Die Zukunft der Berliner S-Bahn

Aus DER RABE RALF Oktober/November 2020, Seite 1

Ist die geplante Ausschreibung und Aufteilung rechtlich notwendig, ökonomisch sinnvoll und politisch alternativlos?

Die S-Bahn bildet das Rückgrat des Berliner Verkehrs. (Foto: Hugh Llewelyn/Flickr, CC BY-SA 2.0)

Die Länder Berlin und Brandenburg planen derzeit eine Ausschreibung zweier Teilnetze der Berliner S-Bahn, die zu einer Aufteilung der Zuständigkeiten für das System auf mehr als fünf Unternehmen führen könnte.

Das System S-Bahn Berlin

Anders als U-Bahnen sind die meisten S-Bahnen in Deutschland und so auch die Berliner S-Bahn rechtlich gesehen Eisenbahnen, für die die Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung gilt. Bis heute verlaufen die meisten Strecken der Berliner S-Bahn parallel zu (heute teilweise stillgelegten) Strecken für Regional- und Fernzüge. Allerdings gibt es bis auf wenige Stationen keinen Mischbetrieb, so dass die S-Bahn Berlin ein vom restlichen Eisenbahnnetz weitgehend unabhängiges System ist.

Technisch gesehen weist die S-Bahn Berlin einige Besonderheiten gegenüber der restlichen Eisenbahninfrastruktur auf. Statt mit Wechselstrom aus einer Oberleitung werden die Berliner S-Bahn-Züge mit Gleichstrom aus einer Stromschiene versorgt. Zudem gibt es eigene Zugsicherungssysteme und besondere Fahrzeugabmessungen. Schließlich sind die Bahnsteige mit mindestens 96 Zentimetern höher als bei Regional- und Fernbahnen. Aus diesen Gründen eignen sich normale Regionalzüge nicht zum Einsatz auf S-Bahn-Linien. Somit führte die S-Bahn-Krise ab dem Jahr 2009, bei der wegen vernachlässigter Wartung viele Fahrzeuge ausfielen, unmittelbar zu drastischen Betriebseinschränkungen.

Die Berliner S-Bahn bedient hauptsächlich den Stadt- und Vorortverkehr. Zusammen mit der U-Bahn, zu der an vielen Stationen umgestiegen werden kann, bildet sie das Schnellbahnnetz und damit das Rückgrat des Metropolenverkehrs.

Organisation des Bahnregionalverkehrs in Deutschland

Seit der Bahnreform vor 25 Jahren lässt sich die Finanzierung des Regionalzug- und S-Bahn-Verkehrs stark vereinfacht als Kreislauf beschreiben. Der Bund stellt Regionalisierungsmittel für die Länder bereit. Die Länder beziehungsweise deren Verkehrsverbünde können diese Mittel eigenverantwortlich ausgeben. Sie vergeben die Verkehrsleistungen an ein Verkehrsunternehmen, das dafür sogenannte Kilometerpreise erhält. In der Regel ist nur etwa die Hälfte der Kosten über die Ticketeinnahmen gedeckt, der Rest stammt aus Landes- oder Bundesmitteln. Ebenfalls etwa die Hälfte der Kosten fließt vom Verkehrsunternehmen als Trassen- und Stationsentgelte weiter an die Infrastrukturunternehmen. Die Infrastruktur gehört weitgehend zur Deutschen Bahn (DB), die als Aktiengesellschaft im Besitz des Bundes eine Dividende zurück in den Bundeshaushalt zahlt. Die Gewinne der DB werden teilweise in die Infrastruktur reinvestiert.

Organisation des Nahverkehrs in Berlin

Das Netz der Berliner S-Bahn befindet sich größtenteils in Berlin und nur zu einem kleinen Teil in Brandenburg. Zuständig für die Planung und Bestellung des Regionalzug- und S-Bahn-Verkehrs ist der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB).

Während U-Bahnen, Straßenbahnen und Busse in Berlin von den landeseigenen Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) betrieben werden, ist das bei der S-Bahn traditionell (mit Ausnahme der West-Berliner S-Bahn von 1984 bis 1994) nicht der Fall. 1995 entstand im Rahmen der Bahnreform die S-Bahn Berlin GmbH als 100-prozentige Tochter der DB, die derzeit das einzige Verkehrsunternehmen auf dem S-Bahn-Netz ist. Für die Netzinfrastruktur sind hingegen die Infrastrukturtöchter des DB-Konzerns zuständig, vor allem die DB Netz.

Deutsches Eisenbahnrecht

Für die Vergabe an ein Verkehrsunternehmen gilt Paragraf 131 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Erlaubt sind danach entweder Ausschreibungen oder sogenannte Inhouse-Vergaben an einen internen Betreiber, auf den ein „beherrschender Einfluss“ ausgeübt wird, das heißt mindestens 51 Prozent der Anteile müssen im Besitz der Vergabebehörde sein. Normalerweise nicht zulässig sind Direktvergaben an ein externes Unternehmen, wozu auch die bundeseigene DB zählt, was der Bundesgerichtshof 2011 in einem Urteil bestätigt hat.

Für die Schnittstelle zwischen Verkehrsunternehmen und Infrastrukturunternehmen gilt das Eisenbahnregulierungsgesetz. Dieses regelt unter anderem die organisatorische Trennung von Netz und Betrieb, den freien Netzzugang sowie die Trassen- und Stationsentgelte.

Europäisches Eisenbahnrecht

Für die Vergabe an ein Verkehrsunternehmen sieht die EU-Verordnung 1370/2007 in Artikel 5 neben Ausschreibungen und Inhouse-Vergaben auch Direktvergaben an externe Betreiber vor, wenn nationales Recht dem nicht entgegensteht und weitere Bedingungen erfüllt sind. Beispielsweise könnte für die S-Bahn Berlin wegen des unabhängigen Netzes eine Ausnahme beantragt werden.

An der Schnittstelle zwischen Verkehrsunternehmen und Infrastrukturunternehmen erlaubt die EU-Richtlinie 2012/34/EU ebenfalls Ausnahmen für unabhängige Netze.

Die Pflicht zu Ausschreibungen und zur Trennung von Netz und Betrieb ist also zumindest im Falle der Berliner S-Bahn nicht auf europäisches Wettbewerbsrecht, sondern auf deutsches Wettbewerbsrecht zurückzuführen, das hier das europäische Recht verschärft.

Stromschiene, hohe Bahnsteige, metroähnliche Fahrzeuge, städtisches Umfeld – das ist die Berliner S-Bahn. (Foto: Felix Thoma)

Geplante Ausschreibung

Zur Beantwortung der Frage, welches das am besten geeignete Vergabemodell für die S-Bahn Berlin ist, sind verschiedene Interessen zu berücksichtigen.

Aus Sicht des Landes sollte die Verkehrsleistung zu möglichst geringen Kosten angeboten werden, wozu sowohl überhöhte Monopolpreise als auch innerbetriebliche Schnittstellen zu vermeiden sind.

Aus Sicht der Beschäftigten sollte möglichst vielen Berufsgruppen eine Weiterbeschäftigung bei einem eventuellen neuen Betreiber zu den bisherigen Konditionen angeboten werden. Eine solche Regelung ist allerdings noch keine Garantie, dass die Beschäftigten auch tatsächlich aus dem DB-Konzern zu einem Konkurrenten wechseln und somit die Fachkompetenz für das technisch besondere System der Berliner S-Bahn erhalten bleibt, was somit ein zusätzliches Ziel darstellt. Schließlich ist gute Zusammenarbeit für einen stabilen täglichen Betrieb und für zukünftige Innovationen von großer Bedeutung.

Im Sinne des Gemeinwohls sollte ein Kompromiss oder gar Konsens zwischen den verschiedenen Interessen angestrebt werden, was Gespräche zwischen den jeweiligen Interessensvertretern voraussetzt.

Zentraler Zielkonflikt

Die verschiedenen Interessen lassen sich zu zwei politischen Strömungen zusammenfassen, die in einem gewissen Konflikt zueinander stehen, welcher eine einvernehmliche Lösung bislang verhindert.

Einerseits gibt es – vor allem bei den Beschäftigten der S-Bahn Berlin GmbH – das Interesse an einem möglichst integrierten System S-Bahn, mit Netz, Betrieb und Instandhaltung der verschiedenen Teilnetze unter einem Dach. Damit sollen Koordinationsprobleme und Schnittstellenkosten vermieden werden. In der Berliner Landespolitik verteidigen vor allem CDU, SPD und Linke das integrierte System.

Andererseits gibt es – vor allem bei den Ländern – das Interesse an einer möglichst geringen Abhängigkeit von der DB beziehungsweise einer besseren Verhandlungsposition. Damit sollen eine Wiederholung der Krise von 2009 und Monopolpreise vermieden werden. In der Berliner Landespolitik vertreten insbesondere Grüne, SPD und Linke das Langziel einer ländereigenen S-Bahn. Im Vergleich zu SPD und Linken sind die Grünen allerdings eher bereit, auf dem Weg zu einem stärkeren Landeseinfluss auch eine zumindest zeitweise Aufteilung des integrierten Betriebs in Kauf zu nehmen.

Aktuelle Ausschreibungsmodelle

Ungefähr seit der S-Bahn-Krise im Jahr 2009 und dem Urteil des Bundesgerichtshofs im Jahr 2011 wird über rechtmäßige Alternativen zur bisherigen Direktvergabe an die S-Bahn Berlin GmbH diskutiert. Da die DB mehrfach einen Verkauf der S-Bahn abgelehnt hat und die Länder den Aufbau eines internen Betreibers (zum Beispiel als Abteilung der BVG) scheuten, entschieden sich Berlin und Brandenburg für eine Ausschreibung. Da das Gesamtnetz zu groß für eine Vergabe wäre, wurden die Linien in drei Teilnetze Ost-West (Stadtbahn), Nord-Süd und Ring aufgeteilt, die jeweils auf einer weitgehend, aber nicht vollständig getrennten Infrastruktur verkehren.

Unter der schwarz-roten Koalition von 2011 bis 2016 wurde die Ausschreibung des Teilnetzes Ring für einen Zeitraum von 15 Jahren ab 2021 durchgeführt. Vermutlich wegen der hohen Komplexität des Auftrags durch die mitzubringenden Neufahrzeuge und der zahlreichen Nebenbedingungen blieb am Ende nur die DB als Bieter übrig. Dass die S-Bahn damit bis heute von einem einzigen Unternehmen betrieben wird, liegt durchaus im Interesse der damaligen Koalitionsparteien. Allerdings wurden die gestiegenen Kilometerpreise besonders von den damals oppositionellen Grünen als Monopolpreise interpretiert, wobei jedoch auch andere Erklärungen wie zum Beispiel Investitionen in Neufahrzeuge plausibel erscheinen.

Unter der rot-rot-grünen Koalition seit 2016 wird derzeit die Ausschreibung der Teilnetze Stadtbahn und Nord-Süd für den ungefähren (je nach Linie etwas verschiedenen) Zeitraum zwischen 2030 und 2045 eingeleitet. Um im Vergleich zum vorherigen Verfahren die Abhängigkeit von der DB zu verringern und den Landeseinfluss zu erhöhen, sind die beiden Teilnetze nun zusätzlich in jeweils zwei getrennte Leistungen, sogenannte Fachlose, aufgeteilt: den Betrieb sowie die Beschaffung und Instandhaltung der vom Land bezahlten Fahrzeuge in den bestehenden oder neuen Werkstätten. In diesem sogenannten Kombinationsverfahren sind Gebote für einzelne oder mehrere Teilnetze und Fachlose möglich – ein Vergleich der vielen möglichen Kombinationen ist bei diesem neuartigen Verfahren jedoch äußerst komplex.

Die S-Bahn ist durch nichts zu ersetzen. (Foto: Betexion/​Pixabay)

Mögliche Alternativen

Für einen Konsens wäre es sinnvoll, nicht eines der Ziele auf Kosten des anderen, sondern beide Ziele anzustreben, also eine möglichst integrierte und landeseigene S-Bahn.

Zur Vergabe von Betrieb und Instandhaltung könnte der Paragraf 131 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen an die EU-Verordnung 1370/2007 angepasst werden, so dass eine Direktvergabe an einen externen Betreiber für unabhängige S-Bahn-Netze wie in Berlin möglich wäre. Für eine rechtliche Änderung bestünde ausreichend Zeit bis 2025, wenn der aktuelle Vertrag für die erste Linie abläuft. Eine Direktvergabe an die bundeseigene S-Bahn Berlin GmbH könnte aber als Rückschritt in die Zeit vor der Krise gewertet werden. Ein anderes Problem ist, dass mit einer solchen Gesetzesänderung eine Direktvergabe an einen willkürlich ausgewählten Konkurrenten möglich wäre.

Ein gemeinsames Unternehmen der Länder Berlin und Brandenburg sowie der bundeseigenen DB für den Betrieb der Berliner S-Bahn hätte Vorteile für beide Seiten. Gegenüber einem vollständigen Kauf würden die Länder den halben Kaufpreis sparen. Die restliche Hälfte wäre zum Teil durch die ohnehin eingeplanten Mittel für die landeseigenen Fahrzeuge und Werkstätten abgedeckt. Die Länder hätten als Gesellschafter eine Kontrolle über das Unternehmen und ein Anrecht auf die Hälfte der Gewinne. Die S-Bahn bliebe aber Teil des DB-Konzerns, was die Konzernvorteile der Mitarbeiter wahren und die Finanzierung und Beschaffung großer Investitionen vereinfachen könnte. Die DB würde im Gegenzug zu den abgegebenen Anteilen einen sicheren Zuschlag erhalten, womit die schrumpfenden Marktanteile des Konzerns stabilisiert werden könnten. Selbst eine auf Gewinnmaximierung ausgerichtete DB könnte also ein Interesse an einer solchen Struktur haben.

Wenn auf einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Unternehmen verzichtet wird, sollte auch die Schnittstelle zwischen Verkehrsunternehmen und Infrastrukturunternehmen hinterfragt werden, die schließlich nur dem freien Netzzugang von Konkurrenten dient, die es auf dem S-Bahn-Netz dann weiterhin nicht geben würde.

An der Schnittstelle zwischen Verkehrs- und Infrastrukturunternehmen könnten die Ausnahmeregelungen im Eisenbahnregulierungsgesetz so ausgeweitet werden, dass für unabhängige Netze unter anderem die Trennung von Netz und Betrieb und der freie Netzzugang wegfallen. Dann könnte die S-Bahn Berlin GmbH (wie bereits vor 2015) neben der Aufgabe eines Verkehrsunternehmens auch die eines Infrastrukturunternehmens übernehmen. Für das Land ergäbe sich bei einer Beteiligung an der S-Bahn der Vorteil, dass anders als bisher eine direkte Kontrolle über die Infrastruktur bestünde, in die etwa die Hälfte der Kosten abfließt.

Für eine Wiedervereinigung von Netz und Betrieb der S-Bahn Berlin sprechen zwar betriebliche und wirtschaftliche Vorteile, es besteht aber kein Zeitdruck wie bei den Verkehrsverträgen, da die Infrastruktur üblicherweise als bundeseigenes Monopol akzeptiert wird.

Übergreifende Entwicklungen

Deutschlandweit ist das System Bahn in einer Krise und die politischen Stimmen nach einer zweiten Bahnreform mehren sich. Nach Verlusten von Marktanteilen an Wettbewerber vor allem im Regionalverkehr befindet sich der staatliche DB-Konzern in einer erheblichen Schieflage. Umgekehrt fällt es den Konkurrenten immer schwerer, bei Betreiberwechseln rechtzeitig genügend Personal zu gewinnen, zumal viele Beschäftigte beim DB-Konzern bleiben wollen. Regionale Netze mit einer mehrheitlich landeseigenen und integrierten Organisation von Netz und Betrieb könnten die Stabilität und Effizienz des Systems Bahn erhöhen.

Daneben mehren sich auch die Forderungen nach einer Verkehrswende. Im neuen Berliner Mobilitätsgesetz wird eine „zielorientierte integrierte Mobilitätsgewährleistung für Berlin“ angestrebt. Für eine besser koordinierte Verkehrsplanung wäre langfristig eine Integration von BVG und S-Bahn unter einem Dach sinnvoll, eine Aufteilung des bereits integrierten Systems S-Bahn Berlin wäre hingegen ein Schritt in die falsche Richtung.

Felix Thoma

Der Autor studiert an der TU Berlin Technomathematik mit einem Schwerpunkt auf Planung und Betrieb im Verkehrswesen. Eine Langfassung seines Artikels steht auf www.zukunft-mobilitaet.net/171299

Weitere Informationen:
www.eine-s-bahn-fuer-alle.de

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