Aus DER RABE RALF Oktober/November 2022, Seite 15-17
Für das Überleben unserer Stadt ist eine weitgehende Flächenentsiegelung notwendig – und möglich
Berlins Wasserversorgung geht es schlecht. Der Grundwasserspiegel sinkt und sinkt. Nicht nur die Bäume in Straßen, Parks und Wäldern reichen nicht mehr ans Grundwasser heran, auch Berlins einstiger Stolz, die Gewinnung des Trinkwassers auf eigenem Boden, steht schon länger auf wackeligen Füßen.
Vor einigen Jahren enthielt eine unscheinbare Zeitungsmeldung die Nachricht, die Berliner Wasserbetriebe seien dazu übergegangen, Wasser aus Sachsen-Anhalt zuzukaufen. Inzwischen führt der Dachverband der Berliner Naturschutzverbände, die BLN, eine Klage gegen das Land Berlin, weil die Berliner Wasserbetriebe sogar damit begonnen haben, Berlins Moore leerzupumpen.
Eine lebensnotwendige Ressource geht bedrohlich zur Neige. Die Verantwortlichen aber schweigen und verharren im „Dienst nach Vorschrift“-Modus. Erst kurz vor seinem Wechsel zur Berliner Flughafengesellschaft wagte es der damalige Vorstandsvorsitzende der Berliner Wasserbetriebe, Jörg Simon, die brisanten Probleme immerhin anzusprechen, und er nannte auch maßgebliche Ursachen. Denn der Wassermangel ist bei Weitem nicht nur auf den Rückgang der Niederschläge im Zuge der Klimakrise zurückzuführen – sondern vor allem auf die immer weiter zunehmende Versiegelung der Stadt, die verhindert, dass der kostbare Regen zurück in den Erdboden gelangt und dort zur Grundwasser- und Trinkwasser-Neubildung beiträgt. Stadtentwicklungspolitisch falsche Weichenstellungen, die sich ändern lassen.
Dachbegrünung ist nicht die Antwort
Mit Asphalt und Beton „versiegelter“ Boden, gefolgt von steinern gepflastertem oder stark verdichtetem Boden – wie bei vielen Schotterflächen –, kann keinen oder nur wenig Regen aufnehmen. Das Regenwasser fließt dann in den nächsten Gully und wird zu „Abwasser“. Wer sich in Berlin umschaut, dem fallen rund um den Hauptbahnhof, den Alexanderplatz, das Rote Rathaus, die Museumsinsel oder den Fehrbelliner Platz – und natürlich nicht nur dort – die gigantischen und völlig unnötigen „Grauflächen“ auf: Wüsten aus Asphalt, Beton, Kunststoff, im besten Fall Schotter.
Was unsere Stadt außerdem ausmacht, sind Dachflächen. Wenn es endlich einmal regnet, fließt bei fast allen sogenannten Bestandsbauten das kostbare, „saubere“ Nass ebenfalls in die Kanalisation. Das muss sich ändern – mit Alarmstufe Rot. Dachregenwasser gehört zurück in den Boden. Auch dafür braucht es jede Menge entsiegelte Fläche, wasseraufnahmefähigen Erdboden. Es ist völlig unverständlich, warum die öffentliche Hand mit ihren vielen Gebäuden in Landes- und Bundeshand hier nicht längst mit gutem Beispiel vorangeht, besonders dort, wo öffentliche Grünflächen angrenzen und der entsiegelte Boden wie auch die dortige Vegetation nach Verstärkung mit dem kühlen Nass förmlich schreit. So etwa im Wilmersdorfer Preußenpark, der an drei Seiten von Landes- und Bundesbehördenbauten umgeben ist. An vielen Orten muss dazu aber erst einmal der umgebende Boden entsiegelt werden.
Gründächer und Fassadenbegrünung leisten einen Beitrag zum Stadtklima, aber nicht zur Grundwasserneubildung. Im Gegenteil, sie fangen Wasser ab. Nicht nur die Baubranche, sondern leider auch die Umwelt- und Stadtentwicklungsverwaltung mitsamt ihrer politischen Spitze präsentieren Gründächer und Fassadenbegrünung gern – und häufig unwidersprochen – als Antwort auf sämtliche negativen Folgen der Nachverdichtung, um der unbequemen Diskussion über die zu hohe Versiegelung der Stadt auszuweichen. Auf Wassermangel und Grünflächenverlust geben Gründächer und Fassadenbegrünung aber keine Antwort. Auf das Artensterben, das längst bedrohliche Ausmaße angenommen hat, großenteils ebenfalls nicht.
Wir brauchen also entsiegelten Boden für unsere Versorgung mit Trinkwasser, für die Versorgung der Vegetation, für die Biodiversität und für gesunde Lebensverhältnisse, das heißt ausreichend erreichbare Grünflächen und weiche Wege.
Warum so viel versiegelt wird
Warum also sind so viele unbebaute öffentliche Flächen hochversiegelt, ragen teuer gepflanzte Bäume kümmerlich dreinblickend aus dem Grau heraus statt aus einer saftigen Wiese oder üppigem Gesträuch? Warum werden mehr und mehr öffentliche Plätze, „Grünflächen“ und Parks als „Grauflächen“ gestaltet? Es gibt eine Reihe von Gründen:
- Weil die Gestaltung der öffentlichen Plätze und Grünflächen schon lange nicht mehr durch die Ämter selbst geplant, sondern an private Landschaftsarchitekturbüros ausgelagert wird. Diese wiederum rechnen nach der „Honorarordnung für Architekten und Ingenieure“ (HOAI) ab und verdienen nur an „gebauten“, also versiegelnden Gestaltungselementen. Die Vorschläge der Landschaftsarchitekten werden in den Ämtern kaum hinterfragt, die Bezirksverordneten verfolgen die Details in der Regel überhaupt nicht. Beispielhaft besichtigen lässt sich das Ergebnis am Olivaer Platz unweit des Kurfürstendamms, im Kleinen Tiergarten/Ottopark in Moabit sowie in den damals neu angelegten Parks am Nordbahnhof und am Gleisdreieckpark. Für zwei historische Parks, die noch von den städtischen Gartenbaudirektoren völlig unversiegelt und landschaftsnah angelegt wurden, den Wilmersdorfer Preußenpark (Rabe Ralf August 2022, S. 1) und den sogar als Gartendenkmal geschützten Schäferseepark, liegen solche Planungen vor – ebenfalls unhinterfragt durch Bezirksamt und BVV wie auch durch das Landesdenkmalamt.
- Weil städtische Planer, Straßen- und Grünflächenamtsmitarbeiter und sogar die Umweltämter den Faktor „pflegeleicht“ höher gewichten als die Umweltvorsorge.
- Weil „Barrierefreiheit“ nicht im eigentlich gedachten Sinn praktiziert wird – nämlich Menschen mit Beeinträchtigung zu ermöglichen, barrierefrei von A nach B zu gelangen, also Wege zu glätten und Schwellen abzubauen, und dies auch nicht für einen Massenaufmarsch, sondern für eine kleinere Gruppe. Stattdessen wird das Label „barrierefrei“ als Vorwand missbraucht, um im Gießkannenstil komplette Flächen zu versiegeln.
- Weil unter Verweis auf den höheren Nutzungsdruck (durch die immer dichter werdende Bebauung) „Multifunktionsflächen“ geschaffen werden sollen, wobei diese unbedingt steinern sein müssen, obwohl unversiegelte Grünflächen die Multifunktionsflächen par excellence sind. Nur Skaten und Skateboardfahren lässt sich auf unversiegelter Fläche tatsächlich nicht. Dagegen ließen sich ungleich mehr „Funktionen“ aufzählen, die eine steinerne Fläche nicht erfüllt, sondern nur eine entsiegelte Grünfläche: gesundes erholsames Gehen oder Laufen, Gymnastik, Yoga, auf einer Decke liegen, picknicken … Für Skater und Skateboardfahrer extra zusätzlich Flächen zu versiegeln ist ein Luxus, den sich Berlin nicht leisten kann. Einzig der entsiegelte Boden ist „multifunktional“ im Hinblick auf sämtliche Umweltfaktoren: Wasser, Kühlung, CO₂-Bindung, Grünflächenversorgung, Bodenorganismen, Artenvielfalt, Bindung von Staub, Abgasen und Lärm durch Vegetation. Auch beim „Nutzungsdruck“ wird umgekehrt ein Schuh draus: Je mehr Flächen entsiegelt und in der Folge zu kleinen Grünflächen werden, desto geringer der Nutzungsdruck. Je mehr freie Flächen versiegelt werden, desto größer der Nutzungsdruck auf die verbleibenden unversiegelten. Hoher Nutzungsdruck ist also gerade ein Argument für und nicht gegen Entsiegelung.
- Weil versiegelte Flächen Ordnung, Kontrolle und Sicherheit suggerieren und einem angeblichen, aber überkommenen Konzept von Urbanität entsprechen. Entsiegelte Flächen werden dagegen mit Risiken („Angsträume“), Unordnung und Chaos assoziiert oder sogar dämonisiert. Manche Straßen- und Grünflächenämter verschließen sich jeder Bürgersteigrand-Entsiegelung unter Verweis auf ihre Verkehrssicherungspflicht – während die gröbsten Stolperfallen und Unfallherde wie herausragende Steine in der Mitte von Bürgersteigen oder herausragende Kanaldeckel auf Radwegen den Mitarbeitern derselben Ämter keine Schweißperlen auf die Stirn treiben und auch die Instandsetzung der zum Katastrophenschutz wichtigen Notbrunnen nicht ansatzweise so viel Pflichtgefühl erzeugt.
- Weil die „Verkehrswende“ in Berlin bisher einzig als „Radwegausbau“ zulasten der Grünflächen mit großem Ernst betrieben wird – um dem Autoverkehr nur ja nicht zu schaden, im Grunde also: um nur ja nichts am Status quo zu ändern. Denn für eine echte Verkehrswende müsste der dem Autoverkehr seit über 60 Jahren eingeräumte Raum umverteilt werden – zugunsten von Straßenbahn (mit Entsiegelungspotenzial!), Radwegen, Fußwegen und Grün. Berlin scheint die einzige Stadt zu sein, deren Planer die letzten unversiegelten, naturnahen Wege für Radwege asphaltieren oder anderweitig versiegeln, sogar die besonders wassersensiblen Uferflächen zum Beispiel entlang von Spree und Teltowkanal.
- Weil nach kapitalistischem Prinzip beim Versiegeln Geld verdient wird, beim „Einfach-so-Lassen“ hingegen nicht. Dies wird sich erst ändern, wenn Entsiegelung durch die öffentliche Hand massiv betrieben wird und sich infolgedessen eine „Entsiegelungswirtschaft“ herausbilden kann.
- Weil das Berliner Landesdenkmalamt Denkmalschutz als Betondenkmalschutz So hat das Amt keine Einwände gegen die massive Asphaltierung und Versiegelung im Schäferseepark erhoben, sperrt sich aber unter Verweis auf den Garten(!)denkmalschutz gegen die Entsiegelung der Asphaltflächen im Kleistpark rund um das Kammergerichtsgebäude.
Versiegelt heißt teuer
Ein Umdenken ist also dringend erforderlich. Bequemlichkeitsgesichtspunkte wie „pflegeleicht“, Designgesichtspunkte – zum Beispiel in Beton eingelassene Spielgeräte oder Betonränder um Rasenflächen wie am Olivaer Platz und am Steinplatz – oder Komfortgesichtspunkte wie das Postulat, dass jeder sauberen und trockenen Fußes jederzeit jeden Quadratmeter der Stadt durchqueren können soll, müssen gegenüber lebens- und gesundheitsnotwendigen Bedürfnissen wie Wasser, Kühlung und erreichbaren Grünerholungsflächen zurückstehen. Wichtig für die Resilienz, die Reaktionskraft unserer Stadt sind nicht solche Oberflächlichkeiten, sondern der möglichst weitgehend entsiegelte, vegetationsreiche urbane Raum.
Die steril hochversiegelte Stadt können wir uns aber auch angesichts des dramatischen Artensterbens nicht mehr leisten, dessen Folgen für das Überleben der Menschheit überhaupt noch nicht absehbar sind. Nur auf entsiegelten Böden kann sich Leben entfalten – von den humusbildenden Mikroorganismen, die im Boden wirken, über die bodenauflockernden Regenwürmer und Maulwürfe zu Igeln und so weiter.
Angemerkt sei noch, dass Gehen und Laufen auf hartem, also versiegeltem Boden die Gelenke schädigt. Die dadurch verursachten Gesundheitsfolgekosten kommen zu jenen durch unzureichende Versorgung der Bevölkerung mit Erholungsgrün noch hinzu – zusammen übersteigen sie zweifellos die Mehrkosten, die unversiegelter Boden den Straßen- und Grünflächenämtern tatsächlich oder angeblich bereitet. Asphalt ist zudem Quelle von Umweltgiften, bei der Entsorgung als Sondermüll zu behandeln. Die beim Straßenbau mit Asphalt entstehenden Teerdämpfe sind giftig für die Arbeiter.
Wie gelangen wir nun zur weitestmöglich entsiegelten Stadt? Dazu gibt es zwei Hebel: die möglichst weitgehende Entsiegelung des unbebauten öffentlichen Raumes und den sparsamen Umgang mit dem bebauten Raum.
Unbebauten öffentlichen Raum entsiegeln
- Versiegelungsbilanzen: Die Bezirke sollen den unbebauten öffentlichen Raum bilanzieren und die Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung der Entsiegelung jeweils substantiiert (nicht nur pauschal) rechtfertigen. Wo Autos fahren oder stehen, entsteht mindestens Reifenabrieb, ein Umweltgift, das nicht in den Boden gehört. Dort kann die Aufrechterhaltung der Versiegelung gerechtfertigt sein – allerdings ist der dem Autoverkehr derzeit vorbehaltene Raum zweifellos überdimensioniert. Auch der Rückbau von Straßen, Parkplätzen und Autobahnen im Zuge der Verkehrswende sollte mitgedacht werden, zum Beispiel auch beim Ausbau der Straßenbahn. Versiegelungen in öffentlichen Grünflächen, auf Plätzen sowie Bürgersteigflächen entbehren in der Regel jeder Rechtfertigung, soweit sie nicht zwingend notwendig sind – für Barrierefreiheit (siehe oben), zum Schutz der Gebäude vor Feuchtigkeitsschäden oder zum Schutz des Grundwassers vor Gifteintrag. Die Bilanz ist zu veröffentlichen und in regelmäßigen Abständen zu überprüfen.
- Gut sichtbare, prominente Entsiegelungen mit Leuchtturmcharakter: Entsiegelung muss zunächst vor die Augen, damit sie in die Köpfe gelangt, und zwar dort, wo Politik gemacht wird, und dort, wo sich das Bild, wie Stadt auch sein kann, vielen Menschen einprägt. Jeder Bezirk sollte dafür in jedem innerstädtischen Ortsteil ein Leuchtturmprojekt aufsetzen, das im hochurbanen Raum zugleich einen deutlichen Mehrwert für die Grünflächenversorgung der Bevölkerung schafft, besonders durch bessere Grünvernetzung oder Erweiterung von Grünflächen. Präsentable Beispiele wären das Rathausforum in Mitte, der Vinetaplatz und angrenzende Flächen im Weddinger Brunnenviertel, Barstraße und Brandenburgische Straße bis zum Preußenpark in Wilmersdorf, der Franz-Naumann-Platz in Reinickendorf oder auch die an den Volkspark Prenzlauer Berg angrenzende Maiglöckchen- und Hohenschönhausener Straße mit ihren wenig genutzten Verkehrsflächen. Die Senatsverwaltungen für Umwelt und für Stadtentwicklung sollten zur Unterstreichung der Symbolkraft an ihren Behördenstandorten je ein Leuchtturmprojekt auswählen und aktiv begleiten. Dafür bietet sich die Stilllegung der Brandenburgischen Straße entlang des Preußenparks an – eine Hauptverkehrsstraße zu Füßen des Stadtentwicklungssenats, bei der die Entscheidungshoheit der Senatsverwaltung obliegt. Gut geeignet ist auch das Rathausforum nebst Rathausstraße zu Füßen des Roten Rathauses.
- Schaffung von Straßengrünzügen: In Berlins breiten Bürgersteigen, oft schon gesäumt von Straßenbäumen, schlummert jede Menge Potenzial. Durch Entsiegelung entlang der Bürgersteigkante, Bepflanzung mit Sträuchern und eventuell einen kleinen, weichen Trampelpfad können vielerorts Mini-Grünzüge entstehen, die nicht nur den Straßenbäumen mehr Regenwasser zuführen, sondern Stadtbild und Lebensqualität in Berlin ungemein verbessern würden. Die Barstraße in Wilmersdorf und die Bellermannstraße in Gesundbrunnen wären zwei geeignete Kandidaten auch für breitere Straßengrünzüge.
- „Tiny Forests“ für öffentliche Plätze und Bürgersteigflächen: Das aus Japan stammende Modell der „Tiny Forests“ – Miniaturwälder, die schon ab 250 Quadratmetern echte Waldfunktionen ausbilden – passt wunderbar zu Berlin. Jeder Bezirk sollte mit einem Pilotprojekt starten – auch hier gut sichtbar, prominent und dort, wo es am urbansten Es muss vor Augen, um in die Köpfe zu gelangen und den Mentalitätswandel herbeizuführen: Entsiegelte Flächen, ja sogar Wälder passen sehr wohl in die Stadt. Erneut wären das Rathausforum in Mitte und die Brandenburgische/Ecke Westfälische Straße vor der Deutschen Rentenversicherung am Fehrbelliner Platz in Wilmersdorf prominente Kandidaten.
- Abschied von „big is beautiful“ – Reduzierung der Wegebreiten: Der Trend zu „groß und breit“ hat bei Flachbildschirmen und Pkws längst nicht haltgemacht. Auch Wegflächen für Rad- und Fußwege werden nur noch in Mindestbreiten definiert. Das hemmt nicht nur eine geschmeidige Stadtentwicklung. Es entstehen an vielen Orten überdimensionierte versiegelte Flächen. Hier muss zugunsten einer weitestmöglich entsiegelten Stadt wieder „weniger ist mehr“ gelten: Wegebreiten sind individuell auf ihre Notwendigkeit zu überprüfen.
- Ausbau der Straßenbahn: Während für die autogerechte Stadt enorme Flächen versiegelt werden, setzt die Rückkehr der Straßenbahn, gerade im Berliner Westen, Entsiegelungspotenzial frei – sie erlaubt den Rückbau der autogerechten Stadt. Nur Autos, Lkw und Motorräder benötigen Flächenversiegelung, um zu verhindern, dass Giftstoffe in Boden und Gewässer gelangen. Auch deshalb muss der Raum für den motorisierten Verkehr auf das geringstmögliche Maß reduziert werden.
- Ausschreibungen für Landschaftsarchitekten müssen vorgeben, dass keine Flächenversiegelungen erfolgen dürfen, auch nicht durch Verbauung oder „Möblierung“ der Landschaft.
- Finanztöpfe müssen regulieren: Landesförderprogramme wie „Siwana“, „Aktive Zentren“ und andere müssen Versiegelungssperren enthalten. Fördertöpfe für Entsiegelung dürfen keine konkurrierende anderweitige Verwendung erlauben (zum Beispiel „Entsiegelung und Stadtmöbel“), denn Entsiegelung ist komplex und ungewohnt. Erlaubt der Fördertopf auch Verbauungen, zum Beispiel durch Parklets oder Blumenkübel, wird das Geld ins Bekannte und Gewohnte investiert.
- Versiegelung muss wehtun: Was naturschutzrechtlich ohnehin in der Regel vorgeschrieben ist, muss auch praktiziert werden: Jede Versiegelung muss quantitativ, qualitativ und grundsätzlich ortsnah eins zu eins ausgeglichen werden. Das ist nicht nur rechtlich geboten, sondern auch praktisch machbar, wenn sämtliche Flächen wie beschrieben auf ihre Entsiegelbarkeit abgeklopft werden. Diese Vorgabe auf die ferne Zukunft zu verlagern, ist nicht redlich.
- Abschied von der schrankenlosen Verwendung der Begriffe „barrierefrei“ und „Verkehrssicherungspflicht“: Das Heranziehen des Gebots der Barrierefreiheit und der Verkehrssicherungspflicht muss unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit auf ein reflektiertes Maß zurückgeführt werden. Versiegelung greift sehr wohl in Rechte ein. Artikel 20a des Grundgesetzes lautet: Der Staat hat die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen. Mitarbeiter von Straßen-, Tiefbau- und Grünflächenämtern müssen in diesem Sinne geschult und von den Amtsleitern darin unterstützt werden, wieder Verantwortung zu übernehmen.
Sparsam mit dem bebauten Raum umgehen
- Leerstand beenden und Gebäude aufstocken statt Neuversiegelung: Leerstand ist kein Kavaliersdelikt, nicht bei Privaten, erst recht nicht in öffentlicher Die Senatsverwaltung gab 2018 in ihrer Antwort auf eine Schriftliche Anfrage der Grünen zu, dass sie den Leerstand in landeseigenen Gebäuden nicht einmal erfasst (Drucksache 18/15 151). Es braucht ein Moratorium für die Neuversiegelung und eine Inventarisierung des leerstehenden bebauten Raums in öffentlicher Hand. Nötig ist auch endlich ein konsequentes Vorgehen gegen spekulativen privaten Leerstand. Es gilt Artikel 14 (2) des Grundgesetzes: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Die rechtlichen Instrumente sind durch das Baugesetzbuch gegeben, in Berlin fehlt allein der politische Wille, sie anzuwenden.
- Stopp von Niedrigbauten: Überall in Berlin schießen derzeit sogenannte „modulare Erweiterungsbauten“ aus dem Boden, meist im Rahmen der sogenannten „Berliner Schulbauoffensive“: dreistöckige Querriegel mit Flachdach. Sie sind nicht nur unansehnlich, sie sind auch Flächenfresser. Weder wird vor dem Bau gründlich geprüft, ob der Bedarf in (oder auf) vorhandenen nahegelegenen Gebäuden erfüllt werden kann, noch werden die Gebäude wie klassische Schulgebäude fünf- bis sechsstöckig mit zusätzlichem Dachgeschoss errichtet, sondern – zwecks Kostenersparnis – niedrig und breit. Die Berliner Schulbauoffensive, wie sie aktuell praktiziert wird, ist unverantwortliche Städteplanung, sie gehört sofort auf den Prüfstand. Die Folgen dieser verfehlten Entwicklung werden für Berlin weit teurer als Sanierungs- und Umnutzungskosten für leerstehende Bestandsbauten, Aufstockungen oder wenigstens höheres Bauen plus Dachgeschoss.
- Abschied vom Versuch, die Wohnungsfrage durch private Investoren zu lösen: Wien hat im Vergleich zu Berlin, München und Frankfurt am Main einen entspannten Wohnungsmarkt. Warum? Wien hat seinen hohen Anteil städtischer und genossenschaftlicher Wohnungen, der in den 1920er Jahren geschaffen wurde, bewahrt. Verkäufe städtischer Wohnungen in großem Stil wie vor rund 20 Jahren in Berlin fanden in Wien nie statt. Dies belegt: Der Schlüssel zur Lösung der Wohnungskrise liegt im Bestand städtischer oder genossenschaftlicher Mietwohnungen. Nur dort lässt sich die tatsächliche und angemessene Belegung des Wohnraums durch hier lebende Menschen steuern. In unserer Stadt haben in den letzten zehn Jahren unzählige Neubauten und Nachverdichtungen große Flächen zusätzlich versiegelt, ohne die Wohnungskrise in irgendeiner Weise zu lindern. Es entstanden viele überdimensionierte Wohnungen, die nicht durch große Familien oder WGs genutzt werden, sondern als ferne, leerstehende Kapitalanlage, Zweit-, Dritt- oder Wochenenddomizil.
Ein Entsiegelungsbeauftragter für Berlin
In ihrer gemeinsamen Kampagne „Natur statt Asphalt Entsiegelt Berlin“ empfehlen die Naturfreunde Berlin, der Fußverkehrsverband FUSS e.V. und das Berliner Netzwerk für Grünzüge drei weitere Instrumente: die Berufung eines Entsiegelungsbeauftragten – analog zum Datenschutzbeauftragten –, die Dokumentation des Versiegelungausgleichs in einem Register sowie eine Meldepflicht der Bezirke für jede Neuversiegelung.
Zusammenfassend ist festzustellen: Die weitgehende Entsiegelung ist für das Überleben unserer Stadt zwingend notwendig, und sie ist möglich. Sie erfordert aber noch sehr viele Weichenstellungen, vor allem ein Umdenken in der Verwaltung, vor allem bei den Straßen-, Tiefbau-, Grünflächen- und Stadtentwicklungsämtern. Das Potenzial für die Flächenentsiegelung muss dringend ermittelt und die Entsiegelung mit symbolträchtigen, gut sichtbaren Flächen begonnen werden. Innenstadtentsiegelung mag auf der Skala wertvoller Böden (noch) nicht weit oben stehen – als Motor für eine Bodenwende stehen sie aber ganz oben.
Antje Henning
Berliner Netzwerk für Grünzüge:
www.gruenzuege-fuer-berlin.de
Wer sich aktiv im Rahmen der Kampagne „Natur statt Asphalt: Entsiegelt Berlin!“ engagieren möchte, kann sich per E-Mail bei kontakt@gruenzuege-fuer-berlin.de melden.