Aus DER RABE RALF Februar/März 2017, Seite 18
Teil- oder vollautomatisiert? Oder selbstlenkend?
Des Deutschen liebstes Spielzeug ist sein Auto. Die selbstfahrende Abart dieser Spezies ist gefühlt seit knapp zehn Jahren ein Thema – auch wenn am Anfang absolut nicht klar war, wohin die Reise gehen soll. Denn teilautomatisiert waren die meisten Kfz bereits damals schon, siehe Tempomat, Einparkhilfe und verschiedene Leit- und Sicherheitssysteme. Bleibt eigentlich nur vollautomatisiert oder, darauf läuft derzeit alles hinaus, selbstlenkend. Das würde dann „eine ähnliche Revolution wie von der Pferdekutsche zur Automobilproduktion“ lostreten, ließ Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende Juli 2016 das Handelsblatt wissen.
Fest steht schon jetzt: Selbstfahrende Kfz sind machbar und existieren bereits, einige davon sogar in Serienreife. Fest steht aber auch: Eine Strategie, wie eine Kompatibilität mit der vorhandenen Kfz-Welt und den anderen Verkehrsteilnehmern (Radfahrer, Fußgänger) hergestellt werden kann, ist längst nicht in Sicht – schon gar nicht, wenn das Ganze international funktionieren soll.
Vorteile durch autonomes Fahren
Eine Studie der RAND Corporation geht davon aus, dass die Vorteile, die autonome Fahrzeuge mit sich bringen, die möglichen Nachteile wahrscheinlich bei weitem übertreffen. Möglicherweise könnten durch die Technik bis zu 90 Prozent aller Unfälle verhindert werden. Das würde alleine für die USA eine volkswirtschaftliche Ersparnis von über 400 Milliarden US-Dollar bedeuten. Peter Fuß von der Unternehmensberatung Ernst & Young geht sogar davon aus, dass sich die Anzahl der Verkehrstoten auf null reduzieren lassen könnte.
Die Studie der RAND Corporation ist jedoch mit Vorsicht zu genießen. Denn wenn man weiß, dass RAND eine der einflussreichsten Denkfabriken in den USA ist (übrigens mit Standort in Berlin), dann könnte es sich bei der Studie um eine „Gefälligkeitsarbeit“ im Interesse der Autohersteller- und IT-Lobby mit eher geschönten Zahlen in deren Sinn handeln. Und die Ansicht des Ernst-&-Young-Vertreters gehört wohl eher in die Kategorie Wunschdenken.
Etwas realistischer geht Daniel Göhring von der Freien Universität (FU) Berlin an die Sache heran. Er untersuchte die Klimabilanz von selbstfahrenden Autos und schätzt ein, dass mit „Robotertaxis“ in der Stadt nur noch 20 Prozent der heutigen Autos benötigt würden. Zudem ließen sich die Abstände zwischen den Fahrzeugen verkürzen. Dies würde, laut Göhring, zu einer deutlichen Reduktion von Emissionen und Staus führen. Noch genauer nachgerechnet wurde in einer Studie des Lawrence Berkeley National Laboratory, einer Nobelpreisträger-Schmiede in der San-Francisco-Bay-Area. Danach würde ein autonomes, elektrisches Sharetaxi im Jahr 2030 etwa 90 Prozent weniger Kohlendioxid verursachen als ein heutiges Auto mit Verbrennungsmotor.
Ein Teil der Befürworter autonomer Fahrzeuge möchte diese vor allem im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) eingesetzt sehen. Ob als Ergänzung oder gar dessen Ersatz wird heftig diskutiert. Was den Einsatz auf dem Land und in zersiedelten Räumen sinnvoll machen würde (das autonome Rufsammeltaxi als Alternative zum schlecht ausgelasteten öffentlichen Linienbus), könnte sich in Ballungsgebieten und Innenstädten bei gut ausgebautem ÖPNV als Flop erweisen.
Einig ist man sich, dass selbstlenkende Fahrzeuge auch benachteiligten Bevölkerungsschichten, wie zum Beispiel älteren und behinderten Menschen, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. In autonomen Fahrzeugen können sich die Fahrer nach Eingabe der Zieldaten zudem mit anderen Dingen beschäftigen, beispielsweise lesen oder Arbeitsaufgaben erledigen.
Nachteile durch autonomes Fahren
Als mögliche Nachteile werden Unfälle durch nicht auszuschließende Softwarefehler sowie Unklarheiten bezüglich des Datenschutzes diskutiert. Und natürlich besteht die Gefahr cyberkrimineller Angriffe auf die autonom agierenden Einheiten. Die Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP) zweifelt in einer Stellungnahme zum automatisierten Fahren gar an, ob „die Zuverlässigkeit eines Menschen durch die einer Maschine ersetzt werden kann“.
Für die Software gilt in jedem Fall: Sie kann nur das, was Menschen vorher programmiert haben. Da kommt es dann – offenbar ein Grenzfall – schon mal vor, dass das System eines autonomen Tesla-Fahrzeugs einen Lkw-Anhänger nicht vom (Straßenland-)Hintergrund unterscheiden kann. So geschehen im Mai letzten Jahres und tragisch dabei: Der offenbar hilflose „Fahrer“ des Tesla kam dabei ums Leben. Generell gilt, dass autonome Systeme anfällig für Fehler sind: Softwaremängel wie oben beschrieben, eine unklare (Daten-)Sicherheitslage, defekte Sensoren, schlechte Wartung oder eben unvorhersehbare Situationen und Hindernisse. Mit anderen Worten: Das Unfallrisiko wird durch das Datenrisiko ausgetauscht.
Und auch hier, mit dem Datenschutz, gäbe es erhebliche Probleme. Ein selbstfahrendes Auto müsste schon deshalb alle relevanten Daten aufzeichnen, damit im Fall eines Unfalls der Nachweis des Verursachers möglich ist – technisches oder menschliches Versagen? Von dieser Datenflut wiederum ist es nicht weit bis zum „gläsernen Bürger“. Und wer trägt im Schadensfall die Verantwortung? Der Fahrzeughersteller, der Softwareproduzent oder doch der Fahrer, der zwar nicht am Steuer saß – oder vielleicht doch? Immerhin, 2015 hat die Allianz als erster deutscher Versicherer angekündigt, für autonome Fahrzeuge demnächst Tarife anzubieten.
Weitere Probleme autonomen Fahrens dürften ethischer Art sein – wenn beispielsweise in einer Gefahrensituation, bei der, egal wie die Kfz-Reaktion ausfällt, mit Unfallopfern zu rechnen ist (Dilemma-Situation), die einprogrammierte Software über den Unfallausgang und letztlich die Unfallopfer oder gar –toten entscheidet.
Aktuelle Entwicklung
Gegenwärtig tüfteln fast alle namhaften Kfz-Hersteller an autonomen Fahrzeugen. Den Anfang machte Google, der Konzern erwarb bereits im Mai 2012 in den USA die erste Zulassung für ein autonomes, auf öffentlichen Straßen einsetzbares Fahrzeug. Nach mittlerweile etlichen Tausend gefahrenen Kilometern und der gefühlt bevorstehenden Vermarktung des putzigen Gefährts rudert Google derzeit etwas zurück und will an den Kinderkrankheiten seines Cars arbeiten: an der zwar begrüßenswerten, aber wohl kaum vermarktbaren niedrigen Höchstgeschwindigkeit (40 km/h), an den Schwierigkeiten beim Einparken und an der begrenzten Einsatzmöglichkeit bei Regen und Schnee.
Nach Tesla Motors und der Daimler AG, die 2015 für zwei ihrer „Freightliner Inspiration Trucks“ eine Lizenz für den Straßenverkehr im US-Bundesstaat Nevada erhielt, ist der Entwicklungstrend nun auch in Deutschland angekommen. Das erste auf einer öffentlichen Straße fahrende teilautonome Kfz, ein seriennaher Lkw, fuhr am 2. Oktober 2015 mit Ausnahmegenehmigung auf der Bundesautobahn A8. Anderthalb Jahre später hat fast jede deutsche Automarke ihr selbstfahrendes Modell in den Startlöchern. So testet zum Beispiel Audi gegenwärtig seinen A7 in gleich zwei autonomen Varianten, und BMW schickt seine computergesteuerte Testflotte (50 Fahrzeuge) seit Jahresbeginn auf Auslandseinsatz durch Europa, Israel und die USA.
Das autonome Fahren ist zurzeit nur zu Testzwecken und mit Sondergenehmigung möglich. Was seine Weiterverbreitung bis hin zur Alltagstauglichkeit angeht, sind natürlich auch neue Gesetze und Verordnungen nötig. Ein diesbezüglich Ende letzten Jahres im Hauruck-Verfahren vom Bundestag verabschiedeter Änderungsentwurf zum Straßenverkehrsgesetz dürfte diesem Anliegen aufgrund vieler offener Fragen kaum genügen. Aber offenbar hat dieser „Schnellschuss“ wohl eher damit zu tun, dass sich die deutsche Autoindustrie – anders als beim Elektroauto – nicht schon wieder den Rang ablaufen lassen will.
Eine andere, nicht zu unterschätzende Hürde muss das autonome Fahren erst noch nehmen. Denn es ist fraglich, ob die potenziellen Fahrgäste diese Technik überhaupt wollen. Laut einer jüngsten Befragung der Zeitschrift AutoBild unter 4.029 Personen lehnt knapp die Hälfte (47 Prozent) autonom fahrende Fahrzeuge ab. Nur 36 Prozent würden dem Autopiloten die Verantwortung im Stau übergeben und lediglich 17 Prozent würden die Kontrolle in jeder Situation abgeben.
Und mit „freier Fahrt für freie Bürger“ wäre es dann ja wohl auch nichts mehr.
Jörg Parsiegla