Ein Kartograf der Freiheit

Aus DER RABE RALF April/Mai 2022, Seite 21

Der anarchistische Geograf Élisée Reclus schrieb aus der Sicht von Flüssen und Bergen

Élisée Reclus (1830-1905). (Foto: Nadar/​Wikimedia Commons)

„Der Mensch stört durch seine Eingriffe in die Natur nicht nur das Netzwerk der Flüsse, sondern auch die Harmonie der Klimate. Abgesehen vom ganz lokalen Einfluss, den die Städte ausüben, indem sie zur Temperatur-erhöhung beitragen und die Atmosphäre verderben, ist es sicher, dass die Zerstörung der Wälder und die Urbarmachung riesiger Landflächen beträchtliche Veränderungen innerhalb der verschiedenen Jahreszeiten nach sich ziehen. Allein dadurch, dass er urbares Neuland gewinnt, verändert der Mensch das empfindliche Netz der Temperaturlinien, die das Land durchziehen.“

Diese Worte schrieb Élisée Reclus im Jahr 1864. Er gehört somit zu den ersten, die auf die Tatsache des menschengemachten Klimawandels hingewiesen haben. Dazu benötigte er keine komplizierten Computermodelle. Ihm genügten eine genaue Beobachtungsgabe und die Kenntnis naturwissenschaftlicher Zusammenhänge. Doch wer war dieser seinerzeit weltberühmte Geograf, Schriftsteller und Revolutionär, nach dem heute ein entlegener Teil der Antarktischen Halbinsel benannt ist?

Französischer Kosmopolit

Erich Mühsam berichtet in seinen „Unpolitischen Erinnerungen“ von zahlreichen Begegnungen mit prominenten Persönlichkeiten. Aber „in besonders deutlicher Erinnerung“, schreibt der freiheitliche Bohemien und Dichter über seine um die Jahrhundertwende in Berlin verbrachte Zeit, „ist mir ein Vormittag, als ich, mit einer blauen Schürze bekleidet, den Boden fegte und es zu einer ungewohnten Zeit klingelte. Ich öffnete, da stand vor mir Bernhard Kampffmeyer, der Begründer der deutschen Gartenstadtgesellschaft, und neben ihm ein alter freundlicher Herr: Elisée Reclus, der große französische Gelehrte und Revolutionär.“ Mühsam war sicher, dass er sich zeitlebens darüber freuen werde, „diesen großen Menschen nicht bloß als Namen verehren zu müssen“.

Tatsächlich hatte der im Revolutionsjahr 1830 geborene und im südwestfranzösischen Orthez aufgewachsene Reclus an diesem Tag nicht zum ersten Mal Deutschland besucht. Schon im Alter von zwölf Jahren wurde er von seinem Vater, der ein strenger calvinistischer Pastor war, mit seinem Bruder Élie ins damals preußische Neuwied bei Koblenz geschickt, um dort ein lutherisches Gymnasium zu besuchen. Obwohl die beiden sich in dem Internat überhaupt nicht wohlfühlten und zwei Jahre später ins heimatliche Orthez zurückkehrten, lernten sie dort die deutsche Sprache.

Bereits 1850 kam Elisée nach Neuwied zurück, diesmal als Aushilfslehrer. Da er aber schon zu dieser Zeit seinen Glauben verloren hatte und mit dem Sozialismus zu sympathisieren begann, zog es ihn ein Jahr später zum Philosophiestudium nach Berlin. Auch das war nur von kurzer Dauer. Reclus fuhr nach Straßburg, traf dort Élie wieder und beschloss, abermals heimzureisen. Dieses Mal allerdings zu Fuß. Zu der Zeit schrieb er seinen ersten Text, in dem er sich positiv auf die Anarchie bezog. Diese sei, anders als es auch heute noch behauptet wird, „die höchste Form der Ordnung“.

Es dauerte nicht lange, bis der junge Rebell ins Visier der Obrigkeit geriet. Kaum in Frankreich angekommen, musste der nun Verfolgte das Land auch schon wieder verlassen – diesmal für sechs Jahre. Reclus fand sich in London und dann in New Orleans in den amerikanischen Südstaaten wieder, wo er gegen die Sklavenhaltergesellschaft aufbegehrte. Dann tauchte er plötzlich in Kolumbien auf, um sich dort als Bauer niederzulassen. Er scheiterte.

Zurück in Frankreich freundete er sich mit den Revolutionären Auguste Blanqui, Pierre-Joseph Proudhon und Michail Bakunin an. Er wurde Vegetarier und als produktiver und glänzender Wissenschaftsautor ein angesehenes Mitglied der Geographischen Gesellschaft. 1871 kämpfte er für die Pariser Kommune, nach deren gewaltsamer Niederschlagung er, wie viele seiner Genossen, nach Neukaledonien im Südpazifik ausgewiesen werden sollte. Internationale Proteste, unter anderem von Charles Darwin, verhinderten dies.

Reclus ließ sich in der Schweiz nieder und schrieb hier sein neunzehnbändiges Hauptwerk „La Nouvelle Géographie universelle, la terre et les hommes“ („Die neue Universalgeografie: Die Erde und der Mensch“). Bis zu seinem Tod 1905 blieb er politisch aktiv und war immer davon überzeugt, dass die Errichtung einer Gesellschaft der Gleichen und Freien möglich sei. Schließlich hatte er Anzeichen dafür auf seinen zahlreichen Reisen mit eigenen Augen gesehen.

Nature Writing

Seit einigen Jahren spricht man in der Literaturszene und in der Literaturwissenschaft von der Gattung des „Nature Writing“. Darunter versteht man Texte, in denen Naturzusammenhänge auf subjektive Weise beschrieben werden, ohne dabei die wissenschaftliche Perspektive auszublenden, diese soll vielmehr ergänzt und erweitert werden. Mit einigem Recht könnte Reclus zu den Pionieren dieser Methode gezählt werden. 1869 veröffentlichte er eine „Histoire d’un ruisseau“ („Geschichte eines Flusses“) und ließ einige Jahre später die in 27 Episoden eingeteilte „Histoire d’une montagne“ („Geschichte eines Berges“) in der Zeitschrift „La Science illustrée“ folgen.

Stilistisch sind beide Texte sehr ähnlich. Reclus bedient sich einer lyrischen Wissenschaftssprache. Der Autor versucht sich gewissermaßen in die Perspektive von Fluss und Berg hineinzuversetzen und von hier aus die geologischen, biologischen und gesellschaftlichen Geschichten seiner Protagonisten nachzuerzählen. Dabei geht es nicht um eine vermenschlichte Darstellung, die ja dann doch wieder anthropozentrisch wäre. Reclus‘ radikaler Humanismus kann den Menschen aber auch nicht aus dem Naturgeschehen ausklammern. Die Texte sind eher Ausdruck eines Dialogs: Naturgeschichte, Menschheitsgeschichte und subjektive Naturerfahrung kommen gleichberechtigt zur Sprache. Schließlich weiß auch der Nicht-Esoteriker: Alles ist mit allem verbunden.

Reclus‘ „Geschichte eines Berges“ endet mit den melancholischen Worten: „Fortan würde der Berg mir fern sein, ich kehre ins große Menschengetümmel zurück. Wenigstens mein Gedächtnis hat einige angenehme Erinnerungen an das Vergangene bewahrt. Ich habe wieder das geliebte Bergprofil vor Augen, ich betrete in Gedanken die schattigen Täler, und für einige Momente stehe ich in stillem Einklang mit Fels, Insekt und Grashalm.“

Reclus lesen

Leider sind momentan nur wenige Übersetzungen des Autors in Deutschland lieferbar. Wer sich für Reclus‘ Vegetarismus interessiert, sollte den 1901 erschienen Aufsatz „Zur vegetarischen Lebensweise“ lesen. Dieser findet sich im Band „Das Schlachten beenden! Zur Kritik der Gewalt an Tieren“ (Verlag Graswurzelrevolution, 2010). Für wenig Geld kann die „Geschichte eines Berges“ beim immer zu empfehlenden Verlag Edition AV bezogen werden. Das Buch liegt hier in der hervorragenden Übersetzung von Michael Halfbrodt (2013) vor. Es wäre wunderbar, wenn Verlag und Übersetzer die „Geschichte eines Flusses“ folgen lassen würden.

Johann Thun

Zum Weiterlesen: anarchistischebibliothek.org (Suchen: Reclus – Zur vegetarischen Lebensweise), www.edition-av.de (Autor*innen)

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