Die Würde bei der Wurzel packen

Aus DER RABE RALF August/September 2019, S. 22/23

Vor Gericht haben Bäume oder Flüsse keine Rechte. Doch einige Staaten haben damit begonnen, das zu ändern.

Diese beiden Riesenmammutbäume sind etwa zweitausend Jahre alt. (Foto: Aron Levin/​Wikipedia)

Die moderne Pflanzenethik begann, als Micky Maus die Mammutbäume fällen wollte. Ende der 1960er Jahre plante die Walt Disney Company, mitten im kalifornischen Sequoia National Park ein riesiges Skiresort zu errichten. Das „American Alpine Wonderland“ sollte über diverse Skipisten mit 22 Liften und ein fünfgeschossiges Hotel verfügen. Für die jährlich erwarteten 1,7 Millionen Gäste wollte Disney obendrein eine Autobahn durch den Nationalpark bauen, woraufhin die Naturschutzorganisation Sierra Club eine Klage einreichte, die der Oberste Gerichtshof dann 1972 ablehnte. Eine juristische Niederlage, aber ein moralischer Sieg: Der öffentliche Protest zwang den US-Kongress 1978, das Vorhaben zu stoppen.

Damals ahnte kaum jemand, wie sehr dieser Gerichtsprozess die moderne Pflanzenethik beeinflussen sollte: In seinem bahnbrechenden Artikel „Should Trees Have Standing?“ (Sollten Bäume Klagerecht haben?) schlug der Philosoph und Jurist Christopher Stone 1972 vor, dass Bäume und andere Bestandteile von Ökosystemen denselben Rechtsstatus erhalten sollen, wie ihn auch „interessenlose“ Unternehmen und juristische Personen genießen. Einer der verantwortlichen Bundesrichter, William O. Douglas, schloss sich Stones Argumentation an und sagte 1972 wegweisende Worte vor Gericht:

„Ein Schiff ist eine juristische Person, eine Fiktion, die hilfreich ist für maritime Rechtsfragen. Jeder gewöhnliche Konzern wird vor Gericht der Einfachheit halber als ‚Person‘ behandelt. Dasselbe sollte gelten für Täler, Alpenwiesen, Flüsse, Seen, Meeresmündungen, Strände, Bergkämme, Wälder, Sumpfgebiete und sogar für die Luft – sie alle stehen unter dem zerstörerischen Druck der modernen Technologie und des modernen Lebens. Vielleicht werden die Bulldozer des ‚Fortschritts‘ bald alle ästhetischen Wunder dieses wunderschönen Landes umpflügen. Die einzige Frage lautet: Wer hat ein Recht darauf, zu klagen und gehört zu werden?“

1969: Kalifornische Umweltschützer laden zur Informations- und Protestwanderung im geschützten Mineral King Valley ein, wo der Disney-Konzern ein Mega-Skigebiet plant. Der Fall wird zum Meilenstein für die Pflanzenethik. (Bild: Sierra Club/​University of Southern California)

Das Recht zu existieren und zu gedeihen

Die Einwohner von Tamaqua, einer kleinen Stadt im US-Bundesstaat Pennsylvania, haben diese Frage 2006 beantwortet. Damals wollte ein ansässiger Kohlekonzern hochgiftigen Klärschlamm in einer stillgelegten Grube verklappen. Der Kommune waren juristisch zunächst die Hände gebunden, bis sie ein Gesetz erließ, das die „Rechte der Natur, zu existieren und zu gedeihen“ schützt. Ein weltweiter Präzedenzfall, an dem federführend die Rechtsanwälte des Community Environmental Legal Defense Fund (CELDF) beteiligt waren.

Die Verklappung des Klärschlamms konnte juristisch ebenso verhindert werden wie 2010 der Bau einer Fracking-Anlage in Pittsburgh, wie die Anwälte erklären: „Wenn Kommunen die Rechte der Natur verbriefen – wie das in den USA bereits über 35 Kommunen getan haben –, dann können sie im Namen der Natur die Regierung oder Firmen bei Umweltzerstörungen verklagen oder gleich von vornherein bestimmte Bauvorhaben und Rodungen stoppen.“

Erhalten Ökosysteme den Status von juristischen Personen, sind sie vor Gericht geschäftsfähig und werden von einer konkreten Person vertreten. Es verhält sich wie mit Kindern: Sie haben Interessen, können diese aber vor Gericht nicht immer artikulieren, weshalb sie einen Vormund brauchen.

Der Amazonas – eine juristische Person

Zwei Jahre später wirkten die Anwälte des CELDF an der Überarbeitung der ecuadorianischen Verfassung mit: Ecuador war 2008 der erste Staat weltweit, der die Rechte der Natur schützt: „Die Natur oder Pachamama (‚Mutter Erde‘), in der sich das Leben verwirklicht und realisiert, hat das Recht, in ihrer gesamten Existenz respektiert zu werden, wie auch in der Erhaltung und Wiederherstellung ihrer Lebenszyklen, Strukturen, Funktionen und Evolutionsprozesse. Jede Person, Gemeinschaft oder Nation kann die zuständige öffentliche Autorität dazu auffordern, die Rechte der Natur zu vollstrecken“. Mithilfe dieser Gesetze klagten indigene Gemeinschaften erfolgreich gegen die Regierung, die chinesischen Konzernen den Bau von Goldminen erlaubt hatte.

Anschließend verabschiedeten Bolivien und Kolumbien vergleichbare Verfassungsänderungen, und seit April 2018 besitzt das kolumbianische Amazonasgebiet dieselben Rechte wie eine juristische Person. Den gleichen Status erhielten in den letzten Jahren auch die Flora und Fauna in Bolivien, der nordamerikanische Eriesee – der elftgrößte See der Welt – sowie der Fluss Whanganui in Neuseeland. Der Whanganui ist für die Maori, aber auch für das Ökosystem von großer Bedeutung. „In den vergangenen hundert Jahren herrschte die Ansicht vor, dass man den Fluss besitzen und managen kann“, sagt Gerrard Albert, der Sprecher der Maori, „aber wir sind nicht Herrscher über die Natur, sondern ein Teil von ihr.“

In vielen Fällen reicht es nicht aus, lediglich Naturschutzgebiete auszuweisen. Erstens kann dieser Schutzstatus, wie unter Donald Trump und Jair Bolsonaro jüngst geschehen, allzu schnell wieder aufgehoben werden. Zweitens schützen solche Gebiete nicht primär das Leben eines Ökosystems um seiner selbst willen. Vielmehr erlassen wir damit opportunistische Gesetze, um unser Fortleben und unsere Vorstellung von Naturästhetik zu wahren. Dementsprechend kritisieren die Anwälte des CELDF, „dass die meisten gegenwärtigen Rechtssysteme die Natur als bloßes Eigentum betrachten, das man auch schädigen dürfe. Die aktuellen Gesetze schützen nicht wirklich, sie regulieren lediglich, wie viel Verschmutzung oder Naturzerstörung erlaubt ist. Wenn wir aber von den Rechten der Natur sprechen, dann erlangen Ökosysteme ein unabhängiges und unveräußerliches Recht, zu existieren und zu gedeihen.“

Der Eigenwert der Natur

Die Schweizer Bundesverfassung geht einen ähnlichen Weg und „trägt der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt“. Die Schweiz ist seit 1999 der einzige Staat weltweit, der explizit allen Lebewesen eine Würde zuspricht und damit die Rechte der Natur präzisiert. Die Formulierung „Würde der Kreatur“ stammt übrigens aus der Feder des dänischen Theologen Lauritz Smith, der bereits 1789 erklärte: „Jedes lebendige Wesen ist zunächst und unmittelbar seiner selbst wegen da und um durch sein Dasein Glückseligkeit zu genießen.“

Aber was heißt das überhaupt: Würde? In der Philosophie unterscheidet man zwischen Dingen, die einen Preis, und solchen, die einen Wert haben. Eine Zahnbürste oder ein Autoreifen sind austauschbar und haben einen Preis, der sich in Euro beziffern lässt. Ein Lebewesen hingegen hat keinen Preis, sondern einen Wert: Seine einmalige Existenz lässt sich durch nichts in der Welt ersetzen, und deshalb hat es ein gegen nichts abzuwägendes Recht, als Individuum zu existieren. Dementsprechend definiert die Schweizer Verfassung die Würde als „Eigenwert“.

Hans Jonas, dessen Philosophie großen Einfluss auf die Schweizer Verfassung hatte, schrieb bereits 1979 in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ der gesamten Natur einen Eigenwert zu: „Jetzt beansprucht die gesamte Biosphäre des Planeten mit all ihrer Fülle von Arten, in ihrer neu enthüllten Verletzlichkeit gegenüber den exzessiven Eingriffen des Menschen ihren Anteil an der Achtung, die allem gebührt, das seinen Zweck in sich selbst trägt – das heißt allem Lebendigen.“

Willkürliche Schädigung ist moralisch unzulässig

Nach dem Desaster des Zweiten Weltkriegs wurde 1948 die Menschenwürde in der UN-Charta verankert. Mitte der 1970er etablierte sich nach dem gleichnamigen Buch des umstrittenen Philosophen Peter Singer die „Animal Liberation“, und mit ihr wurde schrittweise die Tierwürde institutionalisiert. Vielleicht ist die Pflanzenwürde nur die logische Konsequenz einer Ausweitung des Würde-Begriffs.

Wie aber lässt sich eine praktikable Pflanzenethik formulieren? Schließlich müssen wir Bäume fällen, um Papier zu haben, und vor allem müssen wir Obst und Gemüse ernten, um zu überleben. Pflanzen sind modular aufgebaut: Sie haben kein Herz, keinen Magen und vor allem kein zentrales Nervensystem, mittels dessen sie Schmerzen empfinden oder Zukunftspläne schmieden können. Der Weizen leidet nicht, wenn wir ihm einen Halm krümmen. Deshalb macht es ethisch einen himmelweiten Unterschied, ob wir einen Wirsing ernten, ein Schwein schlachten oder einen Menschen töten.

Die meisten Pflanzenethiker plädieren heute für einen hierarchischen Biozentrismus: Demzufolge „verdienen alle Lebewesen zwar moralischen Respekt, aber nicht alle Lebewesen gleichrangig“, so die Ethikkommission der Schweiz, die zugleich betont, „dass die Würde der Kreatur kei­nen absoluten Wert darstellt, sondern einer Güterabwägung zugänglich ist. Das heißt, die Güter oder ‚Interessen‘ von Pflanzen sind gegen Interessen oder Güter anderer Lebewesen abzuwägen.“ Diese Abwägung ist allerdings nicht beliebig. Die Kommission betont, „dass eine willkürliche Schädigung von Pflanzen moralisch unzulässig ist“. Das gilt insbesondere für unwiederbringliche Pflanzenkollektive: Wer Zuckerschoten erntet und verzehrt, ist also kein Verbrecher. Wer den Regenwald oder eine alte Baumallee abholzt, allerdings schon.

In Deutschland ist jede dritte Wildpflanzenart in ihrem Bestand gefährdet. In den letzten 150 Jahren sind hierzulande bereits 119 Pflanzenarten ausgestorben. Jeden Tag werden in Deutschland 62 Hektar Land versiegelt, die grüne Flora verschwindet unter grauem Asphalt. Könnte die Natur sprechen, hätte sie schon längst Anzeige erstattet – und auch gegen Agrar- und Pharmakonzerne geklagt, die die DNA von Pflanzen privatisieren. 2016 haben sich die Bierkonzerne Carlsberg und Heineken mehrere Patente auf konventionell gezüchtete Gerste gesichert. Das Europäische Patentamt hat in den letzten zehn Jahren über 3000 solcher Pflanzenpatente vergeben. Hier wird der Eigenwert der Pflanzen zum bloßen Preis degradiert. Das trifft auch auf genmanipulierte Pflanzen wie Mais oder Soja zu: Einerseits birgt die veränderte Pflanzen-DNA unkalkulierbare Gesundheitsrisiken für Tier und Mensch. Andererseits verletzt sie das Recht der Pflanzen auf ein natürliches Gedeihen.

Der Pflanzenneurobiologe Stefano Mancuso zeigt in seinem Buch „Die Intelligenz der Pflanzen“, dass Pflanzen zwar nicht willentlich handeln, aber ihre Umwelt wahrnehmen und gegen die Negation ihrer Existenz streben. „Wenn wir die Rechte von Pflanzen akzeptieren“, sagt Mancuso, „dann dürfen wir den Regenwald nicht einfach dem Erdboden gleichmachen. Und deshalb halte ich die Anerkennung und Festschreibung dieser Rechte für einen ganz wichtigen Schritt – nur so können wir unseren Untergang abwenden. Wenn wir heute eine Diskussion über Pflanzenrechte initiieren, dann werden wir, mit ein bisschen Glück und gutem Willen, vielleicht zur Jahrhundertmitte erste Ergebnisse sehen.“

Immerhin entfallen mit 450 Gigatonnen über vier Fünftel der irdischen Biomasse allein auf die Pflanzen, ohne deren Existenz die gesamte Nahrungskette und Sauerstoffversorgung zusammenbrechen würde. Doch die Hackordnung ist klar: hier das handelnde Subjekt Mensch, dort das zu verwaltende Objekt Natur. In der jüdisch-christlichen Ideengeschichte und im kapitalistischen Wirtschaftssystem versteht sich der Mensch als reiner Sachverwalter und Eigentümer der Biosphäre. „Wäre die Natur eine Bank, man hätte sie längst gerettet“, kommentierte Eduardo Galeano dieses Missverhältnis. Doch der Paradigmenwechsel treibt bereits erste kleine Blüten.

Patrick Spät

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