Ganz Ost-Berlin eine Baulücke?

Aus DER RABE RALF Juni/Juli 2022, Seite 6

Auf zweifelhafter rechtlicher Grundlage darf im Osten Berlins ohne große Auflagen gebaut werden

Bebauung von Grün- und Sozialflächen auf Grundlage falscher Rechtsannahme? (Foto: Britta Krehl)

Alles Handeln der Verwaltung muss an Recht und Gesetz gebunden sein. Auch in Berlin. Doch seit November 2020 vermeiden die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und die Bezirksämter Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg, Lichtenberg, Pankow, Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick eine Überprüfung ihrer Annahme, die vielen Nachverdichtungen der zu DDR-Zeiten planvoll errichteten Wohnsiedlungen seien nach Paragraf 34 des Baugesetzbuchs zulässig, weil ganz Ost-Berlin planungsrechtlich als „unbeplanter Innenbereich“ der Stadt behandelt werden dürfe. Dagegen hat sich das Berliner Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung ausgesprochen und fragte im Januar in einem offenen Brief: „Haben Bürger im Osten Berlins weniger Rechte?“

Vorhanden, aber nicht existent

Was hat es mit dem Paragrafen 34 im Baugesetzbuch auf sich? „Dieser Paragraf ist kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt worden, um die entstandenen Baulücken zu schließen“, klärt das Bündnis auf. „Frei nach dem Motto: links ein Gründerzeithaus, rechts ein Gründerzeithaus, in der Mitte war mal ein Gründerzeithaus, das jetzt in Schutt und Asche liegt. Wer könnte was dagegen haben, wenn in dieser Lücke ein neues Haus entsteht, dass sich an die Gebäude links und rechts anpasst?“ Nun aber werde seit der Wende der ganze Osten Berlins als eine ebensolche Baulücke behandelt. Als „unbeplanter Innenbereich“, also ein Bereich in der Stadt, für den es nie vorher Planungen gegeben hat.

Es war zuerst Stadtbaudirektor Hans Stimmann, der zu Beginn der 1990er Jahre Berlins ganze Mitte zur Baulücke erklärte, um Grundstück für Grundstück an Investoren aus aller Welt preiszugeben. Dass die jetzigen Regierungsparteien diese rechtlich haltlose Auffassung ungleichen Bauplanungsrechts im Westen und Osten der Stadt zur Grundlage ihrer Bau-Klotz-Politik der Nachverdichtung machen, ist für das Bündnis ein Skandal: „Alle doch vorhandenen Planungen aus der Zeit vor der Wende, sei es aus DDR-Zeiten oder aus den Zeiten davor, werden als nicht gültig angesehen. Viele unserer Initiativen haben in den Berliner Archiven die Bebauungspläne ihrer Wohnanlagen gefunden, samt Mit-Planungen der Straßen und Wohnwege und der Grün- und Spielflächen.“ Das Bündnis ist der Auffassung, dass das Baugesetzbuch mit der Herstellung der deutschen Einheit im Oktober 1990 uneingeschränkt Geltung erlangt hat. Und dass genau deshalb alle früheren verbindlichen Bauleitplanungen auch im Osten Berlins gesetzlich übergeleitet worden sind.

Schnell und auflagenfrei bauen

Welchen Unterschied macht es heute, wenn anerkannt wird, dass die auf dem Gebiet der Stadtbezirke Ost-Berlins vor dem Beitritt zur Bundesrepublik und der Vereinigung zum Land Berlin ein Jahrhundert lang aufgestellten Bebauungspläne und festgelegten Baufluchtlinien uneingeschränkt Bestand haben?

Fünf Punkte wären zu nennen: Erstens entfällt der bisher zugebilligte Rechtsanspruch der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, der Genossenschaften und der Deutsche-Wohnen-und-Co-Giganten, die Eigentümer der großen Wohnsiedlungen geworden sind, auf eine schnelle und auflagenfreie Baugenehmigung nach Paragraf 34 Baugesetzbuch. Zweitens kann dann nur gebaut werden, wenn frühere Festlegungen aufgehoben oder geändert werden. Drittens sind an solchen Verfahren dann die Berliner Naturschutzverbände zu beteiligen. Viertens sind dann gesetzlich die Bezirksverordnetenversammlungen und die Öffentlichkeit zu beteiligen. Und fünftens ist die Mitwirkung der von Nachverdichtungen im Osten betroffenen Nachbarschaften nach den jeweiligen Partizipationsrichtlinien überhaupt erst dann eröffnet.

Unwissenschaftlicher Dienst

Inzwischen liegt eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vom 9. Februar 2022 vor, die auf 13 Seiten bestätigt, dass die Bauplanungs- und Zulassungsverordnung des Ministerrats der DDR, kurz BauZVO, ab dem 31. Juli 1990 in den Ost-Berliner Stadtbezirken keine Rechtskraft mehr entfalten konnte, weil die Verordnungsermächtigung des Kommunalverfassungsgesetzes durch das vorausgegangene Inkrafttreten der Ost-Berliner Verfassung entfallen war. Folglich wurde in den einstigen Stadtbezirken die Fortgeltung bestehender Pläne von keinem bestätigenden Beschluss der Stadtbezirke oder der Stadtverordnetenversammlung abhängig.

Im Fazit allerdings verwirft der Bearbeiter, ganz unwissenschaftlich spekulativ, seinen eigenen Befund, indem er schreibt: „Auch wenn das Gebiet des ehemaligen Ost-Berlins in rechtlicher Hinsicht besondere Probleme im Hinblick auf die Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der BauZVO aufwirft, dürften sich die rechtlichen Voraussetzungen einer Fortgeltung städtebaulicher Pläne als Bebauungspläne im Ergebnis wohl nicht von den Voraussetzungen in den übrigen sogenannten neuen Bundesländern unterscheiden.“ Richtig könnte der Schlusssatz lauten: Weil dem Erlass der BauZVO im Gebiet Ost-Berlins die Ermächtigungsgrundlage fehlte, unterscheiden sich die rechtlichen Voraussetzungen der Fortgeltung städtebaulicher Pläne als Bebauungspläne von denen in den neuen Bundesländern.

Kern der Rechtsstaatlichkeit

Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hatte noch am 6. September 2021 glattweg bestritten, dass der Wegfall der Verordnungsermächtigung des Kommunalverfassungsgesetzes eine Auswirkung auf die Geltung der BauZVO hatte, als sie dem Abgeordneten Michail Nelken (Linke) antwortete: „Die Tatsache, dass die Ostberliner Verfassung vor der BauZVO in Kraft trat, hatte keine Auswirkungen auf die Geltung der BauZVO der DDR in Ostberliner Stadtbezirken.“ Auf eine neuerliche Anfrage der CDU-Abgeordneten Danny Freymark und Alexander J. Hermann in diesem Jahr erklärte die Senatsverwaltung am 5. Mai, es sei unerheblich, ob die BauZVO in den Ostberliner Stadtbezirken in Kraft getreten ist.

Doch genau darauf kommt es an zur Beurteilung der Rechtslage 1990/91: War die BauZVO nicht in Kraft getreten, dann galt ab 3. Oktober 1990 im ganzen Land Berlin uneingeschränkt gleiches Bundes- und Landesrecht, nämlich das Baugesetzbuch und, aufgrund des Gesetzes über den Geltungsbereich des Berliner Landesrechts von 1990, auch das Berliner Ausführungsgesetz zum Baugesetzbuch. Das Berliner Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung erwartet zu Recht, dass der Senat sich nicht weiterhin über die Bindung der Berliner Bauverwaltungen an Recht und Gesetz hinwegsetzt. Diese Bindung ist Kern unseres Rechtsstaats. Verordnungen der Exekutive ohne Ermächtigung im Gesetz der Legislative hingegen sind charakteristisch für Unrechtsstaatlichkeiten.

Rettung für Baum- und Artenschutz

Das Berliner Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung hat deshalb mit seinem offenen Brief vom Januar und in einem ersten Gespräch mit Mitgliedern des Stadtentwicklungsaussschusses im April dieses Jahres gefordert, dass der Ausschuss eine Anhörung zur Rechtslage 1990/91 und heute anberaumt.

Mit Nachdruck verlangt das Bündnis zudem von Umweltsenatorin Bettina Jarasch (Grüne), dass ihre Senatsverwaltung als Obere Naturschutzbehörde die Unteren Naturschutzbehörden in den Bezirksämtern anweist, vorläufig keine Ausnahmegenehmigungen vom Baum- und Artenschutz mehr zu erteilen und bereits erteilte Entscheidungen auszusetzen. Denn jede Baumfällgenehmigung sei rechtswidrig, die sich auf die falsche planungsrechtliche Stellungnahme des Fachbereichs Stadtplanung bezieht, die Areale seien nach Paragraf 34 Baugesetzbuch bebaubar. Von Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) erwartet das Bündnis, die Kapazität ihrer Senatsverwaltung in die verfassungs- und bauplanungsrechtliche Prüfung der Rechtslage einzubringen.

„Denn jeder Bürger in Deutschland hat das gleiche Recht auf geordnete Planung seines Kiezes, seiner Stadt nach den vorhandenen Bedürfnissen“, so das Bündnis. „Mit gesetzlich festgeschriebener Bürgerbeteiligung, mit Umweltgutachten, Verkehrsgutachten, Gutachten über die grüne und soziale Infrastruktur des Kiezes und das Weiterentwickeln all dieser Strukturen“. Das gelte erst recht angesichts neuer Herausforderungen, wie sie Pandemie und Klimawandel mit sich bringen.

Susanne Willems

Weitere Informationen: www.nachhaltigestadtentwicklung.berlin

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