Dorf des Willkommens in Gefahr

Aus DER RABE RALF Dezember 2021/Januar 2022, Seite 20/21

Das kalabrische Bergdorf Riace wird für Solidarität hart bestraft

Die süditalienische Gemeinde Riace, die nur 2000 Einwohner hat, nahm über gut zwei Jahrzehnte mehrere tausend Menschen auf. (Foto: Elisabeth Voß)

Riace ist ein kleines Dorf in der süditalienischen Region Kalabrien. Ein Ortsteil liegt in den Bergen, ein anderer am Meer. Wie viele andere Orte in der Region litt Riace seit vielen Jahren unter Abwanderung, denn es gab dort keine Perspektiven. So flohen viele Riacesi vor der Armut und suchten ihr Glück im Norden Italiens, in anderen europäischen Ländern oder auch in Übersee. Im Sommer 1998 kam ein Segelschiff mit fast 200 kurdischen Geflüchteten am Strand von Riace an. Die Einheimischen, allen voran der Lehrer Domenico Lucano, kümmerten sich um die Schutzsuchenden und organisierten Wohnraum in den verlassenen Häusern.

So begann das inzwischen weltweit bekannte „Modell Riace“. Mit viel Engagement wurde Riace zum Willkommensdorf, in dem mehrere tausend Geflüchtete ein neues Zuhause fanden – viele nur für eine Zeit, aber es kamen immer wieder neue Schutzsuchende. Nur wenige ließen sich dauerhaft nieder. Auch mithilfe von Fördermitteln wurden Arbeitsplätze in Werkstätten für altes kalabrisches Handwerk geschaffen, beispielsweise Weberei und Töpferei, Stickerei, Glas- und Holzverarbeitung. Einheimische und Zugereiste arbeiteten zusammen, das war Teil des Konzepts, damit kein Neid entsteht. Im Zentrum des Bergdorfs, im „Villaggio Globale“, wurden die Produkte in kleinen Läden verkauft. Auch die Beratungs- und Betreuungsangebote brachten bezahlte Arbeit. Die meisten der überwiegend älteren ItalienerInnen freuten sich, dass mit den zumeist jüngeren Geflüchteten und ihren Kindern wieder Leben ins Dorf kam. Kindergarten und Schule wurden wiedereröffnet und es entwickelte sich bescheidener Wohlstand.

Mafiafreie lokale solidarische Ökonomie 

2004 wurde Domenico Lucano, genannt Mimmo, zum Bürgermeister von Riace gewählt. Er lehnte nie ab, weitere Schutzsuchende aufzunehmen, und so machte die Regierung regen Gebrauch von der Aufnahmebereitschaft des Dorfes. Fördermittel gab es nur für die Dauer des Asylverfahrens. Lucano setzte die Mittel so ein, dass bei Bedarf auch mehr Menschen damit versorgt werden konnten. Weil die Auszahlung der Gelder oft lange auf sich warten ließ, führte er eine Lokalwährung ein, mit der die Geflüchteten in örtlichen Geschäften einkaufen konnten, die sich mit der Einlösung gedulden mussten, bis endlich das Geld aus Rom eintraf.

Die selbstorganisierte lokale Ökonomie florierte. (Foto: Elisabeth Voß)

Die selbstorganisierte lokale Ökonomie entrichtete kein Schutzgeld an die ’Ndrangheta. Diese kalabrische Mafia gilt als eine der mächtigsten Mafia-Organisationen der Welt. Die Hunde des Bürgermeisters wurden vergiftet, und in der Seitentür eines früheren Restaurants des Willkommensprojekts zeugen zwei Einschusslöcher von den Einschüchterungsversuchen. Im öffentlichen Raum beeindrucken Wandbilder und Kunstobjekte über Flucht und Migration. Auch die Ablehnung der Mafia wird an vielen Stellen künstlerisch kundgetan.

2010 drehte der Berliner Regisseur Wim Wenders den halbstündigen Film „Il Volo“ (Der Flug) über Riace. Bei einer Veranstaltung zum 20. Jahrestag des Mauerfalls betonte er, nicht dieses Ereignis, sondern das, was in Riace geschehe, sei die „wahre Utopie“. Für sein Engagement bekam Domenico Lucano 2017 den Dresdner Friedenspreis.

Bürokratie gegen Menschlichkeit 

Nach einem politischen Wechsel in der Präfektur von Reggio Calabria 2016 wurde Lucano und seinen MitstreiterInnen mit Inspektionen und bürokratischer Drangsalierung das Leben schwer gemacht. Mehr als eineinhalb Jahre überwachte die Finanzpolizei den Bürgermeister und zeichnete alle seine Telefonate auf, als sei er ein Schwerverbrecher. Im Juni 2018 wurde Matteo Salvini, der Chef der reaktionären, nationalistischen Partei Lega, italienischer Innenminister. Im Oktober 2018 wurde Domenico Lucano verhaftet, seines Postens als Bürgermeister enthoben und dann aus Riace verbannt, durfte also sein Dorf nicht mehr betreten. Der Vorwurf: Beihilfe zur illegalen Einwanderung, nicht ordnungsgemäße Verwendung von Fördermitteln. Die Willkommensprojekte wurden geschlossen, viele Geflüchtete mussten das Dorf verlassen.

In einem ersten Ermittlungsverfahren hatte am Ende das oberste Kassationsgericht Italiens im Frühjahr 2019 alle Vorwürfe zurückgewiesen – außer dem der Förderung von Scheinehen. Ein Missbrauch von Fördermitteln war gerichtlich nicht feststellbar. Trotzdem wurde das Gerichtsverfahren vor dem kalabrischen Regionalgericht in Locri im Juni 2019 unter Hochsicherheitsbedingungen durchgeführt, als ginge es um einen Mafia-Prozess. In einer mehr als einstündigen Rede bekannte sich Lucano dazu, eine nigerianische Zwangsprostituierte bei der Eheschließung unterstützt zu haben, um ihr zu helfen, da der Staat sich nicht um die Opfer von Menschenhandel kümmere.

Domenico „Mimmo“ Lucano. (Foto: Elisabeth Voß)

Erst im September 2019 durfte Domenico Lucano wieder nach Riace zurückkehren. Mit den verbliebenen Geflüchteten und den weiterhin solidarischen Riacesi baute er die Willkommensprojekte wieder auf. Auch die Produktion von Olivenöl brachte bezahlte Arbeit. Aber die staatliche Verfolgung ging weiter. Am 30. September 2021 wurde Lucano im Hauptverfahren vor dem Gericht in Locri zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt – weitaus mehr, als die Staatsanwaltschaft mit sieben Jahren und elf Monaten gefordert hatte. 26 weitere UnterstützerInnen von Geflüchteten waren mitangeklagt, manche von ihnen bekamen ebenfalls langjährige Haftstrafen. Ihr Vermögen wird konfisziert, erhebliche Fördermittelbeträge sollen zurückerstattet werden. Bleibt zu hoffen, dass im Berufungsverfahren diese offensichtlich politisch motivierten Urteile zurückgewiesen werden.

„Umarmen wir Riace und Mimmo Lucano“ 

Wie schon damals gibt es auch jetzt wieder einen Proteststurm und eine Welle der Solidarität. Am ersten Novemberwochenende folgten Hunderte dem „Aufruf für die Kunst“ und demonstrierten in Riace unter dem Motto „Abbracciamo Riace e Mimmo Lucano“ (Umarmen wir Riace und Mimmo Lucano).

Auch in Berlin gab es am 6. November eine Kundgebung für Riace und Mimmo Lucano. 40 Menschen machten deutlich: „Geflüchtete aufzunehmen ist ein Gebot der Menschlichkeit und kein Verbrechen!“ Auf dem Oranienplatz in Kreuzberg mit seiner Geschichte der Selbstorganisation von Geflüchteten versammelten sie sich am Denkmal für die Opfer von Rassismus und Polizeigewalt, um ein Signal der Solidarität zu senden: „Riace ist ein Beispiel für eine Willkommenskultur, in der jeder Mensch als Mensch zählt und keiner zurückgelassen wird. Das ‚Modell Riace‘ und Domenico Lucano haben vielen Menschen Hoffnung gegeben, dafür haben Mimmo und seine MitstreiterInnen Anerkennung und Unterstützung verdient.“

Der stellvertretende Vorsitzende der Naturfreunde Deutschlands, Uwe Hiksch, nannte das Urteil gegen Lucano eine Schande. Domenico Lucano habe gezeigt, wie eine an Menschenrechten und Humanität ausgerichtete Arbeit für Geflüchtete aussehen müsse. Dafür dürfe er nicht verurteilt werde. Die Bundesregierung solle Italien zur Zurücknahme des offensichtlich politischen Urteils auffordern. Das Urteil gegen den ehemaligen Bürgermeister stehe in der Kontinuität der unmenschlichen Politik gegen Geflüchtete in der EU (Rabe Ralf April 2021, S. 6). Es sei völlig inakzeptabel, dass auf den verschiedenen Fluchtrouten fast täglich Menschen sterben müssten. Wer die völlig entkräfteten Menschen an der Außengrenze Polens sehe, müsse auf die Straße gehen und für eine humanitäre Flüchtlingspolitik der EU demonstrieren. Hiksch betonte, dass für die menschenverachtende Flüchtlingspolitik im Mittelmeer oder an den EU-Außengrenzen die restriktive deutsche Abschottungspolitik gegen Geflüchtete maßgeblich mitverantwortlich sei, und forderte alle Kommunen in Deutschland auf, die Kampagne „Schafft sichere Fluchthäfen“ aktiv zu unterstützen. Vom neuen rot-grün-roten Senat erwartet er, dass die Abschiebungen aus Berlin beendet werden.

Auch in Berlin fand eine kleine Demonstration statt. (Foto: Uwe Hiksch)

Bruno Watara von der Berliner Gruppe „Réenchanter l’Afrique“ sprach über seine Erfahrungen bei einem Besuch: „Als ich in Riace ankam, spürte ich eine andere Atmosphäre. Alle Flüchtlinge waren zusammen. Afghanen aßen mit Maliern, Nigerianer aßen mit Senegalesen, sie lebten in Harmonie. Das Asylsystem in Deutschland steckt uns in Schubladen: Asylberechtigte, Anerkannte nach der Genfer Flüchtlingskonvention, subsidiär Geschützte, Geduldete und ‚Ausreisepflichtige‘ … Mit jeder Schublade sind bestimmte Rechte oder Einschränkungen von Rechten verbunden.“ Deutschland kooperiere bei der Migrationsabwehr mit vielen Diktaturen, und die EU arbeite in sogenannten „Grenzschutzprojekten“ auch mit Folterstaaten zusammen. Daher könne es in Deutschland keine fairen Asylverfahren geben.

Watara hat selbst neun Jahre in einem Flüchtlingslager in Mecklenburg-Vorpommern gelebt, nachdem er aus Westafrika flüchten musste. Nun setzt er sich für diejenigen ein, die viele Jahre in solchen Einrichtungen verbringen müssen, oft 10, manche fast 20 Jahre. In dieser Zeit dürften sie nichts tun, sie dürften nicht arbeiten, könnten kein Geld nach Hause schicken. „Sie verlieren den Kontakt zu ihren Angehörigen, und wenn sie nach so langer Zeit draußen leben dürfen, dann können sie das oft nicht mehr und verzweifeln“, klagte Bruno Watara die unmenschliche deutsche Flüchtlingspolitik an.

Eintreten für die Rechte von Geflüchteten überall 

„Regelmäßig schiebt Berlins Ausländerbehörde rechtswidrig zur Nachtzeit ab, obwohl dies nur in absoluten Ausnahmefällen erlaubt wäre“, kritisiert Nora Brezger vom Flüchtlingsrat Berlin. Auch das Eindringen in die Wohnung des Abzuschiebenden ohne Durchsuchungsbeschluss sei rechtswidrig, ebenso die regelmäßige Abnahme der Handys durch die Berliner Polizei und der dadurch gezielt verwehrte Zugang zu Rechtsschutz. „Anstatt den Fokus auf die Ausweitungen der bestehenden Bleiberechtsregelungen zu legen und geduldeten Menschen eine Perspektive zu bieten, setzt auch Berlin in vielen Fällen auf Abschreckung und Abschiebung“, stellt sie fest. Auch Abschiebungen von Menschen mit einer Behinderung oder psychischen Erkrankung seien keine Seltenheit. Brezger fordert: „Berlin muss den bereits im letzten Koalitionsvertrag versprochenen Paradigmenwechsel endlich vollziehen, weg von Abschiebungen, hin zum Bleiberecht.“

Künstlerische Objekte in Riace setzen sich mit Migration auseinander. (Foto: Elisabeth Voß)

Die Veranstalter der Kundgebung am 6. November betonten: „Solidarität mit Riace bedeutet auch, sich für die Rechte aller Geflüchteten überall einzusetzen. Für diejenigen, die noch unterwegs sind, und für diejenigen, die es geschafft haben, an einem sicheren Ort anzukommen.“ Zu oft sei auch Berlin kein sicherer Ort für Schutzsuchende.

Auf dem Oranienplatz kam Domenico Lucano auch selbst zu Wort, indem einige Passagen aus seinem soeben auf Deutsch erschienenen Buch „Das Dorf des Willkommens“ vorgelesen wurden. Und so soll auch dieser Beitrag mit seinen Worten enden: „Immer wenn ich am Strand stand, die Füße im Wasser, und hinausschaute aufs Meer, dann hatte ich eine Gewissheit: Wer immer an unsere Tür klopft, ob es ein Elender ist, ein Flüchtling oder ein Reisender, er bedeutet die einzige Rettung für die ganze Welt, die einzige Hoffnung gegen die Gewalt der Geschichte.“

Elisabeth Voß 

Weitere Informationen: www.riace.solioeko.de

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