bepflanzt werden, etwa mit Ringelblumen oder Löwenmäulchen, dann sieht das für uns Menschen vielleicht hübsch aus, aber es nützt der Artenvielfalt nichts. Ein geeigneter Lebensraum ist eine Baumscheibe nur für wenige Allerweltsarten, die an ständige und unregelmäßige Störungen und an den Nährstoffreichtum angepasst sind. Selbst wenn eine Wildbiene die Blüten findet und vom Nektar trinkt, bietet ihr der Boden der Baumscheibe in der Regel keinen Eiablageplatz. Und sollte das doch der Fall sein, werden die Eier oder die Larven bei der nächsten Bepflanzung der Baumscheibe unwissentlich vernichtet.
Bei den Pflanzen aus dem Baumarkt oder der Gärtnerei kommt noch ein wichtiger Aspekt hinzu: Sie wachsen in der Regel in torfhaltigen Substraten heran. Durch den Torfabbau werden weltweit jedes Jahr riesige Moorflächen vernichtet, Artenvielfalt verschwindet und der Klimawandel wird verstärkt. Es ist nicht zu verstehen, warum Jungpflanzenanzucht in Torfsubstraten immer noch legal ist, obwohl es inzwischen bewährte torffreie Alternativen gibt.
Wo muss Forschung inhaltlich ansetzen, um Biodiversität zu fördern?
Grundsätzlich ist zu betonen: Wir wissen bereits, was zu tun ist, um den Verlust der Artenvielfalt aufzuhalten. Allerdings ist es gerade bei seltenen und hochgradig gefährdeten Arten wichtig, genauer hinzuschauen, um bei Artenschutzmaßnahmen keinen Fehler zu machen – die Gefahren hatte ich erläutert. Hier setzt die Naturschutzgenetik an und untersucht die genetischen Muster von seltenen und gefährdeten Arten, die die Entwicklungsgeschichte der letzten Jahrtausende widerspiegeln.
Einen wichtigen Aspekt sehe ich auch im sozialwissenschaftlichen Bereich: Wie können diese Erkenntnisse in der Gesellschaft verankert werden? Viel Basiswissen über grundlegende biologische Zusammenhänge ist in unserer Bevölkerung verlorengegangen. Früher war es zum Beispiel üblich, in der Schule ein Herbarium anzulegen, die meisten konnten ein Wiesenschaumkraut vom Gänseblümchen unterscheiden. Heute spielt Artenkenntnis keine Rolle mehr. Gleichzeitig aber meint jeder zu wissen, was Natur ist und was gut für die Natur ist. Doch Artenschutz gehört aufgrund seiner Komplexität in professionelle Hände. Wir können die Natur nicht reparieren, sondern nur die Entwicklung steuern, um gefährdete Arten zu erhalten. Dafür benötigen wir das Wissen, an welchen Stellschrauben wir drehen müssen.
Was wünschen Sie sich von den Naturschutzinitiativen?
Umweltbildung zählt zum Allerwichtigsten. Nur das, was ich kenne, kann ich schützen. Wer unsere wichtigsten heimischen Pflanzenarten kennenlernen möchte, braucht ungefähr zwei Sommer. Dann kennt man die häufigsten Arten in ihren Lebensräumen und die wichtigsten Pflanzenfamilien und kann sich auf die Suche nach unseren botanischen Schätzen machen.
Was macht den Artenschutz im Lebensraum Stadt schwierig?
In der Stadt sind die wohl größten Herausforderungen die geringe für die Natur vorhandene Fläche und die vielen Menschen. Die Habitate sind klein und ständigen Veränderungen unterworfen, außerdem gibt es nur noch wenige nährstoffarme Flächen. Hochproblematisch sind die vielen invasiven Arten, die sich auch in Naturschutzgebieten breitmachen, wie etwa die Robinie. Wichtig ist deshalb, solche Neophyten in Schach zu halten und die Naturschutzgebiete gut zu pflegen. Andererseits haben wir in Berlin auch einige seltene Arten, die mit den Bedingungen der Großstadt durchaus zurechtkommen – man denke an Vögel wie den Turm- und den Wanderfalken.
Wo steht Berlin im internationalen Vergleich?
Berlin hat zahlreiche Wälder, Seen, viele Parks, einige Wiesen und Felder. Wer die Augen offen hält, kann Kröten oder Zauneidechsen entdecken, ebenso heimische Orchideen und andere seltene Pflanzen. Unsere Naturschutzgebiete werden vielfach mit ehrenamtlichem Einsatz gehegt und gepflegt. Die Stiftung Naturschutz und die Umweltverbände, unterstützt vom Berliner Senat, leisten mit wenig Mitteln hervorragende Naturschutzarbeit. Wir müssen den Vergleich mit anderen europäischen Großstädten nicht scheuen, im Gegenteil!
Interview: Sandra Diekhoff
Elke Zippel ist promovierte Biologin und wissenschaftliche Leiterin der Dahlemer Saatgutbank im Botanischen Garten Berlin. Sie arbeitet im Projekt „Wildpflanzenschutz in Deutschland“ (WIPs-De) mit (Rabe Ralf Juni/Juli 2023, S. 3).
Weitere Informationen:
www.bo.berlin/forschung
www.wildpflanzenschutz.de