Der Fernverkehr – Stiefkind der DB AG

Aus DER RABE RALF April/Mai 2020, Seite 3

Was die Misere im Schienenverkehr mit der Bahnreform vor 25 Jahren zu tun hat

Bistrowagen im Interregio, 1990er Jahre. (Foto: Simon P. Smiler/​Wikimedia Commons)

Während der Vorbereitungen zur Bahnreform vor 25 Jahren gab es Prognosen der Bundesregierung, die eine Steigerung des Verkehrsvolumens der DB im Fernverkehr um 49 Prozent bis zum Jahr 2006 in Aussicht stellten. Tatsächlich jedoch gingen die verkauften Leistungen der Bahn nach der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft zurück.

Vor allem die Vertreter der Bundesländer sahen die sich abzeichnenden Probleme damals realistischer. Die Länder sorgten dafür, dass das Grundgesetz im Zuge der Bahnreform um den Artikel 83e ergänzt wurde, der die Bundesregierung zu einer Politik verpflichtet, mit der „dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.“

Viele Städte abgehängt

Im Grundgesetz wird damit klar gefordert, dass die Bundesregierung dafür Sorge trägt, dass die DB AG dem Wohl der Allgemeinheit dienende Fernverkehrsverbindungen anbietet, und dies in einem Gesetz regelt. So steht es seit mehr als zwei Jahrzehnten im Grundgesetz! Die Realität zeigt das krasse Gegenteil: eine grundgesetzwidrige Reduktion der Fernverkehrslinien, die zahlreiche Großstädte und Oberzentren von jeglichem Schienenpersonenfernverkehr abgeschnitten hat – Chemnitz, Bremerhaven, Leverkusen oder Offenbach sind nur einige der größten darunter.

Die Folgen sind in mehrfacher Hinsicht gravierend:

  • Während Berlin, München, Frankfurt am Main, Hamburg und andere boomende Regionen mehr Verbindungen erhielten, verloren vor allem die strukturschwachen Gebiete ihre Fernbahnverbindungen. Etwa 220 Bahnhöfe wurden vom Fernverkehr abgehängt. Das im Personenfernverkehr bediente Netz wurde – trotz der etwa 500 Kilometer Neubaustrecken – um 3.200 Kilometer reduziert. Rund 5,5 Millionen Bürger verloren ihren Anschluss an den Fernverkehr.
  • Die betroffenen Länder mussten mit den zuvor gesetzlich geregelten Bundesleistungen entsprechende Ersatzzüge des Nahverkehrs bestellen, ohne dafür mehr Bundesmittel zu erhalten. Damit reduzierten sich ihre Nahverkehrsleistungen in anderen Regionen.
  • Die prognostizierten Steigerungen im Fernverkehr, befeuert durch Milliarden-Investitionen des Bundes in Neubaustrecken, wurden verfehlt, weil der Mehrverkehr auf den Neubaustrecken weitgehend durch Verluste im Interregio- und Intercity-Verkehr aufgefressen wurde.
  • Die durchaus nennenswerten Zuwächse im Schienenpersonennahverkehr stammen teilweise aus Verlagerungen des reduzierten Fernverkehrs, sind also gar keine Zuwächse auf der Schiene.

Massive Enttäuschungen

Über die Ursachen dieses beispiellosen Abbaus von Bahnleistungen lässt sich trefflich streiten:

  • Sind es die relativ hohen Fahrpreise, bedingt durch politische Steuerauflagen und überhöhte, weil gewinnerzeugende Infrastrukturgebühren?
  • Ist es der Abbau von umsteigefreien Fernverbindungen (wie sie im Interregio-Netz angeboten waren), der die älter werdende Bevölkerung vom Bahnreisen abhält?
  • Liegt es am Verfall der Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit der Bahn?
  • Oder auch an der Reduktion von Service und Reisekultur?

Alle diese Entwicklungen zusammen haben massive Enttäuschungen verursacht – und das, wo doch die „Behörde“ DB gerade deshalb in eine AG umgewandelt wurde, um mehr Nutzen für die Kunden zu schaffen!

Erst im Jahr 2009 brachte der Bundesrat schließlich einen Gesetzentwurf in den Bundestag ein, der die grundgesetzwidrige Fehlentwicklung umkehren sollte. Darin war gefordert, jedes Oberzentrum mit mehr als 50.000 Einwohnern mindestens sechsmal täglich in beiden Richtungen zu bedienen. Seinerzeit wurden – vor allem durch den Abbau des Interregio-Systems – nur zwei Drittel dieser Orte bedient.

Erster Gesetzentwurf versandet

Der Verfasser zeigte in einem Gutachten für den Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestags mit dem Entwurf eines entsprechenden Liniensystems, dass mit acht neuen Linien und sieben Linienverlängerungen der Forderung des Gesetzentwurfs gut Rechnung getragen werden könnte. Dafür müssten fast 20.000 Zugkilometer geleistet werden, bei denen ein voraussichtliches Defizit von 70 Millionen Euro pro Jahr zu erwarten wäre. Das geschätzte Investitionsvolumen zur Beschaffung der notwendigen Züge belief sich auf 300 Millionen Euro: Beträge, die wahrhaftig nicht den Bundeshaushalt gefährden können.

Das Gesetz scheiterte. Es gab viele Proteste, doch die DB reduzierte den Fernverkehr ungehindert weiter und beseitigte schließlich auch wichtige Fern- und Nachtzüge in die Nachbarländer. Die Länder beschwerten sich über die unzureichenden Bundesmittel für den Nahverkehr … Doch außer Klagen und Polemik geschah wieder jahrelang nichts, um dem Grundgesetz Geltung zu verschaffen und eine angemessene Erschließung des Landes sicherzustellen.

Neuer Gesetzentwurf wird sabotiert

Auf Initiative des Landes Rheinland-Pfalz beschloss der Bundesrat am 17. Februar 2017 einen neuen Gesetzentwurf. Er sieht vor, dass die Bundesregierung einen Schienenpersonenfernverkehrsplan erstellt und mit den Bundesländern abstimmt. Dabei sollen die Oberzentren mindestens siebenmal täglich im Fernverkehr bedient und somit auch strukturschwächere Regionen erschlossen werden.

Keine sechs Wochen später entgegnete die Bundesregierung, sie erfülle die Gemeinwohlverpflichtung des Grundgesetzes durch die Finanzierung des Ausbaus der Schienenwege. Seither verweigert sie die Beratung dieses Gesetzentwurfs im Bundestag.

Ist dies ein weiterer Verstoß gegen die Verfassung, indem die Exekutive, die Bundesregierung, einem verfassungsgemäßen Organ der Legislative, dem Bundesrat, die Einbringung eines Gesetzentwurfs verweigert? Der Verfasser schrieb deswegen an den Bundesverkehrsminister und erhielt die Antwort, die Bundesregierung lasse ja den „Deutschlandtakt“ entwerfen.

Dies ist tatsächlich der Fall, allerdings stehen darin zahlreiche Fernverkehrslinien, von denen niemand weiß, ob, wann und von wem sie wirklich gefahren werden. Denn die Rechtsform der Aktiengesellschaft verbietet der DB Fernverkehr AG Geschäfte, die finanzielle Verluste verursachen: Damit würden sich die Vorstände der Veruntreuung schuldig machen!

Schreiben an die Abgeordneten des Bundestages erbrachten nur automatische Eingangsbestätigungen.

Für den Fernverkehr auf der Schiene gibt es daher nur schön-farbige Linienpläne auf Papier und im Internet. Was von ihnen tatsächlich Realität wird und wann, steht in den Sternen. Ebenso wenig verbindlich sind alle Erklärungen, man wolle die Fahrgastzahlen auf der Schiene verdoppeln.

Karl-Dieter Bodack

 

Der Autor ist Ingenieur und Designer und war in Führungspositionen bei der Bahn sowie als Professor für Integriertes Produktdesign an der Hochschule Coburg tätig. Bekannt wurde er als „Vater“ der von 1988 bis 2006 fahrenden beliebten Interregio-Züge.

Zum Weiterlesen:

Karl-Dieter Bodack: Ein Leben mit Spuren
Als Anthroposoph bei der Deutschen Bahn

Info3 Verlag, Frankfurt am Main 2019
336 Seiten, 144 Abbildungen, 24 Euro
ISBN 978-3-95779-103-0


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