„Er war ein ganz Großer“

Aus DER RABE RALF Dezember 2021/Januar 2022, Seite 15

Vor über 80 Jahren wurde der russische Agrarwissenschaftler Alexander Tschajanow ermordet

Alexander Tschajanow (1888-1937) als 22-jähriger Student. (Foto: unbekannt/​Wikimedia Commons)

Am Ende gab der Beschuldigte alles zu: Ja, er sei einer der Mitbegründer der oppositionellen „Partei der werktätigen Bauern“ gewesen. Ja, er habe das Sowjetsystem stürzen wollen. Und ja, er habe auch für das feindliche Ausland spioniert. Das Urteil war schnell gefällt: Schuldig im Sinne der Anklage. Am 3. Oktober 1937 wurde Alexander Wassiljewitsch Tschajanow hingerichtet.

Freunde des Stalinismus wird es vielleicht überraschen, aber heute wissen wir, dass er unschuldig war. Alle aufgezählten Anklagepunkte waren frei erfunden. Der renommierte Wissenschaftler und Literat musste sterben, weil er für einen humanen und freiheitlichen Agrarsozialismus eintrat.

Leben und Tod eines Volksfreunds

Tschajanow wurde am 7. Januar 1888 in Moskau geboren und studierte am dortigen Landwirtschaftsinstitut. Nach einigen Auslandsaufenthalten, die ihn auch nach Deutschland führten, wurde er 1918 in seiner Heimatstadt Professor für Agrarwissenschaft. Während der Revolutionen 1917 und 1918 bewegte er sich im Umkreis der Genossenschaftsbewegung. 1921 heiratete er Olga Gurjewitsch, mit der er zwei Söhne hatte. Sein Denken war schon früh von Alexander Herzen und von der sozialrevolutionären Bewegung der „Volksfreunde“ („Narodniki“) geprägt. Als Ideal wurde ein quasi-anarchistischer Sozialismus propagiert, der sich „von unten“ organisieren sollte und sich an die bäuerliche Klasse Russlands richtete.

Das Festhalten an diesen Ideen führte dazu, dass Tschajanow den orthodoxen Vertretern des Realkommunismus schnell ein Dorn im Auge wurde. Als Stalin 1927 an die Macht kam, war Tschajanow vogelfrei. Da er sich öffentlich gegen die gewaltsame Kollektivierung der Bauern aussprach, wurde er als Professor entlassen und 1930 verhaftet. In einem Schauprozess wurde er zu Haft und Verbannung, später zum Tode verurteilt – und zur Vergessenheit.

Das weitere Schicksal der russischen Bauernschaft ist bekannt: Die zu „Kulaken“ erklärten selbstständigen Landwirte wurden deportiert oder gleich erschossen, alle anderen Bauern wurden zu rechtlosen Landarbeitern degradiert und in Kolchosen gezwungen. In der darauf folgenden Hungersnot starben mehrere Millionen Menschen. Die Vernichtung des Bauernstands in Russland war ein „Erfolgsmodell“, das – wenn auch mit weit weniger Opfern – später in die DDR exportiert wurde.

Die bäuerliche Familienwirtschaft

Wie die meisten Linken vor und nach ihm konnte Karl Marx mit den Bauern nicht viel anfangen. Im besten Fall waren sie für den Begründer des „wissenschaftlichen Sozialismus“ unterentwickelte Habenichtse, im schlimmsten Fall Teil einer reaktionären Klasse von Grundbesitzern, die dem kollektiven Fortschritt im Wege standen. Ganz anders Tschajanow, der zu den Vertretern jenes „anderen Sozialismus“ zu zählen ist, an den heute auch keiner mehr so recht zu glauben scheint. Vor allem Landwirte werden darunter nichts weiter als eine (vielleicht höflichere) Form von Enteignungspolitik vermuten. Das ist allerdings ein Irrtum. Wie kaum ein anderer Agrarwissenschaftler hat der Russe den von konservativen Parteien so gerne beschworenen bäuerlichen Familienbetrieb ins Zentrum seiner Überlegungen gestellt.

Dazu sagte der linke Agrarwissenschaftler Onno Poppinga dem Raben Ralf: „Mit seinem Buch ‚Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft‘ (1923, Nachdruck 1987) hat Tschajanow eine Schrift vorgelegt, die als wohl erste die charakteristischen Merkmale einer von Bauernfamilien getragenen Landwirtschaft herausgearbeitet hat. Streng empirisch vorgehend hat er verständlich machen können, warum eine familienbäuerliche Landwirtschaft im Vergleich zu kapitalistischen Agrarunternehmen so anders und so eigenständig funktioniert. Im Gegensatz zur Auffassung von Marx kann er zeigen, dass eine familienbäuerliche Landwirtschaft eben nicht der Rest einer überlebten Wirtschaftsform ist, sondern dass sie veränderte Techniken und Marktverhältnisse in hervorragender Weise aufnehmen und nutzen kann. Kurzum: Familienbäuerliche Landwirtschaft kann sehr produktiv sein.“

Da die meisten heutigen Agrarwissenschaftler im Bauern nichts weiter als einen nach Gewinn strebenden Unternehmer sehen wollten, so Poppinga weiter, sei für sie „jedes eigenständige Handeln von Bauern und Bäuerinnen nur ein störendes Moment, ein ‚Hemmfaktor‘“. Weil sich die meisten Bauern aber auch noch am langfristigen Überleben ihrer Familie und ihres Betriebes und nicht nur am Gewinn orientierten, „bleiben bestimmte Reaktionen der Bauern für heutige Agrarökonomen gänzlich unverständlich“. Tschajanow gehört somit zu den wenigen Ökonomen, denen es wirklich gelungen ist, die bäuerliche Art des Wirtschaftens zu verstehen. Deshalb ist er, wie Poppinga betont, „eben ein ganz Großer“.

Im Land der bäuerlichen Utopie

Wer nun wissen will, wie Tschajanow sich eine bessere Zukunft für die Landwirtschaft vorgestellt hat, ist auf sein fiktionales Werk angewiesen. Denn er war nicht nur ein exakt arbeitender Wissenschaftler, sondern auch ein Kunstsammler und feinsinniger Schriftsteller.

1920 erschien sein Kurzroman „Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie“. Hier führt uns der Autor eine alternative Zukunft Russlands im Jahr 1984 vor. Im Roman hat es tatsächlich eine Bauernpartei gegeben, die das Schicksal der Russischen Revolution für sich entschieden hat. Obwohl nun eine Art dezentraler Sozialismus vorherrscht, wurden die Familienbetriebe nicht enteignet, sondern zu den tragenden Säulen der Ernährungsproduktion gemacht. Die Gegensätze zwischen Stadt und Land sind aufgehoben und die Industrie hat sich an die Lebensweise der Menschen angepasst – und nicht umgekehrt. Der Roman, in dem Elemente von Science Fiction und politischem Kommentar verbunden und mit einer kräftigen Portion Humor gewürzt werden, lässt offen, ob nicht alles doch irgendwie satirisch zu verstehen ist. Die Grundgedanken sind aber sicherlich ernst gemeint, und ein Lesevergnügen ist der Text allemal. Henri Mendras, ein französischer Agrarsoziologe, der in den 1970er Jahren mit seiner These über das „Ende der Bauern“ für Aufsehen sorgte, wurde durch Tschajanows Buch zu einer eigenen Erzählung angeregt. Sie trägt den Titel „Eine Reise ins Reich der ländlichen Utopie“ (1980) und ist eine Aktualisierung Tschajanows aus einer 68er-Perspektive.

Tschajanow lesen

Wer sich heute mit den Schriften Tschajanows beschäftigen will, ist vor allem auf Bibliotheken und Antiquariate angewiesen. Während man die „Reise meines Bruders“ (Syndikat, 1987) noch günstig gebraucht erstehen kann, kostet die Neuauflage der „Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft“ sagenhafte 220 Euro. Der von Eberhard Schulze 2001 herausgegebene Band „Alexander Wasiljewitsch Tschajanow: die Tragödie eines großen Agrarökonomen“ kann kostenfrei als PDF-Datei beim Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO) in Halle bezogen werden. Der Band ist vor allem deshalb lesenswert, weil er eine gute Einführung und zahlreiche Übersetzungen der Verhörprotokolle enthält.

Johann Thun 

Weitere Informationen:
nemesis.marxists.org (Tschajanow, Reise meines Bruders Alexej)
www.iamo.de (Publikationen – Studies; Bezug per E-Mail)

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