Atomausstieg mit Lücken

Aus DER RABE RALF August/September 2022, Seite 5

Fahrrad-Demo durch Berlin zeigte blinde Flecken der Energiepolitik

Die Fahrraddemo machte auch Station im Regierungsviertel. (Foto: Stephan Worseck)

Ende des Jahres werden die letzten drei deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet. In Berlin fand aus diesem Anlass am 18. Juni eine ganz besondere Fahrraddemonstration statt. Die mit 83 Jahren älteste Teilnehmerin unter den 40 Aktiven kam aus Zehlendorf mit ihrem Fahrrad. Sie ist beim IPPNW, den ÄrztInnen gegen Atomkrieg, organisiert.

Zum Auftakt an der traditionsreichen Weltfriedensglocke im Friedrichshain betonte Uwe Hiksch als Mitglied des Vereins Friedensglocke: „Wer von Atomkraft redet, darf von Atomwaffen nicht schweigen.“ Für die Modernisierung und den Ausbau des Fliegerhorsts Büchel in der Eifel wolle die Bundesregierung in den nächsten Jahren 120 Millionen Euro ausgeben, warnte Hiksch. Damit nehme die Regierung einen atomaren Krieg in Europa in Kauf. Die deutsche Luftwaffe bildet in Büchel Jagdbomberpiloten für den Einsatz mit taktischen Atomwaffen aus.

Auch aus Atomwaffen aussteigen

In einem Grußwort wies die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) darauf hin, dass in derselben Woche in Wien die erste Konferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag (Rabe Ralf April 2021, S. 19) stattfand:. „Über 80 Staaten unterstützen den Vertrag und stärken damit eine neue Norm – die Ächtung von Atomwaffen aufgrund ihrer katastrophalen humanitären Folgen.“ Auch die Stadt Berlin unterstütze seit drei Jahren den ICAN-Städteappell, und viele Berliner Bezirke setzten sich im Netzwerk „Bürgermeister für den Frieden“ für eine Welt ohne Atomwaffen ein. Nun werde es Zeit, dass auch die deutsche Bundespolitik die Risiken der Nukleartechnologie ernst nehme: „Lasst das Ende der AKWs in Deutschland auch den Beginn einer neuen Debatte über Atomwaffen und die Rolle Deutschlands bei der nuklearen Abschreckung sein.“

Judith Dellheim vom Berliner Energietisch berichtete bei einem Stopp am Vattenfall-Gaskraftwerk in Mitte über den langen Atem des Widerstandes: Nach dem Volksentscheid im Jahr 2013 konnte die Rekommunalisierung der Energienetze 2021 erreicht werden. Berlin hat seit 2014 auch wieder ein eigenes Stadtwerk und seit Mai dieses Jahres einen aktiven KlimabürgerInnenrat. Dellheim betonte, auch nach dem Atomausstieg bleibe es wichtig, sich gegen die Energiekonzerne und die Atomlobby zu wehren.

Auch an der chinesischen Botschaft machte die Demo kurz halt. In China sind derzeit 53 Atomreaktoren in Betrieb, 12 im Bau und 43 in Planung. China baut aber auch viel stärker die erneuerbaren Energien aus.

Weiter in die Sackgasse mit Erdgas?

Vor dem Gebäude des Energiekonzerns EnBW sprach ein junger Wissenschaftler vom Reiner-Lemoine-Institut über die nötige „Energiesystemwende“ in Deutschland: „Die aktuelle Energie- und Klimakrise lässt sich nur mit einem zügigen Umbau des Energiesystems lösen.“ Doch statt dezentrale erneuerbare Energien und lokale Energiegemeinschaften zu stärken, würden Debatten über längere Laufzeiten konventioneller Kraftwerke geführt und der Ausbau fossiler Infrastruktur beschlossen. Das bringe nichts für den Klimaschutz. Um aus der Sackgasse herauszukommen, müssten weitere Fehlinvestitionen in fossile Energien unbedingt vermieden werden.

Wohin mit dem Atommüll? Sicher ist nur: Es wird sehr teuer. (Foto: Bernd Frieböse)

Speziell kritisierte der Forscher die kürzlichen Regierungsbeschlüsse, neue Häfen für verflüssigtes Erdgas (LNG) zu bauen und Erdgas-Partnerschaften mit anderen Ländern einzugehen. „In Deutschland wurde der Wärmesektor zu lange vernachlässigt“, sagte er mit Blick auf die vielen Heizungen, die noch mit Erdgas laufen. „Hier braucht es ein ambitioniertes Ausbauprogramm. Wie schnell Programme aufgesetzt werden können, zeigt sich an dem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr. Diese Mittel, in den Ausbau von Wärmepumpen gesteckt, könnten die Hälfte aller Gasthermen in privaten Haushalten ersetzen und den Gasbedarf deutlich senken.“

Die Demo machte dann einen Abstecher ins Viertel der Lobbyisten. Vorbei ging es an der FDP-Zentrale und der parteinahen Stiftung der Grünen, der Heinrich-Böll-Stiftung. Dort informierte ein Mitglied des Anti-Atom-Plenums Berlin über den Wirtschaftslobbyismus in der Hauptstadt. „In Berlin gibt es etwa 5000 solcher LobbyistInnen, die sich in der Nähe des Bundestages tummeln.“ Ausgediente PolitikerInnen ließen sich ihre Kontakte, die sie etwa als Abgeordnete hatten, „direkt im Sinne der KapitalgeberInnen versilbern.“ Margareta Wolf sei ein Beispiel für solch einen atemberaubenden Wechsel. Die Grünen-Politikerin heuerte bei einer PR-Agentur an, die 2008 für das Deutsche Atomforum die erfolgreiche Kampagne zur AKW-Laufzeitverlängerung entwarf.

Eine andere Art von Lobbyismus sei das Bündeln von Anti-Windkraft-Initiativen, wie es der Verein ‚Vernunftkraft‘ praktiziere. Politisch unterstützt werde Vernunftkraft von der AfD und Teilen der FDP. „Wer das Geld hat, hat die Macht“, so das Fazit. „Das System des Wirtschaftslobbyismus steht für intransparentes Agieren, für den Erhalt eines Machtgefüges und das Ausbauen von Profiten.“

AKW-Neubau mit EU-Geld

Bei einem Zwischenstopp am „Europäischen Haus“ informierte Uwe Hiksch von den Berliner Naturfreunden über den Euratom-Vertrag. „Durch die riesige Subventionierung der Atomtechnologie wurde der Ausbau und die Förderung der Atomkraft seit vielen Jahren massiv vorangetrieben. Erst eine Revision von Euratom wird einen endgültigen Atomausstieg in den Staaten der EU und den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien in Europa möglich machen“, sagte Hiksch.

Er informierte auch über die Pläne von EU-Ländern, mit Subventionen aus Brüssel die Atomkraft sogar noch zu auszubauen. „Konkret plant die tschechische Regierung, den Atomstromanteil bis zum Jahr 2040 auf 49 bis 58 Prozent zu erhöhen.“

Die Abschlusskundgebung fand zwischen Kanzleramt und Bundestag, den politischen Schaltzentralen, statt. Delphine Scheel vom Anti-Atom-Bündnis Berlin-Potsdam erinnerte an Höhepunkte und Rückschläge in der Geschichte der Anti-AKW-Bewegung, die schließlich zum Atomausstieg führte. Sie erinnerte auch an Persönlichkeiten wie Carl-Friedrich von Weizsäcker, der „als Friedensaktivist nicht müde wurde, die Nachkriegsdeutschen von der atomaren Wiederaufrüstung abhalten zu wollen“. Sie erinnerte auch an die Zivilcourage von Sebastian Pflugbeil, der 1989 in der letzten DDR-Regierung als Minister ohne Geschäftsbereich dafür sorgte, dass alle DDR-AKWs stillgelegt wurden. Dazu verfasste er ein Gutachten, das den katastrophalen Zustand der Anlagen nachwies.

Atommüll aus Berlin

Stephan Worseck vom Anti-Atom-Bündnis Berlin-Potsdam sprach zum Problem des Atommülls: „Der sogenannte ‚billige Atomstrom‘ war ein Märchen, das ein teures Nachspiel hat. Die Endlagerung des deutschen Atommülls wird eine technische und gesellschaftliche Herausforderung sowie eine Kosten-Bürde für die nächsten Generationen sein.“

Auch in Berlin wurde kräftig Atommüll produziert – hier im Namen der Wissenschaft. Einige der DemonstrantInnen engagieren sich heute im Dialogverfahren zum Rückbau der Berliner Atomanlagen. Die Begleitgruppe zum Berliner Rückbauprojekt will „darauf achten, dass das Zwischenlager in Berlin so gebaut wird, dass dieser Atommüll sicher gelagert werden kann“. Auf der Demonstration waren sich alle einig: „Wichtige Dinge dürfen wir nicht einer Regierung überlassen.“

Benjamin Sommer 

Weitere Informationen: www.antiatomberlin.de

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